Zugegeben, Jochen Veits Debüt mutet auf den ersten Blick harmlos an. Der Titel, die Gestaltung des Umschlags, die Inhaltsangabe – als Leser meint man zu wissen, was einen in "Mein Bruder, mein Herz" erwartet: eine brüderliche Familiensaga mit Detektivelementen. Die Perfidie, mit der Veit diese Erwartungen dann an die Wand fährt, ist beachtlich. Richtig verstörend wird die Lektüre, wenn der Roman seinen realistischen Ballast allmählich abwirft und sich Seite für Seite jenen Abgründen nähert, die in der Schwarzwaldeinsamkeit lauern.
Solch ein Taumel gehört gründlich vorbereitet, und so geht der erzählten Romanhandlung ein Schockmoment voraus: Stephans Eltern verschwanden spurlos, eine Suche führte zu nichts außer Ratlosigkeit. Keine Abschiedsnotiz, keine Leichen, keine Hinweise. Traumatisiert verlässt der damals 28-jährige Stephan sein abgelegenes Dorf, um zu studieren. Seinen gerade mal 15-jährigen Bruder Benno lässt er unter der Aufsicht eines Familienfreundes namens Alfred zurück. Drei Jahre später erinnert er sich.
"Verschwinden, das war mir nicht fremd, eine Vorstellung, mit der ich, und wie ich dachte, jeder, bisweilen liebäugelte. Die Vorstellung einer sanften Bewegung, die zu einem Ende führt. Und es war immer eine tröstende Vorstellung für mich gewesen, dass unsere Eltern ein Teil dieser Bewegung gewesen waren, dass sie kein gewaltsames Ende gefunden hatten, dass sie nicht mit ansehen mussten, wie die Welt, die sie geliebt hatten, verrottete und wie ihre Söhne einander aus den Augen verloren, einander misstrauten, einander beneideten und einander vielleicht sogar hassten. Und so stellte ich mir vor, wie sie, an den Händen miteinander verwachsen, in die Wälder hineingingen."
In den Fängen des Bruders
Nach einem beunruhigenden Telefongespräch mit Alfred entschließt Stephan sich, per Zug in sein Heimatdorf und damit in seine Vergangenheit zu reisen. Die Erwartungen sind hoch: Das Treffen soll Wiedersehen, Versöhnung und detektivische Aufklärung sein. Hätte sich Stephan mehr um seinen so viel jüngeren Bruder kümmern müssen? Gibt es neue Spuren, die das Verschwinden der Eltern erklären?
"Mir war noch immer kalt und ich war müde, vielleicht, da ich nichts gegessen hatte, vielleicht wegen der Krankheit, vielleicht wegen des Orts."
Das Gefühl der Kälte und Versehrtheit wird Stephan so bald nicht verlassen. Benno ist zu einem manierierten Besserwisser und herrischen Kauz herangewachsen. Jede seine Äußerungen, ob spöttisch oder vermeintlich fürsorglich, wirkt strategisch, so, als würde er einen lang gehegten Plan in die Tat umsetzen. Im Schatten der monströsen Alpen kommt Stephan alles immer ungeheuerlicher vor, sein Bruder, die Natur ringsumher, das Rätsel um die Eltern:
"'Weißt du, Alfred, immer wieder habe ich den Verdacht, dass man sich hier eine Geschichte schreibt, die mit der Realität nichts zu tun hat. Das hier, diese heile Welt, die man im Griff hat, geht in Wahrheit zugrunde wie alles andere auch.'"
Schaurige Wesen am Waldrand
Die Landschaft ist bei Veit nichts für Baum-Umarmer und Moos-Kuschler, die zu viele Bücher von Peter Wohlleben gelesen haben. Vielmehr strahlt sie eine urtümliche, grausige Energie aus. Teils wirkt es, als hätte Veit die Berge des Wahnsinns, die H. P. Lovecraft 1931 in der gleichnamigen Erzählung kartographiert hat, in die Alpen verlegt. An Lovecraft, dem Zeremonienmeister der phantastischen Horrorliteratur, scheint sich der junge Autor in "Mein Bruder, mein Herz" allemal geschult zu haben:
"Die Bewegung war schnell, und doch würde ihr Eindruck bleiben. In meinen Augenwinkeln bewegte sich etwas am Waldrand (war der Waldrand Bewegung). Ich konnte nicht erkennen, was es war. Eine Figur, eine Struktur, ein Wesen mit dürren, unverhältnismäßig langen Beinen am Horizont, darüber ein massiger, schwerer Körper."
Nach und nach wird Stephans Wahrnehmung schlierig, sein kranker Körper krümmt sich immer stärker, gefangen unter der atmosphärischen Glocke, die sein gewaltlüsterner Bruder über das Haus und die familiäre Erinnerung gestülpt hat. Seine Freundin fragt ihn am Telefon fassungslos, ob er wisse, wie lange er sich nicht bei ihr gemeldet habe. Dabei sind doch augenscheinlich nur ein Tag und eine Nacht vergangen.
Sicherlich, das szenische und motivische Management dieser abgründigen Effekte ist nicht überall gleichermaßen subtil. Darüber, ob Bennos Hund wie ein dämonisches Tier aus südamerikanischen Legenden heißen muss, ließe sich streiten. Auch der Zaunpfahl-Hinweis, an einer Stelle Guillermo del Toros phantastisches Kriegsmärchen "Pans Labyrinth" im TV-Hintergrund laufen zu lassen, mag übers Ziel hinausschießen. Aber zum miesepetrigen Vorwurf einer Überorchestrierung gereichen diese und andere Momente kaum. Sie sind viel eher Ausdruck eines wagemutigen Eifers, die der debütierende Autor an den Tag legt.
Die Genres werden dekonstruiert
Nach nicht mal zweihundert Seiten hat der 1992 geborene Veit jedenfalls alles zerlegt, was ihm unter die schreibenden Hände kam: den Trug der alpinen Schwarzwald-Idylle ebenso wie die falsche Rührseligkeit des Bruderpaar-Melodrams.
"Nur die Gewalt ist wirklich, nur der Horror ist wirklich. Nur die Gewalt ist wirklich, nur der Horror ist wirklich."
Diesen Satz brabbelt Stephan an einer Stelle halluzinatorisch vor sich hin. Sein Autor hat ihn ebenfalls verinnerlicht: Auf brachiale Weise dekonstruiert "Mein Bruder, mein Herz" die oftmals so unsäglich abgegriffenen Genres des Heimat- und Familienromans, um aus ihren Trümmern ein düster verwinkeltes Textgebäude zu errichten. In ihm bewegen sich die verängstigten Menschen wie grobianische Maschinen. Mit Jochen Veits grundpessimistischem Menschenbild mag man nicht d’accord sein, und doch verliert man sich mit zunehmend schauriger Lust in dessen zappendusterer Schreckensarchitektur.
Jochen Veit: "Mein Bruder, mein Herz"
Arche Verlag, Zürich/Hamburg, 208 Seiten, 20 Euro
Arche Verlag, Zürich/Hamburg, 208 Seiten, 20 Euro