Jesse Rosenberg ist noch kein alter Mann, gerade einmal 45 Jahre alt. Und trotzdem hat er nach 23 Dienstjahren seinen Abschied von der Polizei eingereicht. Er hat noch ein anderes Projekt vor Augen, einen Herzenswunsch, wie er sagt. Rosenbergs Dienstort war die Kleinstadt Orphea, gelegen in den so genannten Hamptons im amerikanischen Bundesstaat New York. Hierher, in jene etwa 100 Meilen östlich von Manhattan gelegene Küstenregion, kommen die Reichen und Superreichen am Wochenende aus der Stadt, um in ihren Wochenendhäusern Erholung zu suchen. Die Immobilienpreise in den Hamptons gehören zu den höchsten weltweit. Eine neu-englische Idylle.
Und doch hat sich in Orphea exakt 20 Jahre vor jenem Tag, an dem Joël Dickers Roman einsetzt, ein grausames Verbrechen ereignet. An einem Sommerabend des Jahres 1994 wurden vier Menschen erschossen: Joseph Gordon, der Bürgermeister von Orphea, seine Frau und der zehnjährige Sohn wurden in ihrem Haus getötet; auf dem Gehweg davor lag Meghan Padalin, eine Joggerin, die zufällig Zeugin des Verbrechens wurde, wie die Polizei seinerzeit annahm.
Doch nur der Neunundneunzigprozentige?
Jesse Rosenberg und sein Partner Derek Scott haben den Fall gelöst. So wie Rosenberg jeden Fall seiner Karriere gelöst hat, weswegen die Kollegen ihm den durchaus nicht spöttisch gemeinten Spitznamen "der Hundertprozentige" gegeben haben. Und nun, ausgerechnet bei seiner Abschiedsfeier am 22. Juni 2014, droht das Bild des erfolgreichen Polizisten Kratzer zu bekommen:
Als ich einen Augenblick alleine dastand, wurde ich von einer sehr hübschen Frau um die dreißig angesprochen, die ich, soweit ich mich entsann, noch nie gesehen hatte.
"'Dann sind sie also der berühmte Hundertprozentige?', fragte sie in schmeichelndem Ton. 'Scheint so', antwortete ich lächelnd. 'Kennen wir uns?' 'Nein, ich heiße Stephanie Mailer. Ich bin Journalistin beim Orphea Chronicle. Stört es Sie, wenn ich Sie den Neunundneunzigprozentigen nenne?'
Eine junge Reporterin und ein verhängnisvoller Eröffnungsabend
Die junge Frau ist frisch eingestellte Reporterin bei der lokalen Tageszeitung. Sie teilt Rosenberg unverblümt mit, dass er seinerzeit den Falschen verhaftet habe, weil er offensichtlich vor seinen Augen liegende Details übersehen habe. Rosenberg denkt zunächst an einen Spaß der Kollegen, doch es dauert nicht lange, bis die Ereignisse in Orphea sich zuspitzen und Jesse Rosenberg seinen Chef bittet, ihn noch so lange im Dienst zu behalten, bis der Fall aufgeklärt ist. Der vermeintliche Täter, ein Mann, der mit dem Bürgermeister wegen einer Verwaltungsgeschichte im Streit lag und dessen Auto am Tatort gesehen wurde, ist mittlerweile verstorben.
Joël Dicker erzählt seine Geschichte parallel auf zwei Zeitebenen. Den Bogen vom Tatjahr in die Gegenwart schlägt Dicker über ein Theaterfestival, das jedes Jahr in Orphea stattfindet: Der Mord 1994 ereignete sich am Eröffnungsabend. Nun, im Jahr 2014, laufen die Vorbereitungen für die Premiere in einem Monat. Es wird zum einen schnell klar, dass das Verbrechen in Verbindung mit dem Theaterfestival steht. Zum anderen zeigt sich bald, dass Stephanie Mailer mit ihren Vermutungen Recht hatte. Denn – keine große Überraschung angesichts des Romantitels – die junge Frau verschwindet zunächst, bis man kurz darauf ihren Wagen an einem See in der Nähe von Orphea entdeckt und die Suche der Polizei nach der Journalistin ein Ende findet:
"Die Taucher sprangen ins Wasser und verschwanden in einer Wolke aus Luftblasen. An den Bug geklammert, beugte ich mich vor, um die Leiche, die von den Froschmännern freigelegt wurde, besser sehen zu können. Als es ihnen schließlich gelang, sie umzudrehen, zuckte ich unwillkürlich zurück. Das vom Wasser aufgedunsene Gesicht, das ich zu sehen bekam, war tatsächlich das von Stephanie Mailer."
