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Jiddische Kultur
Wer Bücher rettet, rettet auch Menschen

Mendy Cahan aus Tel Aviv ist Sänger, Clown, Schmerzensmann. Er sammelt Bücher in jiddischer Sprache. In Israel sei diese Kultur gefährdet, sagt er, und will die Erinnerung an ihre Gebrochenheit und Geborgenheit bewahren. Nun tritt Cahan beim Yiddisch Summer in Weimar auf.

Von Henry Bernhard |
Mendy Cahan und seine Band
Mendy Cahan will das Jiddische am Leben erhalten (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Auf der Bühne des Yung Yidish Book Museum in Tel Aviv steht ein schmaler Mann mit fliegendem weißem Haar, in schwarzer Hose und weitem, weißen Hemd, das von einer noch weiteren, vollgepackten beigefarbenen Weste umweht wird. Hinter ihm stehen der Akkordeonist und der Geiger vor einer Wand aus gestapelten Büchern.
Mendy Cahan erzählt: "Er berichtet von den Dingen, die wichtig sind, ist sensibel, hat ein Ohr für die Leute, und die hören ihm zu. Er weiß genau, was die Herrschenden nicht hören wollen – und er sagt es. Er ist der Joker, die Stimme des kleinen Mannes."
Schwärzeste Witze auf eigene Rechnung
Wenn man Mendy Cahan so sieht auf der Bühne und ihm zuhört, könnte man meinen, er spricht von sich selbst. Ein Clown, ein Gaukler, ein sensibler Mann, einer, der den Mächtigen eins auswischen, aber niemals einen Schwächeren treffen will. Einer, der die schwärzesten Witze auf eigene Rechnung macht. Ein Mann, der einnehmend lächelt und dem der Schmerz und die Schwermut ins Gesicht, in den hageren Körper eingeschrieben sind.
Mendy Cahan singt:
"Ich heb die Flügel,
es ist mir schwer,
zu viele, viele Sachen,
hat die Mutter mir gegeben,
ihrem Vögelein
dem schwachen."
Er singt auf Jiddisch von dem Kind, das ein Vogel werden will, von der sorgenden Mutter aber mit Schuhen, Schal und Mütze bedacht wird, damit es nicht friere. So schwer aber kann der Vogel nicht abheben und bleibt ein Mensch.
Ein Bücherregal in Mendy Cahans Archiv
Zu Mendy Cahans Archiv gehören mehr als 65.000 Bücher (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Mendy und sein Publikum singen in seinem Archiv, seiner Bibliothek, seinem Museum, auf seiner Kleinkunstbühne im 5. Stock vom Busbahnhof in Tel Aviv, einem siebenstöckigen brutalistischen Monster. Nirgendwo in Tel Aviv gibt es so preiswert so viel Platz zu mieten. Die Busse rumpeln über der Zimmerdecke. Rings um die Zuhörer stehen wackelige Regale, liegen zerschlissene Teppiche, hängen Stromkabel offen herum. In einem Kinderplanschbecken schwimmen Goldfische. Aber das Wichtigste sind die Bücher. 65.000 sind es, schätzt er. Er rettet jedes Jahr Tausende Bücher davor, weggeworfen zu werden. Bücher, die in einer Sprache geschrieben sind, die zu verschwinden droht – in Jiddisch.
Der Vater schrie im Traum
Nein, er würde Jiddisch nicht retten, sagt er, das sei ja noch lebendig. Aber die Staatsgründung Israels, die Hinwendung zum Hebräischen, der Holocaust, die Assimilation, die Unterdrückung in der Sowjetunion hätten dem Jiddischen schwäre Schläge mitgegeben. Es sei eine gefährdete Sprache. Die Situation sei dramatisch, aber nicht verzweifelt.
Jiddisch ist Mendys Muttersprache. Er hat sie in Antwerpen gelernt. Dort strandeten seine Eltern nach den Lagern, dem Holocaust und nach 15 Jahren in der alten Heimat Rumänien. In Belgien ist er in einer sehr engen, aber behüteten orthodoxen Gemeinschaft aufgewachsen. Man kam aus den gleichen Schtetln in Osteuropa, man vertraute und half sich. Bekam Kinder. Doch die Erinnerungen an das Vergangene konnten die Eltern nicht einhegen. Keiner habe dieser Gebrochenheit entkommen können. Mendy erinnert sich, wie er einmal seinen Vater im Traum schreien hörte. Niemals habe er etwas Schlimmeres gehört. Das Herz, aber auch der Geist seien gebrochen. Auch noch in seiner Generation. Sie wüssten nicht einmal recht, wie stark sie gebrochen seien.
