"Dieser Weg von Preußen nach Riga, beziehungsweise in die baltischen Provinzen, kann man ja allgemeiner sagen, ist eigentlich ein sehr typischer im achtzehnten Jahrhundert. Es gibt eine ganze Reihe von Denkern, Gelehrten, auch Künstlern, die im Heiligen Römischen Reich nicht unterkommen oder aus politischen oder ideologischen Gründen keine Anstellung finden und die dann auf das Baltikum ausweichen. Im Baltikum ist die Situation zu dieser Zeit so, dass man eher einen Mangel hat an solchen Intellektuellen, die man im Baltikum Literaten nennt."
Johann Gottfried Herder ist einer von diesen Literaten. 1763 erhält er das Hochgräfliche Dohnasche Stipendium, das ihm die Reise nach Riga ermöglicht. Damit gelingt dem gerade Zwanzigjährigen auch, sich dem drohenden Militärdienst in Preußen zu entziehen.
"Diese militärische Komponente ist etwas, das relativ häufig vorkommt in dieser Zeit, gerade im preußischen Zusammenhang. Die Militärzeit ist ja damals noch wesentlich länger als heutzutage. Wer ins Militär kam, der hatte sozusagen lebenslänglich. Wenn er aus dem Militär ausschied, war er zu etwas anderem kaum noch fähig."
In der alten Hansestadt Riga findet Herder eine Anstellung als Lehrer und evangelischer Pfarrer an der Domschule. Ralph Tuchtenhagen, Professor für Skandinavistik und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin:
"Die Situation ist im Baltikum eigentlich ganz interessant, weil die baltischen Provinzen zwar unter russischer Oberhoheit stehen, aber die Provinzen selber werden von Deutschen quasi regiert, das heißt, vom ansässigen Adel. Die großen Städte haben noch eine besondere Stellung, weil sie in vielen Belangen, vor allem, was das Kirchen- und Bildungswesen angeht, freie Hand haben, also Privilegien besitzen, die weder vom ansässigen Adel noch vom Zaren in St. Petersburg angerührt werden können."
Ein offenes Ohr für die Anliegen des Volkes
Herder, der sich neben seinem Studium der Theologie und Philosophie unter anderem auch mit Pädagogik, Psychologie und Literatur beschäftigt hatte, wird schon damals ein enzyklopädisches Wissen nachgesagt. Er versteht sich selbst als aufgeklärter Demokrat und denkt in Lettland, das unter russischer Oberhoheit steht, auch über politische Reformen nach. Er erlebt das soziale Elend der lettischen Bauern und hat ein offenes Ohr für die Anliegen des Volkes. Er entwickelt die Idee eines Bündnisses zwischen fortschrittlichen Intellektuellen und dem einfachen Volk.
"Du Philosoph und du Plebejer: Macht einen Bund, um nützlich zu werden."
Durch seine unmittelbare Volksverbundenheit wächst auch sein Interesse für die ethnischen Eigenarten der Letten. Er gewinnt eine Vorstellung von ihrem Nationalcharakter. Herder spricht in diesem Zusammenhang gern von der "Volkspoesie". Herder entdeckt jetzt das Volkslied als reinste Form der von ihm so geschätzten Volkspoesie. Mehr als drei Jahrzehnte seines Lebens wird er sich damit beschäftigen, lettische Volkslieder, die Dainas, zu sammeln und zu interpretieren.
Detlef Henning vom Nord-Ost-Institut in Lüneburg führt durch das Zentrum von Riga.
"Johann Gottfried Herder hat fünf Jahre als Pastor in diesem roten Gebäude, in der Domschule, gearbeitet. Sein wesentliches Verdienst für dieses Land ist, dass er irgendwann einmal bei einem Sonnenwendfest lettische Bauern hat singen hören. Diese berühmten Dainas oder lettischen Volkslieder hat er ins Deutsche übersetzt und in einer Volksliedersammlung publiziert."
Dainas sind zumeist Vierzeiler mit dem Versfuß des Trochäus, bei dem auf eine schwere eine leichte Silbe folgt. Die Ursprünge der Dainas reichen weit bis in vorchristliche Zeit zurück. Sie erzählen vom Zusammenleben der Menschen, von ihrem sittlichen Handeln, von Bräuchen, Riten und Festen und von Geburt und Sterben.
