Als Naturwissenschaftler ist der "FAZ"-Redakteur Joachim Müller-Jung begeistert von den Möglichkeiten der Stammzellenforschung. Mit Enthusiasmus und Akribie beschreibt er die Techniken, die Wissenschaftler in den letzten Jahren entwickelt haben. Sie haben gelernt, wie sie die Entwicklung von Zellen nach Wunsch dirigieren können. Sie verwandeln inzwischen Hautzellen in Nervenzellen oder Bindegewebszellen in Herzmuskelzellen. Für Joachim Müller-Jung fast so etwas wie ein Wunder und eine Verheißung für die Patienten.
"Ihr könnt immer wieder aufstehen. Ihr müsst nicht liegen bleiben. Ihr könnt Multi-Organschäden davontragen im Alter und degenerative Krankheiten A, B, C – und trotzdem können wir euch was anbieten. Ihr könnt wieder aufstehen."
Das "Zaubern mit Zellen" hat die Forschung revolutioniert. Und bald wird sich auch das Leben jedes Patienten und damit jedes Menschen verändern. Davon ist der Wissenschaftskenner Joachim Müller-Jung überzeugt. Er ordnet kritisch ein und skizziert eine Entwicklung, die uns alle betrifft – und das macht sein Buch lesenswert.
"Es wird auch in der Medizin einen noch viel stärkeren Hang geben zur Ingenieursmedizin. Man wird dieses Reparieren können, was in der modernen, naturwissenschaftlichen Medizin ja stark verankert ist, und das ein naturwissenschaftliches Weltbild zur Grundlage hat, das wird noch viel stärker in den Vordergrund rücken, und das humanistische Weltbild der Ärzte, das hippokratische Fundament des Berufsstandes, das Heilen auch als Kunst betrachtet und nicht nur als naturwissenschaftliches Ereignis, das wird immer stärker zurückgedrängt."
Der öffentlichkeitswirksame Streit um den Schutz der Embryonen war wichtig, aber für Müller-Jung war dies nur der erste Schritt einer gesellschaftlichen Debatte. Damals hieß es "Schutz der Embryonen gegen Ethik des Heilens." Dazu lässt sich heute nichts Neues sagen. Und so geht der Autor schnell über die verschiedenen Argumente hinweg. Ihn interessiert etwas anderes. Seiner Ansicht nach stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Medizin. Nicht die Bekämpfung von Krankheiten steht dabei im Mittelpunkt, sondern die Verjüngung mit Stammzellen. Die wandlungsfähigen Zellen aus dem Labor sind – so Müller-Jung - "ein Tropfen Unsterblichkeit". Schon im Vorwort macht er klar, worum es ihm geht: nicht um die Wissenschaft, es geht um den Menschen.
"Der Mensch selbst wird zum biotechnischen Großprojekt und versucht sich dadurch eines großen Teils seiner defizitären Natur zu entledigen. Es findet eine Industrialisierung der Körperkultur statt, die weit über Anti-Aging hinausgeht. Digitalisierung, Genomforschung und Nanotechnik treiben das Projekt voran. Alzheimer, Parkinson, Aids, Krebs – kein Leiden, das nicht zum Ziel dieser beispiellosen biomedizinischen Offensive wird."
Ablehnung der Anti-Aging-Welle und ihrer Ableger
Der Anti-Aging-Welle und ihren kuriosen Ablegern steht Joachim Müller-Jung skeptisch bis ablehnend gegenüber, aber auch die Flucht in eine idealisierte, sanfte Naturmedizin kommt für ihn nicht in Frage. Trotz aller Kritik will er wie die meisten Menschen nicht auf die Lebensverlängerung verzichten, wie sie die moderne Apparate- und Stammzellenmedizin verspricht.
"Ich würde durchaus, wenn ich die Möglichkeit hätte und ich wäre schwer krank, mir eine defekte Leber oder ein defektes Herz ersetzen lassen, wenn es wirklich ein Verfahren gibt, ein künstliches Herz oder auch eine Niere mit meiner eigenen genetischen Information und damit möglichst maximal verträglich zu verpflanzen, dann würde ich das in Anspruch nehmen."
Möglichkeiten und Grenzen der Stammzellenmedizin
Das Buch "Das Ende der Krankheit" liefert einen fundierten und vollständigen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der Stammzellenmedizin. Die vielen Einzelheiten mögen mache naturwissenschaftlich weniger interessierte Leser stören. Dennoch ist das Buch auch für sie interessant. Denn es ordnet die Durchbrüche der letzten Jahre ein in geschichtliche und philosophische Zusammenhänge. Und immer wieder liefert das Buch klare Zusammenfassungen und Analysen.
"Das generelle Motto lautet: Niemandem geht es so gut, dass es ihm nicht noch besser gehen könnte. Dahinter verbirgt sich der Wertewandel hin zum Individualismus, der völlig losgelöst vom Gesundheitsboom in Erscheinung tritt, aber die Nachfrage nach Hightech-Medizin maßgeblich mitbestimmt."
Vieles, was in den letzten Jahren durch die Medien huschte, wird hier hinterfragt und fundiert erklärt. Statt die Neuheiten nur zu bejubeln oder von vornherein als Teufelszeug abzulehnen, fragt Müller-Jung nach, was aus den Durchbrüchen geworden ist. Er setzt sich kritisch mit dem Konzept der regenerativen Medizin auseinander und beleuchtet Möglichkeiten und Gefahren gleichermaßen. So beschreibt er auch das Geschäft zwielichtiger Kliniken, die die Versprechungen der Wissenschaft aufnehmen, ohne sie wirklich umsetzen zu können. Sie profitieren von einer Hoffnung, ohne dass sie den versprochenen Jungbrunnen wirklich anbieten können.
"Die Überschrift über dem ganzen biomedizinischen Betrieb lautet ja: Wir wollen quasi Krankheiten abschaffen. Das wird man natürlich nie. Das ist natürlich völlig unrealistisch. Eine Menschheit ohne Krankheit wird es nicht geben. Aber, das ist schon ein Versprechen, das liegt in der Luft in dieser ganzen Forschungsszene."
Das Buch "Das Ende der Krankheit" schwankt – wie eigentlich jeder Patient, der freiwillig oder unfreiwillig in die Hände der neuen Medizin gerät - zwischen Begeisterung und Ablehnung. Es liefert keine einfache Orientierung. Aber es hilft mit zahlreichen Informationen, die Versprechungen seriöser und unseriöser Stammzellenmediziner besser einordnen zu können.
Joachim Müller-Jung: "Das Ende der Krankheit. Die neuen Versprechen der Medizin", Carl Hanser Verlag, 296 Seiten, Preis: 19,90 Euro, ISBN: 978-3-446-43682-4