Im Rentenalter mit einem Wohnwagen von der East- zur Westcoast quer durch die Staaten cruisen – das klingt wie ein Traum von Freiheit und Abenteuer, den sich Menschen nach Jahrzehnten harter Arbeit an ihrem verdienten Lebensabend erfüllen. Für eine stetig wachsende Bevölkerungsschicht in den USA ist es jedoch die letzte Möglichkeit, nicht obdachlos auf der Straße zu landen. Als "Nomaden der Arbeit" bezeichnet die US-amerikanische Journalistin Jessica Bruder ihre betagten Landsleute, die dazu gezwungen sind, ihr letztes Erspartes in ein Campingmobil zu stecken, mit dem sie oft hunderte von Meilen von einem befristeten Billigjob zum nächsten fahren. "Das letzte Stückchen Freiheit" im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei für diese Menschen "ein Parkplatz", schreibt Bruder in ihrem Buch über die so genannten "Workamper".
"Workamper sind Plug-and-Play-Arbeitskräfte, jederzeit und überall einsetzbar, der Inbegriff der Zweckdienlichkeit für Arbeitgeber, die Saisonpersonal benötigen. Sie erscheinen, wo und wann sie gebraucht werden. Sie bringen ihr Eigenheim mit und machen aus Trailer Parks vorübergehende Firmenstädte, die sich wieder leeren, sobald die Arbeit getan ist. Sie sind nicht lange genug dabei, um sich gewerkschaftlich zu organisieren. Sind die Jobs körperlich anspruchsvoll, verzichten viele vor Müdigkeit sogar darauf, nach Schichtende überhaupt noch Umgang mit Kollegen zu pflegen. Was Vergünstigungen und Schutzmaßnahmen betrifft, sind sie bescheiden."
Mit anderen Worten: Workamper sind extrem flexibel und maximal rechtlos. Sie stellen kaum Ansprüche, murren selten, haben viel Erfahrung und gehen trotz sittenwidrig schlechter Bezahlung oft an die Grenzen ihrer Kräfte - manchmal auch darüber hinaus, wie die Journalistin schildert.
Hunderte Arbeitgeber führen Schattenwirtschaft
Workampern im Rentenalter wird für eine 40-Stunden-Woche manchmal nicht mehr als ein Stellplatz für ihren Wohnwagen angeboten. Mittlerweile, schreibt Jessica Bruder, habe sich eine regelrechte Schattenwirtschaft entwickelt, an der hunderte von Arbeitgebern beteiligt seien, die auf Websites mit Namen wie "Workers on Wheels" und "Workamper News" ihre Zeitarbeitsangebote inserieren.
"Entsprechend der Jahreszeit werden Nomaden gesucht, um in Vermont Himbeeren zu pflücken, Äpfel in Washington und Blaubeeren in Kentucky. Sie führen Besucher durch Fischbrutbetriebe, reißen bei NASCAR-Rennen die Eintrittskarten ab und bewachen Tore an Ölfeldern in Texas [...] Sie sind gefragt als Betreiber von Imbiss- und Getränkeständen bei Rodeos und beim Superbowl. [...] Sie betreiben Hunderte Campingplätze und Trailer Parks vom Grand Canyon bis zu den Niagara-Fällen [...] Sie stellen das Personal in den führenden Touristenfallen des Landes."
Mit mehr als fünfzig Wanderarbeitern hat die Journalistin während ihrer Reportage gesprochen und sie bei ihrer "never ending tour" mit ihren Vans, die sie liebevoll Queen Maria Esmeralda oder Ellie taufen, durch Amerikas Billiglohnhöllen begleitet. In ihren früheren Leben waren die neuen Nomaden oft Manager, Programmierer, Lehrer, Angestellte - ganz normale Menschen aus der Mittelschicht. Viele haben beim Börsencrash 2008 ihre Rücklagen für den Ruhestand verloren, bekommen nun keine Rente, sondern Sozialhilfe, die nicht ausreicht, um das Nötigste zu finanzieren.
Lieber unterwegs als den Kindern auf der Tasche liegen
Eine von ihnen ist Linda May, eine grauhaarige Großmutter in den Sechzigern, die zwei Kinder größtenteils alleine großgezogen und verschiedenste Berufe ausgeübt hat – von der Cocktailkellnerin über die Bauinspektorin bis zur Inhaberin eines Geschäfts für Bodenbeläge. Nun zieht sie ein Leben auf vier Rädern einer Existenz auf Kosten ihrer Kinder vor. Und sie hat einen Traum: Irgendwann will sie ein Stück Land kaufen und darauf ein "Earthship" errichten - ein aus Recyclingmaterialien bestehendes Gebäude, das eine autarke Lebensweise in der Wüste ermöglicht. Am Beispiel von Linda May zeigt Bruder, wie würdevoll, pragmatisch und trotz allem optimistisch manche Workamper mit ihrem Schicksal als "Houseless People" umgehen. Selbst die stumpfsinnige und gesundheitsschädigende Arbeit in den endlosen Lagerhallen von Amazon während des Weihnachtsgeschäfts übersteht Linda erhobenen Hauptes.
"Unter der Erschöpfung entwickelte sich ganz allmählich auch ein Gefühl von Stolz. Linda hatte ein Ziel erreicht, hatte das erste halbe Jahr als Workamperin überstanden, zwei Saisonjobs abgeschlossen [...] und sich währenddessen an ein genügsames und nomadenhaftes Leben in ihrem Wohnmobil gewöhnt. Sie fühlte sich autark und frei. Doch das war erst der Anfang. Der nächste Schritt bestand darin, eine Sippe zu finden, eine Gemeinschaft, eine Art provisorische Familie."
In ihrer großen Reportage über die Arbeitsnomaden des 21. Jahrhunderts zeigt Jessica Bruder, wie Menschen durch neoliberale Weichenstellungen und soziale Verwerfungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Neben Altersarmut und Ausbeutung finden sie dort jedoch auch Solidarität und die Lagerfeuerwärme einer Schicksalsgemeinschaft. Der amerikanische Traum von Freiheit und Unabhängigkeit begleitet diese Menschen selbst auf den Highways, die sie zum nächsten unterbezahlten Job in der Ödnis eines Gewerbegebietes führen. Workamper sind keine rebellischen Outsider, sondern um ihre Lebensleistung betrogene Rentner, die ihre müden Knochen bis zum bitteren Ende zu Markte tragen müssen.
Angesichts ihrer wachsenden Zahl sollten auch hierzulande die Alarmglocken läuten, wenn Politiker bereits laut über eine Lockerung des sozialen Netzes und eine Ruhestandssicherung per Aktienanlage nachdenken. Jessica Bruders erschütternder Bericht aus der Lebensrealität moderner Nomaden zeigt die verheerenden Folgen.
Jessica Bruder: "Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert",
Blessing Verlag, 384 Seiten, 22 Euro.
Blessing Verlag, 384 Seiten, 22 Euro.