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"Jetzt geht es um einen möglichst guten Präsidenten"

Joachim Gauck sei wegen seiner Biografie prädestiniert für das Amt des Bundespräsidenten, sagt Wolfgang Thierse - und bedauert, dass Kanzlerin Merkel ihren Kandidaten Wulff zur Stabilisierung der Koalition durchgesetzt hat.

    O-Ton Horst Köhler: Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten mit sofortiger Wirkung.

    Dirk-Oliver Heckmann: Bundespräsident a.D. Horst Köhler am Tag seines völlig überraschenden Rücktritts, der das politische Berlin allerdings nur kurz in eine Art Schockstarre versetzte. Schon am gleichen Tag setzte die Nachfolgediskussion ein mit dem bekannten Ergebnis. Christian Wulff gegen Joachim Gauck, so lautet nun die Ausgangslage. Betrachtet man die nackten Zahlen, dürfte der niedersächsische Ministerpräsident ins Schloss Bellevue einziehen, denn Union und FDP verfügen über 21 Stimmen mehr, als für die absolute Mehrheit erforderlich ist. Würde ein dritter Wahlgang nötig, verfügt Schwarz-Gelb ebenso über eine komfortable Mehrheit. – Telefonisch verbunden bin ich nun mit Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagsvizepräsident. Guten Morgen, Herr Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Herr Thierse, ich schlage mal vor, wir hören uns einmal an, was SPD-Chef Sigmar Gabriel über Joachim Gauck und über den Kandidaten der Koalition, Christian Wulff, gesagt hat.

    O-Ton Sigmar Gabriel: Joachim Gauck bringt ein Leben mit in seine Kandidatur und in sein Amt, und der Kandidat der Koalition bringt eine politische Laufbahn mit.

    Heckmann: So weit SPD-Chef Sigmar Gabriel. – Herr Thierse, wie glücklich waren Sie über diese Formulierung?

    Thierse: Sie bezeichnet in sicher verschärfter Form einen Unterschied. Es geht um eine klare personelle Alternative zwischen Herrn Wulff und Herrn Gauck.

    Heckmann: Aber ist es nicht ungerecht, Herrn Wulff auf seine politische Laufbahn zu reduzieren, quasi gar nicht als Mensch darzustellen?

    Thierse: Das ist damit nicht getan, aber dass Herr Wulff, seit er 17, 18 ist, in der Politik ist, ist doch etwas, was man benennen kann und was zugleich ja keine Schande ist. Das ist doch damit nicht gesagt.

    Heckmann: Das war auch bisher nie ein Nachteil bei der Auswahl der Bundespräsidentschaftskandidaten, auch bei der Auswahl durch die SPD.

    Thierse: Es soll auch gewiss kein Nachteil sein, dass einer ein Leben geführt hat in zwei Diktaturen, ein Leben der Unterdrückung, der Ängste und dann am Schluss der Selbstbefreiung. Das sollte doch wohl auch kein Nachteil sein. Man kann das doch wohl als etwas Positives erwähnen, dass da einer durch eine Biografie, die sehr deutsch ist, die dieses 20. Jahrhundert charakterisiert, durchaus prädestiniert ist, Präsident dieser Republik zu werden.

    Heckmann: Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, der hat gestern gesagt, die Chancen für Herrn Gauck seien überschaubar, angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung. Das heißt, Sie schicken Herrn Gauck in eine unmögliche Mission, nur um der Kanzlerin zu schaden?

    Thierse: Darum geht es nicht. Wenn man mal den Ablauf der Dinge betrachtet, dann hat es die Chance gegeben, einen gemeinsamen Kandidaten zu nominieren. SPD und Grüne haben Frau Merkel signalisiert, wir sind dazu bereit. Wir haben dabei auch, aber nicht zwingend den Namen Gauck ins Gespräch gebracht. Aber Frau Merkel hat darauf überhaupt nicht reagiert, sie war vollauf damit beschäftigt, einen Kandidaten zu finden, der ihre Partei und ihre Koalition stabilisiert. Wer instrumentalisiert da welche Person und die Wahl des Bundespräsidenten? Das ist doch eine ernsthafte Frage.

    Heckmann: Aber würden Sie denn bestreiten, dass Ihre Wahl, die Wahl von SPD und Grünen, auch auf Herrn Gauck gefallen ist, um die Koalition in Schwierigkeiten zu bringen?

