Zuschauer sind Unbeteiligte. Die Täter und ihre Opfer, das sind die Anderen, die Beteiligten. Von den Bösen grenzen wir uns moralisch scharf ab, den armen Opfern gegenüber haben wir vage Schuldgefühle – aber weder mit den einen noch mit den anderen identifizieren wir uns. Die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin geht davon aus, dass diese Empathielosigkeit auf Abwehrmechanismen beruht. Einerseits wollen wir uns nicht mit den Tätern identifizieren, weil wir sie dann als Menschen wie uns anerkennen müssten – und uns als Menschen wie sie. Die moralische Abwehr des Monströsen verdrängt unsere eigenen monströsen Anteile. Täter sind die Anderen, wir schauen nur zu.
Andererseits wollen wir uns nicht mit den Opfern identifizieren, gerade weil sie Opfer sind: Wir wollen keine Opfer sein und verdrängen daher, dass wir es jederzeit werden könnten oder vielleicht sogar schon sind. Das Leid der Opfer wirklich anzuerkennen, hieße, sie als Menschen wie uns wahrzunehmen – und uns als Menschen wie sie.
"Die Einstellung des nur auf das eigene Überleben bedachten Zuschauers bestätigt auf problematische Weise, was jene glauben, die Hass auf den Anderen zum Ausdruck bringen: Dass es nur die Wahl gibt, in Sicherheit zu sein, das heißt in der Position des Beobachters, der sich vom Anderen distanziert – oder aber selbst der gefährdete Andere zu sein. Nur einer kann leben."
Zwischen Hilflosigkeit und Rachsucht
Genau diese Annahme ist nach Benjamin falsch. Alle können leben, wenn alle sich gegenseitig leben lassen. Die Zuschauer müssen sich dann jedoch beteiligen: als Zeugen. Zeuge statt Zuschauer zu sein, bedeutet, menschliches Leid zu bemerken, zu achten und zur Geltung zu bringen. Verweigerte Zeugenschaft ist für Opfer entsetzlich. Ohne Anerkennung schwanken sie zwischen Hilflosigkeit und Rachsucht.
Unrecht nicht zu bezeugen, ist aber nicht nur für die Opfer und die möglichen Opfer der Opfer schlecht, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes, weil die Gültigkeit der übertretenen Normen dadurch nicht anerkannt wird. Zeugenschaft als Anerkennung von Leid und Beglaubigung von begangenem Unrecht kann die Moralität einer Gesellschaft reparieren. Als Zeuge überwinde ich die Zweiteilung in Zuschauer und Beteiligte, ich stelle mich auf eine dritte Position. Es ist diese dritte Position, die die Überwindung der falschen Dichotomien grundsätzlich ermöglicht:
"Die psychische Position des Dritten erlaubt uns, all die fundamentalen Gegensätze wie "die Anderen und wir", "Tatsubjekt – Tatobjekt" […], "gut – böse", "schwarz – weiß" zu transzendieren, indem wir anerkennen, dass jeder von uns, und sei es nur unbewusst, beide Seiten in sich trägt. Indem wir dies akzeptieren, erschließt sich uns ein psychisch-geistiger Raum, in dem wir über Schuldzuweisung und Polarisierung hinausgelangen."
Über den Hass gegen Flüchtlinge
In der Position des Dritten geben wir den Gedanken auf, dass wir entweder ganz dies oder ganz jenes sind; wir erlauben uns das Eingeständnis, dass wir nicht rein sind: Wir haben gute wie böse Anteile, wir leiden und wir lassen leiden, wir sind stark und schwach. Wir geben zu, dass wir zwischen Selbstschutz und der Anerkennung des Anderen schwanken. Wenn wir unsere eigene Schwäche und Ambiguität dagegen nicht anerkennen, werden die schlechten, schwachen Selbst-Anteile ausgeschieden und projiziert.
Die Idee der Reinheit ist gerade deshalb so gefährlich. Leid und Schwäche gehören dann zum Ausgeschiedenen, zum Anderen, nicht zu uns. Solange Leid und Hilflosigkeit aber derart abgespalten werden, können wir weder eigenes noch fremdes Leid anerkennen. Das wiederum erzeugt Neid und Schuldgefühle, wenn wir (anderen) Opfern gegenüberstehen.
"Offenbar leiten sich der Hass auf Flüchtlinge und Immigranten, den wir derzeit erleben, und die Leugnung von Verantwortung für diejenigen, deren Lage "wir", historisch gesehen, mit herbeigeführt haben (etwa durch die Invasion im Irak, ganz zu schweigen von früheren neokolonialen Interventionen), aus genau dem Empfinden ab, dass uns selbst kaum mehr Wertschätzung, Schutz und soziale Sicherheit gewährt wird als denen, von denen "wir" uns bedroht sehen."
Lesenswert und lesbar zugleich
In der Position des Dritten wird demgegenüber sichtbar, dass Würde wächst, wenn wir Anderen Anerkennung zollen. Das Dritte setzt daher dem Motto "Wir oder die!" ein anderes, ein besseres Prinzip entgegen, nämlich dieses: wir alle sind Menschen. Natürlich bleiben die Opfer dennoch verletzt und die Täter schuldig; aber sobald die Täter nicht mehr nur als Täter, die Opfer nicht mehr nur als Opfer gesehen werden, kann Heilung stattfinden. Erkennen die Täter das Leid ihrer Opfer und damit ihre eigene Monstrosität an, können sie Reue zulassen. Erkennen die Opfer die Menschlichkeit der Täter an, können sie diesen vielleicht vergeben und deren Reue bestätigen.
Jessica Benjamin betreibt mit ihrer Kritik an falschen Dichotomien geradezu Logik im psychoanalytischen Register. Sie geht dabei essayistisch vor; Themen werden vorgestellt und dann nach und nach entwickelt. Theoretische und erzählende Passagen wechseln sich ab Die erzählenden Abschnitte beruhen auf eigener wie fremder Erfahrung. Der Essay ist dadurch nicht nur äußerst lesenswert, sondern auch sehr lesbar. Dieses kleine Buch ist eine Empfehlung – zuletzt auch aufgrund der hier abgedruckten Laudatio, in der trefflich begründet wird, weshalb Jessica Benjamin den Hand-Kilian-Preis völlig zurecht erhalten hat.
Jessica Benjamin: "Anerkennung, Zeugenschaft und Moral. Soziale Traumata in psychoanalytischer Perspektive".
aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk und Elisabeth Vorspohl
Psychosozial-Verlag, Gießen. 82 Seiten, 16,90 Euro.
aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk und Elisabeth Vorspohl
Psychosozial-Verlag, Gießen. 82 Seiten, 16,90 Euro.