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Joaquim Maria Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch"
Erzählungen über ewige Menschheitsfragen

Joaquim Maria Machado de Assis, ein brasilianischer Autor aus dem 19. Jahrhundert, entwirft in seinen modern wirkenden Erzählungen ein Tableau menschlicher Konfliktszenarien. Ortlos, zeitlos gültig scheinen sie über den konkreten Umständen zu schweben.

Von Brigitte Neumann |
    Buchcover: Joaquim Maria Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch" und eine Grafik der Stadt Babylon mit Turm, hängenden Gärten und Stadtmauer
    Machado de Assis' Erzählungen als ein Tableau menschlicher Konflikte (Buchcover: Manesse Verlag, Hintergrundbild: imago stock&people/CollectionxLeemage)
    Die meisten guten Bücher machen es einem nicht unbedingt leicht. Und dies hier ist eines davon: Joaquim Maria Machado de Assis' dreizehn Erzählungen unter dem Titel "Das babylonische Wörterbuch". Die von den Übersetzerinnen und dem Verlag getroffene Auswahl enthält Gleichnisse, Märchen, Mythen und Anekdoten, die der Autor zu kleinen Erzählungen ausgeweitet hat. Alles an sich keine schwierigen Formen. Aber der Autor hält sich meist nicht an die Regeln, die für Gleichnisse, Märchen, Mythen gelten. Nämlich: Sie sollen Botschaften enthalten, Lehrreiches, Antworten geben. Machado aber gibt keine Antworten. Beziehungsweise nur als Lohn für intensive Beschäftigung mit seinem Text. Ein Beispiel: Geht es in dem orientalischen Märchen "Die Akademien von Siam" einerseits um die Frage, wie männlich Frauen sein dürfen und wie weiblich Männer, so desavouiert der Autor andererseits seine potentiellen Antwortgeber, die vierzehn Gelehrten der Akademien von Siam, als haltlos ruhmsüchtige Figuren, die keinesfalls dazu taugen, diese ewige Menschheitsfrage zu behandeln.
    Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften und die Geschlechterfrage: Zwei große Themen mal eben auf ein paar Seiten angerissen und ... liegengelassen. Dabei hätte man gerne mehr gewusst. Es ist ja nicht so, dass sie sich bis heute erledigt hätten. Aber so ist es bei Machado. Er reißt Löcher auf, und zwar bis auf den Grund. Der Leser soll es dann richten. Dieser Leser müsste nun anfangen, über seine Haltung zu den Dingen noch einmal neu nachzudenken. Aber, und hier wartet die nächste Leerstelle, so ungestützt und offen denkt man zumal über die Geschlechterfrage nicht mehr nach. Man ist ja heute selbst einer der vierzehn Gelehrten, im Besitz der Wahrheit, der die jeweils anderen für Deppen hält. Aber diese Erkenntnis ist nicht schön. Das ist die nicht so einfach zu erringende Moral dieser Geschichte über die Frage nach den Geschlechterrollen. Und noch im letzten Satz der kleinen Erzählung macht Machado sich über uns lustig:
    "Falls der geneigte Leser jedoch eine Erklärung finden sollte, so erweise er bitte einer der anmutigsten Damen des Orients den Gefallen und lasse ihr diese in einem verschlossenen Briefumschlag zukommen."
    Machados Erzählkonzept: für den Leser Leerstellen lassen
    In der nächsten Geschichte "Der wahre Grund" geht es um einen zweifelhaften Arzt, der zuhause lebende Mäuse seziert und damit seine kränkliche junge Frau ängstigt. Garcia, ein Klinikkollege, der bei ihm privat verkehrt, beobachtet ihn dabei.
    "Aus ihm sprach weder Wut noch Hass, nur ein unendlicher Genuss, still und tief, wie ihn andere empfinden, wenn sie einer schönen Sonate lauschen oder den Anblick einer göttlichen Statue genießen, vergleichbar dem rein ästhetischen Empfinden. Garcia hatte den Eindruck, und er täuschte sich nicht, dass Fortunato ihn völlig vergessen hatte, weshalb er sich auch nicht verstellte und einfach er selbst war. (...) Er bestraft ohne Wut, dachte Garcia, aus dem Verlangen nach Lust, die allein fremder Schmerz ihm bereiten kann: Das also ist das Geheimnis des Mannes."
    Der Arzt Fortunato ist ein Sadist. Ein Sadist, der sich als Helfer ausgibt. Das ist "der wahre Grund" für seine Berufswahl, weiß Garcia. Aber weil der auktoriale Erzähler die Figur Garcias skeptisch betrachtet, bekommen wir bald auch Zweifel an dessen Integrität. Ist er wirklich so viel besser als der Sadist? Warum legt er ihm nicht das Handwerk, sondern wohnt der Folter der Maus bis zum bitteren Ende bei. Und wenn erst mal diese Fragen aufgetaucht sind, dann folgt die Ahnung, dass sich im professionellen Helfer mitunter wenig edle Motive verbergen. Die Berichte über hundertfache Patientenmorde durch Pfleger sind noch in Erinnerung. Wurde da nicht auch von einer Dunkelziffer gesprochen? "Der wahre Grund" ist eine Geschichte, die - wie alle Erzähltableaus von Machado de Assis - Keime streut und zu ganz aktuellen Fragen führt.