    Thierse: Ich sage es noch einmal: Das Angebot war zunächst an Frau Merkel, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden. Es könnte Herr Gauck sein, es könnte Herr Töpfer sein. Aber Frau Merkel hat das weggewischt. Ganz schnell wollte sie einen Kandidaten haben, der die eigene Partei und die kriselnde schwarz-gelbe Koalition stabilisiert. Das war der Hergang der Dinge.

    Heckmann: Jetzt ist es auch so, dass es sich abzeichnet, dass auch Die Linke ihre Stimme Herrn Gauck nicht geben wird. Joachim Gauck hatte Die Linke als nicht regierungsfähig bezeichnet, Die Linke hatte daraufhin gesagt, dass auch im dritten Wahlgang wahrscheinlich keine Stimmen von den Linken für ihn zusammenkommen werden. Sind Sie eigentlich glücklich darüber gewesen, wie Joachim Gauck in den letzten Tagen mit der Linken umgesprungen ist?

    Thierse: Er ist dort gewesen, er hat sich dem Gespräch gestellt, was will man mehr. Die erste Reaktion der Linken war doch ganz anders. Wenn Sie sich daran erinnern, dass Frau Lötzsch, die Vorsitzende, Herrn Gauck einen Mann der Vergangenheit genannt hat und damit gezeigt hat, in welch riesigem Ausmaß diese Partei noch der DDR-Vergangenheit verhaftet ist.

    Heckmann: Bedeutet das möglicherweise auch das Aus, das mittelfristige Aus jedenfalls für eine Zusammenarbeit mit den Linken?

    Thierse: Das wird man sehen, denn die Entwicklung der Linken ist doch offen, wer sich da wirklich durchsetzt. Aber die Art und Weise, wie sie jetzt auf einen Mann wie Gauck eingehauen haben, er sei ein Brunnenvergifter, er sei ein Hexenjäger, und was alles da von der Linkspartei zu hören war, das kann ja nicht, ich denke, bei relativ normalen Menschen viel Sympathie wecken.

    Heckmann: Herr Thierse, das Lebensmotto von Joachim Gauck lautet Freiheit. Wie frei sind die Wahlmänner und Wahlfrauen der SPD bei ihrer Entscheidung heute?

    Thierse: Sie sind frei, denn es ist doch eine geheime Personalwahl.

    Heckmann: Das heißt, sie sind auch offiziell freigegeben worden von der SPD-Führung?

    Thierse: Ich weiß nicht, was diese Bemerkung soll. Es ist eine geheime Wahl und da kann jeder seinem Gewissen, seiner Überzeugung folgen. Dass eine Partei sich eine Meinung bildet, dass man einen eigenen Kandidaten aufstellt, dass für diesen Kandidaten geworben wird, das ist doch ein normaler demokratischer Vorgang. Das gilt übrigens für alle Parteien.

    Heckmann: Das heißt, jeder Wahlmann der SPD, jede Wahlfrau hätte das Recht, heute für Christian Wulff zu stimmen und sich dazu hinterher auch zu bekennen?

    Thierse: Das ist so.

    Heckmann: Und welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen?

    Thierse: Das weiß ich nicht, denn immer muss man - - Erstens ist eine Wahl geheim. Aber wenn man mitteilt, wen man gewählt hat, muss man auch dazu stehen und seine Wahlentscheidung begründen. Das ist, glaube ich, ganz unzweifelhaft.

    Heckmann: Gilt diese Freiheit aus Ihrer Sicht auch für die Wahlleute von Union und FDP, oder sind die Wahlleute von der anderen Seite praktisch unter Fraktionszwang gesetzt?

    Thierse: Es ist auch für sie eine geheime Wahl, aber ich habe die, glaube ich, ganz realistische Vermutung, dass dort auch eine angsterfüllte Disziplin herrscht, nämlich bei dieser Wahl spielt die Sorge eine Rolle, wie es mit der eigenen schwarz-gelben Koalition weitergeht. Aber man muss daran erinnern: Hier geht es nicht um eine Koalitionsfrage, nicht um die Zukunft der Regierung, sondern um einen möglichst guten Präsidenten. Frau Merkel ist auch durch ein schwieriges oder schlechtes Ergebnis nicht gefährdet. Sie wäre gefährdet, wenn sie eine Vertrauensfrage, die sie stellt, verlöre. Aber jetzt geht es nicht um die Koalition, sondern jetzt geht es um einen möglichst guten Präsidenten.

    Heckmann: Was würde denn eine Niederlage Wulffs für die Koalition und für Angela Merkel bedeuten?

