Die Schlüsselszene findet sich auf den Seiten 188 bis 194. Es ist September 1942, und Samuel Beckett und seine spätere Frau, die Pianistin Suzanne Déchevaux-Dumesnil, warten an einer Weide, die man ihnen als Treffpunkt bezeichnet hat, auf einen Kontaktmann, der sie mit ihrem Schleuser von der besetzten in die sogenannte freie Zone Frankreichs zusammenführen soll. Sie streiten darüber, ob dies wirklich die richtige Stelle ist. Beckett setzt sich auf den Boden und beginnt seine Schnürsenkel zu lösen, und Suzanne warnt ihn, er werde seine Schuhe nicht wieder anziehen können, wenn er sie einmal ausgezogen habe. Der Kontaktmann kommt an diesem Tag nicht, aber morgen, sagt Beckett, morgen wird er sicher kommen. Sie übernachten unter diesem Baum, und in der Frühe des nächsten Tages hören sie Schritte, ein Junge taucht aus der Morgendämmerung auf und sagt: "Kommt mit."
Hier haben wir auf sechs Seiten komprimiert – und mit einem anderen Ausgang – noch einmal eines der berühmtesten Theaterstücke des 20. Jahrhunderts, Warten auf Godot. Während dort der Junge den wartenden Wladimir und Estragon mitteilt, Godot komme heute nicht, bestimmt aber morgen, werden Beckett und Suzanne in der Folge über die Demarkationslinie geschleust, nachdem ihre Pariser Résistance-Aktivitäten durch den Verrat eines Priesters aufgeflogen sind. Schon 2002 hatte der französische Theaterhistoriker Valentin Temkine in einem Zeitschriftenessay das Stück aus der philosophisch-metaphysischen Ecke in die geschichtliche Wirklichkeit zurückgeholt und im Kern auf die Schleusergeschichte zurückgeführt, die Jo Baker nun auch in ihrem Roman erzählt. Der heißt im Original nämlich "A Country Road, A Tree", zu Deutsch "Landstraße. Ein Baum", und das ist bekanntlich die erste Bühnenbildanweisung von Warten auf Godot.
Biografische Faktentreue
Bakers Roman beginnt im September 1939 in Irland, als Samuel Beckett trotz des Kriegsausbruchs aus dem sicheren, aber auch erstickenden Schutz des mütterlichen Heims in Dublin nach Paris zurückkehrt, wo er schon zuvor einige Jahre zugebracht hat. Baker schildert die letzten Monate vor dem Einmarsch der Deutschen, die Pariser Künstlerszene mit den Kontakten unter anderem zu Marcel Duchamp, und natürlich die besondere Beziehung zwischen Beckett und James Joyce, der den Krieg nicht etwa aus politischen oder humanitären Gründen verflucht, sondern weil sein Roman "Finnegans Wake" durch die veränderte Weltlage völlig untergeht. Was sie im Einzelnen erzählt, orientiert sich eindeutig an den großen Beckett-Biografien von Deirdre Bair und von James Knowlson, die beide auch auf Deutsch vorliegen. Selbst die im ersten Moment erfunden wirkende und hinreißend erzählte Episode, in der Beckett und ein Gefährte aus der Résistance sich vor den sie jagenden Deutschen in Paris über Nacht in einem Park im Baum verstecken, findet sich in Bairs Biografie.
So weit, so gut. Bakers Roman wäre dann also ein gut recherchierter, äußerst spannender und sehr gut geschriebener historischer Künstlerroman, der ein atmosphärisch äußerst dichtes Bild des besetzten Frankreichs liefert. Übrigens auch ein hervorragend übersetzter Roman, der dem englischen Original Satz für Satz gerecht wird. An dieser Stelle muss der Knaus-Verlag unbedingt gescholten werden dafür, dass er auf der Umschlagklappe zwar die Autorin, nicht aber die Übersetzerin Sabine Schwenk vorstellt. Eine derartige Missachtung der entscheidenden Funktion, die das Übersetzen beim Transport eines literarischen Werks von einem Land in ein anderes hat, sollte doch bei uns langsam nicht mehr zulässig sein.
