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Jochen Schimmang: "Der Laborschläfer"
Schlaf der Vernunft

Gibt es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis? Jochen Schimmang geht in seinem neuen Roman „Der Laborschläfer“ dieser Frage nach. Aus den Träumen und Erinnerungsbruchstücken seines Helden, der an einem Projekt der Schlafforschung teilnimmt, rekonstruiert er bundesdeutsche Geschichte.

Von Jörg Magnau | 07.04.2022
Jochen Schimmang: "Laborschläfer"
Jochen Schimmang: "Laborschläfer" (Portraitfoto: Karin Eickenberg / Buchcover: Maja Bechert)
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die Radierung von Francisco de Goya zeigt einen schlafenden Mann, der von allerlei finsteren Traumgestalten, Eulen und Fledermäusen umflattert wird. Die aufklärerische Tradition deutet das Bild als Mahnung vor einem Zustand der Vernunftlosigkeit. Die surrealistische Deutung erkennt darin vielmehr die phantastische Produktivkraft des Unbewussten.
Beide Deutungsmöglichkeiten macht sich Jochen Schimmang in seinem Roman „Der Laborschläfer“ zunutze. Der Ich-Erzähler Rainer Roloff ist Proband eines Forschungsprojektes in einem Schlaflabor in Düsseldorf. Der Leiter der Studie, der junge und leicht verwirrte Dr. Meissner, möchte herausfinden, ob aus den individuellen Erinnerungen so etwas wie ein kollektives Gedächtnis entsteht. Roloff, ein Jahr älter als die Bundesrepublik und damit genauso alt wie der Autor Jochen Schimmang, unterhält zur Vergangenheit ein intensiveres Verhältnis als zur bundesdeutschen Gegenwart der Coronazeit, deren Maskierungen und Rituale er mit Befremden beobachtet.

"Nichtbiographiefähiger" Privatlehrer

Er, der mangels eines echten Berufs als „Privatgelehrter“ firmiert, hält sich für „nichtbiographiefähig“, weil er nichts als eine „gebrochene Erwerbsbiographie“ vorzuweisen habe. Symptomatisch sind seine Erinnerungen an die Nachkriegszeit, an eine Kindheit in den Trümmern der Stadt Köln.
„Trümmer-Erinnerungen ist ein vielschichtiger Begriff. Gemeint sind ganz konkret meine kindlichen Spiele zwischen den Trümmern rund um den Barbarossaplatz, die in meinen Aufwachprotokollen immer wieder auftauchen. Was Dr. Meissner aber ganz sicher auch meint, ist die Tatsache, dass meine Erinnerungen überwiegend den Charakter von Trümmern zeigen, dass sie selbst in der Gestalt von Bruchstücken auftreten, als hätte die Schutt- und Brockenkulisse meiner Kindheit mein Erinnern für immer geprägt.“

Der nette Onkel Hans

Aus solchen Splittern, Brocken, Trümmern baut Jochen Schimmang seinen Roman. Die Einzelheiten stehen nebeneinander, ohne dass sich etwas entwickeln könnte. Die individuellen Erinnerungen drehen sich meist um Reisen, nach Frankreich, nach Triest, nach Amsterdam, und um verschiedene Freundinnen, mit denen Roloff unterwegs war. Individuell ist auch die Erinnerung an den netten Onkel Hans, der eines Tages von den Briten verhaftet wurde, weil er, wie es dann hieß, im Krieg „schlimme Sachen“ gemacht habe. Die NS-Zeit nährt gewissermaßen die Ungeheuer, die im Schlaf-Traum der Vernunft lebendig werden. Daran schließen die Erinnerungen an den Terrorismus der RAF an und den Nachmittag, als eine Studentenrunde die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback bejubelte:
„Dass diese Szene so lange verschüttet war, dass die Erinnerung daran über vierzig Jahre lang zuverlässig abgeschnürt war, muss daran liegen, dass ich damals in den Jubel mit eingestimmt habe, wobei der opportunistische Anteil bei mir wohl höchstens zwanzig Prozent betragen hat.“

Linker Chronist der BRD

Schimmang ist in all seinen Romanen ein Chronist der bundesdeutschen Geschichte aus politisch linker und geographisch rheinländischer Perspektive. Der Osten des Landes ist für ihn bis heute ein unbekanntes Territorium geblieben. Schon an der fortgesetzten deutsch-deutschen Teilung muss Dr. Meissners Erforschung eines kollektiven Gedächtnisses scheitern, aber auch am Bruch zwischen den Generationen. Dem Arzt ist das von vorn herein klar. Damit scheitert aber auch Schimmangs Roman, der sich erst gar nicht die Mühe macht, Roloffs Erinnerungssplitter ins Kollektive hinein zu erweitern.

Stattdessen wird Roloff, wie bald auch Dr. Meissner, von seltsamen Abwesenheitszuständen heimgesucht. Roloffs Selbstvergessenheit geht so weit, dass ihn der Anruf seiner Schwester, die ihm vom Tod der hundertjährigen Mutter berichtet, völlig überrascht. Er hatte schlichtweg vergessen, dass die Mutter noch lebte.

GIb es noch ein überindividuelles Gedächtnis?

Erinnern und Vergessen, An- und Abwesenheit, gehen in diesem Roman eine seltsame Verbindung ein. Während Roloff anfangs noch glaubt, sein Gedächtnis wäre ein unzerstörbarer Bunker, klärt Dr. Meissner ihn auf:
„Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, was Sie alles vergessen haben. Sie wären nämlich schon lange tot, wenn Sie nie etwas vergessen würden. Kein Mensch hält das aus.“
Am ehesten entsteht ein überindividuelles Gedächtnis dort, wo Roloff auf prägende Leseerlebnisse zu sprechen kommt, die von Robert Walser über Arno Schmidt bis zu Wiglaf Droste reichen. Oder wenn er sich an musikalische Epiphanien erinnert, die Talking Heads vor allem. Doch gibt es heute überhaupt noch verbindliche Lese- und Hörerfahrungen? Und wie entsteht ein Ganzes aus punktuellen Erinnerungen? Schimmangs „Laborschläfer“ möchte bundesdeutsche Geschichte von heute aus entstehen lassen. Vielmehr aber ist dieses Buch selbst ein historisches Relikt, ein Dokument altlinker Denkweisen, eine Sammlung literarischer Trümmer aus einer versunkenen Welt.
Jochen Schimmang: "Der Laborschläfer"
Edition Nautilus, Hamburg. 328 Seiten, 24  Euro.