Geschicktes Arrangement, bedauerliche Klischees
Es verbietet sich von selbst, bei einem Kriminalroman zu viele Handlungselemente oder gar den Täter oder die Täterin zu verraten. Joël Dicker knüpft nach dem Mord an der Journalistin ein weites Netz von Beziehungen, Abhängigkeiten und Zu- und Abneigungen; ein Netz, das sich weit über Orphea hinaus bis nach New York erstreckt.
Dicker hat zwei große Stärken: Zum einen erfasst er präzise die Atmosphäre der von Verbrechen und Intrigen erschütterten Kleinstadtidylle. Zum anderen, und das dürfte der Grundstein seines großen Erfolgs sein, ist Dicker ein geschickter Arrangeur, der mehrere Handlungsebenen zugleich am Laufen halten kann, der Fährten legen und verfolgen kann, die sich später als Irrwege erweisen. Seine Geschichte und deren überraschende Auflösung hat Dicker voll und ganz im Griff.
Das gilt bedauerlicherweise nicht für seine Figuren. In einem Interview hat der Autor erzählt, der nun 670 Seiten dicke Roman habe ursprünglich den doppelten Umfang gehabt, weil darin zehn weitere Personen als mögliche Verdächtige angelegt gewesen seien. Seinem Lektor sei gedankt dafür, dass er dieses Vorhaben vereitelt hat. Denn es gibt kaum einen Charakter in diesem Roman, der nicht wie ein eindimensionales Klischee daherkommt.
Der Polizist Jesse Rosenberg ist diesbezüglich beinahe noch eine Lichtgestalt. Weitaus misslungener ist da schon die Figur der jungen Polizistin Anna Kanner, die nach einer nach 0/8/15-Muster gescheiterten Ehe nach Orphea kommt und sämtliche Stereotypen der ins Charmante gewendeten Einsamen-Wolf-Polizistin erfüllt. Dass die Lokalpolitiker in Orphea allesamt korrupt und machtgierig sind, kommt noch klischeeverstärkend hinzu.
Karikatur eines Kritikers
Auf drastische Weise offensichtlich wird Dickers Hang zum Griff in den Fertigbaukasten aber dann, wenn er in Verbindung mit dem Theaterfestival Figuren aus der Kunst- und Medienwelt auftreten lässt. Der Gipfel ist ein von Narzissmus zerfressener Kritiker, den Dicker gewohnheitsmäßig Sätze aufsagen lässt, die so dämlich sind, dass sie noch nicht einmal für eine bösartige Karikatur taugen:
'"Vollkommener Unsinn, werte Freundin', antwortete Ostrowski abfällig lachend. 'Ich habe niemals, ich sage wirklich niemals einen Kritiker getroffen, der davon träumte zu schreiben. Kritiker sind über so etwas erhaben. Schreiben ist eine niedere Kunst. Schreiben heißt, Worte aneinanderreihen, die am Ende Sätze bilden. Das kann jedes halbwegs dressierte Äffchen.'"
So einfach darf man es sich als Autor nicht machen. Dickers Hang zur grobschlächtigen Simplifizierung trübt die Freude an der Lektüre eines Romans, dessen Pageturner-Qualitäten allerdings unbestreitbar sind.
Joël Dicker: "Das Verschwinden der Stephanie Mailer"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Piper Verlag, München, 666 Seiten, 25 Euro
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Piper Verlag, München, 666 Seiten, 25 Euro