    Knappe Skizzen über die Rätselhaftigkeit des Menschen
    "Ich sage nicht, zu welcher Zeit das war, weil in dieser Erzählung alles geheimnisvoll und verknappt sein wird."
    Mit diesen Worten wendet sich der Erzähler in der Geschichte mit dem Titel "Evolution" direkt an die Leser. Aber wie diese über parasitäre Politiker ist keine von Machados Geschichten einer Zeit zuzuordnen. Sie schweben alle über den konkreten Umständen und skizzieren in knappster Form ein modern wirkendes menschliches Konfliktszenario. Zu diesem Eindruck trägt bei, dass der Autor nie autobiografisch schreibt. Wir wissen nur wenig über seine Lebensumstände als Abkömmling einer Familie freigelassener Sklaven, nichts über seine Kindheit in den Armenvierteln Rios, wenig über seinen Brotberuf im Staatsdienst oder seine Erfolge als Schriftsteller. Auch fließt in seine Werke kaum etwas über die Sklaverei in Brasilien ein, die erst 1888, zwanzig Jahre vor Machados Tod, abgeschafft wurde.
    Allerdings schreibt er über Despotie, und zwar eine sozialistisch anmutende, in der titelgebenden Geschichte "Das babylonische Wörterbuch". Das 1899 erschienene Märchen enthält Anspielungen auf die Pariser Kommune von 1871, die als erste proletarische Revolution gilt. Machado ist bei der Beschreibung des Despoten jedoch ein auf den ersten Blick eher entlegen wirkender Aspekt wichtig: dessen Unfähigkeit zur Poesie. Es war einmal, so beginnt auch dieses Märchen, ein Fassbauer und Demagoge,
    "... der die Ansicht vertrat, die Welt sei ein riesiges Fass Marmelade, und ... dass der Thron der Masse gebühre. Um sie dorthin zu bewegen, griff er nach einem Stock, stachelte die Gemüter auf und prügelte den König vom Thron. (...) "In mir", donnerte er, "seht ihr die gekrönte Masse! Ich bin ihr, ihr seid ich."
    Die Wahrheit der Fiktion
    Der neue Herrscher verordnet eine Einheitsfrisur, Einheitsschuhe und wählt die sternengleich schöne Estrelada zu seiner Frau. Die aber liebt einen Dichter. Der Mächtige glaubt, den auszustechen, sei eine Kleinigkeit. Er ruft einen Dichterwettbewerb aus. Wenn er siegt, so die Absprache mit der Schönen, darf er sie heiraten. Aber er verliert den ersten Durchgang, den zweiten. Vor dem dritten stellt er erschwerte Bedingungen: das Poem muss in der von seinen Ministern neu erfundenen babylonischen, also unverständlichen Sprache geschrieben sein. Als der Herrscher auch diesen Wettstreit verliert, zieht er sich in seine Bibliothek zurück, nimmt ein Buch zur Hand und findet darin den Satz eines portugiesischen Dichters, in dem es sinngemäß heißt, beim kunstvollen Worte setzen sei es wie beim Malen. Es komme nicht auf die Farben an, sondern auf die Feinheit der Mischung. Ein Satz, der - wenn er nicht Ende des vorletzten Jahrhunderts veröffentlicht worden wäre - durchaus auch auf die Stummel-Sprache des Netzzeitalters gemünzt sein könnte.
    Die vier bis fünf selbsternannten Könige der digitalen Sphäre werden mit ihren Angeboten nie die Gunst der Göttin der Poesie und Schönheit gewinnen. Aber vielleicht wollen sie das gar nicht. Und das führt zu der bangen Frage: Könnte es heute - wie schon häufiger in der Geschichte - geschehen, dass die Menschen blind werden für Poesie und Schönheit? Aber vergessen wir nicht, genau besehen, geht die Geschichte gut aus: Die Schöne wird ihren Poeten heiraten. Und, falls das ein Trost ist: Der Despot hat vielleicht die Macht, aber nicht die Liebe.
    Machados Werke, die heute zum Kanon der Weltliteratur zählen, sind nur vordergründig Erzählungen, eigentlich sind es Aufgaben, die nach Durchdringung verlangen. Erst wenn der Leser sich ihnen intensiv widmet, scheinen hinter der Handlung ganze Fluchten überraschend aktueller Fragen auf, die es zu bedenken lohnt. An diesen Punkt gelangt, kann die Beschäftigung mit den Erzählungen Machados, von denen dreizehn erstmals oder neu übersetzt unter dem Titel "Das babylonische Wörterbuch" vorliegen, produktiv werden und tatsächlich zu Erkenntnisgewinn führen.
    Joaquim Maria Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch"
    Erzählungen
    aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser
    mit einem Nachwort von Manfred Pfister
    Manesse Verlag, München. 250 Seiten, 20 Euro.