Durch die Baustellen-Zäune vor dem Immanuel Kant Park, der gerade verschönert wird, ist die Rundum-Glasfassade des Duisburger Lehmbruck-Museums von weitem zu sehen. Auf die Fenster sind über und über Texte in roter Schrift gedruckt. Das sieht gefällig und digital aus: "THE WALK", mit dem Zusatz: "keine Retrospektive".
Die Gesellschaft ist unterwegs
"Sag mal, eine Retrospektive in der Kunst ist ja: jetzt kommen die Kisten, jetzt kommen die Werke, von dieser Sammlung und von diesem Museum - und das wollte ich nicht. Ich finde Retrospektiven zu machen auch einen Teil von einer ziemlich gelangweilten Gesellschaft. Weil eine Gesellschaft, die unterwegs ist, on the Walk, die hat anderes zu tun."
Ein bisschen polemisch formuliert der 78-Jährige gerne und dass er vor über 50 Jahren den Lebensmittelpunkt nach Frankreich und neuerdings nach Irland verlegt hat, hört man auch. "THE WALK" begeht man, indem man Text lesend um das Museum herumläuft. Damit man auch den oberen Teil lesen kann, gibt es einen Steg, wie ihn Gerüstbauer nutzen.
Also, erst mal auf dem Steg, lesen, was dort geschrieben steht: "Er studiert jede Silbe der überfüllten Stadt, studiert sich selbst und lernt, allein zu sein. Wo immer er hingeht, ist er Treibholz. Deutschland ist keine gute Idee. Wissen Sie, die Autobahn finde ich eigentlich gut. Die Autobahn finde ich eigentlich gut: in Klammern. Bücher sind Freunde ..."
Und so weiter. Um den ganzen Text - netto und in einem Rutsch - zu lesen, braucht man eine gute halbe Stunde, wobei das Lesen fast schon eine sportliche Note bekommt: Wenn die Betonpfeiler der Architektur einige Verrenkungen nötig machen oder wenn sich die tiefstehende Herbstsonne im Panoramaglas spiegelt und Satzenden verschluckt.
Kunst ist kein Dienstleistungsunternehmen
Jochen Gerz: "Ich muss mich bewegen. Also du kannst nicht jetzt irgendwie sagen: Hier bin ich, das Buch ist auch da, und jetzt kann ich alles abgreifen. Die Kunst ist kein Dienstleistungsunternehmen, das deine Faulheit vergrößert."
Alles zusammen genommen schon eine Art von Retrospektive, in dem Sinn einer Rückschau von Jochen Gerz auf sein Leben seit 1940 und die Entwicklung von Kunst und Gesellschaft im Takt der Jahrzehnte: "Machen, tun. Also die Öffentlichkeit ist jetzt wirklich unglaublich gefordert in dieser Zeit."
Das Gefühl, neuerdings wieder um Demokratie kämpfen zu müssen, war ein klarer Antrieb für Jochen Gerz, nach 15 Jahren wieder eine Ausstellung in einem Museum zu machen. Am Ende des Texts steht eine Utopie. "Das neue Kunstwerk", ein demokratisches Kunstwerk, zu dem alle beitragen. Dazu würde man nicht einmal ein Museum brauchen, in das üblicherweise Bedeutendes einsortiert wird.
Von der kleinen und frühen Performance "Rufen bis zur Erschöpfung" bis zum großangelegten "Platz des Europäischen Versprechens" in Bochum, hat sich Jochen Gerz immer schon an der Idee abgearbeitet, möglichst alle einzubeziehen. Bei "THE WALK" versucht er das, indem die Fußnoten des Texts als Beilage der "Rheinischen Post" erscheinen werden, mit einer Auflage von 300.000.
Sind wir in Europa auf unseren Privilegien eingeschlafen?
"Es ist nur so, dass viele von diesen Arbeiten heute unmöglich sind, weil die öffentliche Hand so verängstigt ist. Wir sind Selbst-Zensierer. Das ist die größte Gefahr jetzt in der Republik, und auch in Europa, dass wir auf unseren Privilegien eingeschlafen sind", sagt Jochen Gerz.
Sonntags ins Museum, schöne Kunst gucken oder etwas über die Lebensleistung eines Künstlers, einer Künstlerin erfahren und geläutert nach Hause gehen: Mit dem inzwischen 78-Jährigen Jochen Gerz nicht zu machen. Eine seiner Bedingungen für das Zustandekommen von "THE WALK" war, dass auf Museums-typische Audioguides verzichtet wird.
"Ja, wir haben zwölf Immigranten dabei. Und ich habe gesagt, die sollen mal sehen, was wir Kunst nennen. Und die werden jetzt, während sieben Monaten, hier die Führer der deutschen Kunstliebhaber sein. Und ich habe gesagt: Macht den ersten Schritt, selbst wenn ihr nur drei Wörter kennt, auf die Deutschen zu. Es geht nicht darum, die Migranten zu integrieren, sondern es geht darum, die Deutschen zu integrieren."