    Thierse: Es wäre eine Erschütterung, aber wie gesagt: Es wäre keine Gefährdung der Regierung, denn Frau Merkel hat eine klare Mehrheit im Bundestag und sie kann sich dieser Mehrheit, wenn sie denn Zweifel daran hätte, durch eine Vertrauensfrage versichern.

    Heckmann: Sie glauben nicht, dass Angela Merkel in Turbulenzen geräte?

    Thierse: Ich sagte doch: Es war eine kritische Situation, die sie aber überwinden könnte durch die Vertrauensfrage und sie kann sie überwinden durch eine möglichst überzeugende Politik. Jetzt, ausweislich der Umfrage, sind ganz viele Bürger von Schwarz-Gelb enttäuscht. Das liegt aber doch nicht an den Präsidentenwahlen, sondern das liegt an der Politik dieser Koalition des letzten dreiviertel Jahres. Da ist die Enttäuschung entstanden.

    Heckmann: Herr Thierse, der "Spiegel" titelte in dieser Woche, "Die Wahl, die keine ist". Die Art und Weise, wie der Bundespräsident durch die Bundesversammlung bestimmt wird, beschädigt das aus Ihrer Sicht die Demokratie und das Amt des Bundespräsidenten?

    Thierse: Also es ist eine Wahl. Wir haben eine klare personelle Alternative. Deswegen halte ich von dem Gerede, dass es keine Wahl sei, nicht sonderlich viel.

    Heckmann: Und die Sympathiewelle für Gauck, möglicherweise aus Ihrer Sicht ein Zeichen für wachsende Parteienverdrossenheit?

    Thierse: Dass wir in einer kritischen Situation sind in unserer Demokratie, ausweislich der Meinungsumfragen und der geringer werdenden Wahlbeteiligung, dass es auch so etwas wie Parteienverdruss gibt, das zeigt sich auch noch mal in der Zustimmung zu einem Kandidaten, dem besondere Unabhängigkeit und besondere Glaubwürdigkeit bescheinigt wird.

    Heckmann: Könnte eine Direktwahl des Bundespräsidenten etwas an diesem Zustand ändern?

    Thierse: Man kann darüber diskutieren. Man muss aber wissen, welche Konsequenzen das hat. Das ist eine Änderung unseres politischen Systems, wenn wir den Bundespräsidenten direkt wählen, denn er wäre dann mit einer besonders starken Legitimation ausgestattet und er wäre automatisch das gleichrangige, gleich starke Gegenüber zum Parlament. Wir wären dann nicht mehr eine parlamentarische Demokratie, sondern wir würden auf dem Weg sein zu einer Präsidialdemokratie. Das muss gut bedacht sein, denn bei aller Kritik im Einzelnen, bei allen Schwierigkeiten, die Bundesrepublik Deutschland ist in diesen über 60 Jahren mit der parlamentarischen Demokratie, mit der starken Stellung des Bundestages ganz gut gewesen.

    Heckmann: Das heißt, das bisherige Verfahren hat sich aus Ihrer Sicht bewährt?

    Thierse: Ich glaube ja. Man muss jedenfalls bedenken, wenn man es anders macht, müsste man dem Bundespräsidenten deutlich mehr Kompetenzen geben - sonst wäre das ja eine Nullnummer -, und das würde sozusagen die Kräfteverhältnisse in der Demokratie verschieben. Wir hätten dann das Gegenüber Präsident, direkt gewählter Präsident und direkt gewähltes Parlament. Der Bundeskanzler, die Bundeskanzlerin, sind ja nicht direkt gewählt, sie werden vom direkt gewählten Parlament gewählt. Das wäre etwas anderes. Wir würden in Richtung auf französische oder amerikanische Systeme sein. Ich bin im Übrigen auch nicht sicher, ob Direktwahlen des Präsidenten zu höherer Wahlbeteiligung führen würden. Da wo das stattfindet, sind die Wahlbeteiligungen nicht höher – gucken Sie mal nach Österreich, oder gucken Sie nach den USA. Die Wahlbeteiligung, die Demokratiebegeisterung, das Engagement sind nicht größer.

    Heckmann: Die Bundesversammlung bestimmt heute einen neuen Bundespräsidenten. Darüber haben wir hier in den "Informationen am Morgen" mit Wolfgang Thierse gesprochen, Bundestagsvizepräsident von der SPD. Herr Thierse, danke Ihnen für das Gespräch und einen schönen Tag.

    Thierse: Auf Wiederhören!

    Die Wahl des neuen Bundespräsidenten -
    Ablauf und Hintergründe