Mendy ist 1963 geboren. Der Aufbau von Israel, das Jiddische – das habe doch alles damit zu tun. 100, 150 Jahre könne es dauern, bis sich alles normalisiere– wenn überhaupt. Aber Hauptsache ist, dass sie am Leben seien.
Mendy Cahan singt:
"Ich hab gewollt … der Computer ist gefallen toid …"
Troubadour in Weimar
Weimar in Thüringen. Mendy Cahan improvisiert. Ein Sprechgesang über den Computer, der nicht so will, wie er soll. In Weimar findet seit 20 Jahren der Yiddish Summer statt, mittlerweile das größte Festival jiddischer Sprache, Musik und Kultur weltweit. Hier gibt Mendy seit Jahren Kurse über Badkhones. Der Badkhon ist eine Art Bänkelsänger, Zeremonienmeister, Alleinunterhalter auf Hochzeiten, auf Feiern; der Joker eben.
Mendy Cahan sagt, er sei ein Troubadour, ein Volkssänger, der die Stimmungen steuert. All das sei der Badkhon. Der von der Traurigkeit und Ernsthaftigkeit in den Moment der Eheschließung führt. Ein subversiver Stimmungsmacher, der all das sagt, was Establishment und Gesetz nicht hören wollen. Die Stimme des Volkes und des freien Geistes.
Mendy Cahan neben einem Planschbecken
Mendy Cahan bespielt die Grenzen von Tragik und Komik (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Ist das nicht auch ein Clown? Ist Mendy Cahan nicht auch ein Clown, so lustig und so schwermütig, wie er auftritt? Er zögert lange mit der Antwort.
Ein Clown? Vielleicht würde er manchmal seine gute Laune übertreiben, um die Gebrochenheit zu überspielen. Als Clown, der die Traurigkeit mit einem Lächeln vertreiben könne und nachdenklich sein, ohne zu philosophisch oder gar tragisch zu werden. Man habe halt nicht so viel Zeit, um beim Publikum anzukommen.
In der OMA in Weimar, in der Other Music Academy, einem alten Schulgebäude, dem Hauptquartier des Yiddish Summer Weimar, probt Mendy mit Musikern aus der ganzen Welt "Di Megile fun Vaymar", ein neues Singspiel von Alan Bern, dem Festivalchef, der auch am Klavier sitzt.
Alan Bern sagt: "Ich bewundere ihn als Person und auch seine Arbeit seit Jahrzehnten. Die Jiddisch-sprechende Welt hat viele extreme Individualisten und eigenartige Menschen mit sehr eigenartigem Charme und Fähigkeiten. Aber genau die Farbe und den Charme von Mendy hat nur er."
Graues Belgien, blaues Israel
Nach Israel ist Mendy Cahan mit 18 Jahren gegangen. Und nie wieder nach Belgien zurückgekehrt.
Er kam zum Studium nach Israel, erst den Talmud, dann Literatur und Philosophie. Schon als Kind war der blaue Himmel am Mittelmeer immer viel schöner als das Grau Belgiens. Und dann war da dieser uralte Traum seiner Eltern: Israel! Nicht nur er selbst wollte es, sondern auch seine Vorfahren hätten ihn nach Israel getrieben. Es war so viel jünger, energetischer, lustiger, dort zu leben und was aufzubauen.
Beim Yiddish Summer in Weimar singt Mendy, gibt Yiddish-Kurse für Fortgeschrittene und lehrt die Kunst des Badkhones. Eine Woche lang steht er im Late Night Cabaret auf der Bühne. Gefragt, was eigentlich sein Beruf sei, wie er sich vorstelle, wenn er in irgendein Büro komme, ringt er um eine Antwort.
Schließlich sagt er: "Schauen Sie, es hängt davon ab, in welches Büro ich komme. Manchmal sage ich, ich bin ein Kulturpolitiker. Ich bin ein Künstler, ich mache viele Dinge. Ich bin Direktor eines Kulturzentrums. Wenn mich Leute fragen, was ich mache, sage ich: Ich arbeite mit dem Jiddischen, in so vielen Formen wie möglich."