Eine unausgesprochene These
Bakers Buch ist aber mehr als dieser zeitgeschichtlich gut verankerte Künstlerroman. Unausgesprochen und unaufdringlich geht er von der These aus, dass die Erlebnisse der Kriegsjahre Becketts Schreiben nachdrücklich und nachhaltig verändert haben. Als der irische Autor nach Frankreich kommt, ist er der Verfasser einiger Gedichte, eines Erzählungsbandes, eines Essays über Proust und des sehr komischen Romans Murphy. Anklänge ans spätere Werk sind sowohl stilistisch wie thematisch in den Erzählungen und im Roman spürbar. Die Verdichtung aber, die Becketts späteres Werk auszeichnet, lässt sich erst in den Arbeiten der sehr produktiven Phase nach dem Krieg finden, verstärkt durch den Wechsel von der englischen zur französischen Sprache. Sie zielt, das wissen wir aus dem späteren Werk, immer aufs endgültige Verstummen, das jedoch nie erreicht wird. Im Roman wird das durch zwei sehr schöne Szenen demonstriert. Sam und Suzanne sind inzwischen im südfranzösischen Roussillon angekommen, wo er bei einem Weinbauern arbeiten und sie bald wieder Klavierunterricht geben wird, und machen sich nach und nach mit den Einheimischen bekannt.
"Suzanne macht ihre Sache gut, er schaut ihr dabei zu. Die Leute an den Nachbartischen stellen sich vor, und es gelingt ihr, herzliche Gespräche über nichts zu führen. Er bewundert das so, wie man einen fingerfertigen Kartentrick oder eine aus dem Ohr gezauberte Münze bewundert. Er sieht die Qualität und weiß, dass er diesen Trick niemals beherrschen wird."
Wenige Seiten danach wird das Kontrastprogramm entfaltet. Beckett sitzt an seinem provisorischen Schreibtisch.
"Nun starrt er auf die drei Wörter, die er geschrieben hat. Sie sind vollkommen lächerlich. Das ganze Schreiben ist lächerlich. Überhaupt auf so eine Idee zu kommen: Wörter nebeneinanderzustellen, Schulter an Schulter, Kopf an Kopf, und dann mit Satzzeichen so festzuzurren, dass sie sich keinen Millimeter mehr bewegen können. Und das alles dann auch noch einem anderen Menschen zu geben und zu hoffen, dass irgendwas ankommt ..."
Schreiben in Zeiten des Krieges
Nicht nur sinnlos, sondern auch ethisch fragwürdig sei das Schreiben, reflektiert er weiter, eine Überlegung, die natürlich auf die politische Lage bezogen ist. Es ist Oktober 1942, die sogenannte Freie Zone ist zur Südzone geworden und ebenfalls besetzt, und Beckett wird bald erneut im Widerstand arbeiten und kryptische Nachrichten von Radio London dechiffrieren, teilweise übrigens Sätze, die selbst der Literatur entnommen sind, etwa einem Gedicht Paul Verlaines. Angesichts dieser Lage also wird das Schreiben ethisch fragwürdig – und zugleich unverzichtbar.
Der Roman endet mit Becketts Arbeit fürs Rote Kreuz im normannischen Saint-Lô nach Kriegsende und seiner anschließenden Rückkehr nach Paris, wo er zu schreiben beginnt. Der Schluss des Romans ist zugleich ein Beginn und transportiert ein leichtes kunstreligiöses Pathos:
"Der Füller wandert übers Papier, Tinte färbt das Blatt blau. Worte nehmen Gestalt an. Das ist er: der Beginn."
Ansonsten hat Baker aber weder ein Heldenepos des Widerstands noch eine kunstreligiöse Hagiographie geschrieben. Ihr Roman zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei aller Treue zu den historischen Fakten ihren Erzählduktus nicht durch diese diktieren lässt, sondern diese Fakten erzählerisch souverän umsetzt. In einem kurzen Nachwort schreibt sie, sie habe Beckett zuerst an der Universität gelesen und sei sofort fasziniert gewesen, zugleich aber auch irritiert, bis ihr damaliger Tutor sie darauf hinwies, dass Beckett den Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich verbracht habe. Das habe ihren Blick für seine Werke geschärft. Aus diesem geschärften Blick ist ein sehr guter Roman entstanden, der in der angelsächsischen Literaturkritik zu Recht viel Lob erhalten hat. Dieses Lob darf an die erstklassige deutsche Version weitergegeben werden.
Jo Baker "Ein Ire in Paris"
Roman
aus dem Englischen von Sabine Schwenk
Knaus Verlag, München. 348 Seiten, 22 Euro.
Roman
aus dem Englischen von Sabine Schwenk
Knaus Verlag, München. 348 Seiten, 22 Euro.