"Das ganze Jahr sammelte ich Lieder,
auf den Jāni-Tag wartend,
nun ist der Jāni-Tag gekommen,
nun werden die Lieder gesungen."
auf den Jāni-Tag wartend,
nun ist der Jāni-Tag gekommen,
nun werden die Lieder gesungen."
Der Jãni-Tag ist der Johannistag, also der 24. Juni. Es ist die Zeit der Sonnenwendfeier, also eines der größten und beliebtesten Feste in Lettland. Man isst Johanni-Käse, trinkt selbstgebrautes Bier, singt und tanzt.
Eine Idee von Frieden in Zeiten des Krieges
Herder fühlt sich von der Harmonie und der bildreichen Symbolik der lettischen Dainas besonders angesprochen. Für ihn kommt hier das Allgemeinmenschliche zum Ausdruck, das letztlich alle Völker mit ihren Dichtungen miteinander verbindet. Er spricht hier von einem Bund der Völker.
Musik, dem tieferen Sinn, seiner bilderreichen Symbolik und von der meditativen Ausstrahlung, wie er sie in der lettischen Sprache findet. Sozusagen das Allgemeinmenschliche und das Besondere der Nation. Er spricht von einem Bund der Völker. Und davon, dass das Volkslied ein Weg ist, die Verbindung zwischen den Völkern bewusst zu machen.
"Wenn man es versucht zu abstrahieren, dann ist es eine Friedensidee, die gerade in diesem Zeitalter der Aufklärung ein ganz großes Thema ist. Man muss sich vergegenwärtigen, dass im damaligen Alltag der Krieg einfach dazugehörte. Wir haben in keiner Periode der europäischen Geschichte, glaube ich, so viele Kriege erlebt wie zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert."
Auf dem Weg zur Friedensidee im Bund der Völker entwickelt er eine eigene Vorstellung von dem, was er unter dem Nationalcharakter eines Volkes versteht:
"So, wie ein Lebewesen zugleich durch seine organische Kraft und seine Umwelt bestimmt ist, so ist die Entwicklung eines Volkes zugleich bestimmt durch die physischen Bedingungen, etwa das Klima des Landes, und Sinnlichkeit und Denkart des Volkes. So bildet jedes Volk besondere nationale Anlagen. Auf der Erde besteht so eine Vielfalt gleichberechtigter Formen der Kultur."
Herder beschäftigt sich in den Erscheinungen der Geschichte und – was den Charakter der Völker betrifft – auch mit Menschenrechten und Menschenwürde. Er fasst das zusammen in dem Wort Humanität. Herder wendet in seiner Geschichtsphilosophie auch die aufklärerische Idee der Toleranz auf die Epochen der Geschichte und auf Völker an.
"Humanität ist (...) uns aber nur in Anlagen angeboren"
"Wie ein Mensch von einem anderen lernt, so soll auch ein Volk von und mit den anderen Völkern lernen, bis alle die schwere Lektion erfasst haben, dass kein Volk ein von Gott einzig auserwähltes Volk ist. Diese Wahrheit muss von allen gesucht und das Beste von allen aufgebaut werden."
Für Herder gehört die Förderung der Humanität zum bildungspolitischen Engagement eines Volkes.
"Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts, er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden."
Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit findet ihre Anwendung auch in seinem theologischen Denken. Für ihn trägt wesentlich auch die religiöse Tradition zum Aufbau der menschlichen Kultur bei. Durch Bildung zur Humanität können Mitglieder der Gesellschaft ihre Bestimmung als Ebenbilder Gottes erreichen.
"Die Heilige Schrift gründet ihre Autorität darin, dass sie 'menschlich' verstanden ist als zum menschlichen Herzen sprechende 'Geschichte', mit der im Leben Jesu vollendet auftretenden 'Humanität'."
Die Geschichte der Religion versteht Herder als Geschichte menschlicher Mythenbildung. Um die überlieferten Quellen der biblischen Autoren zu erfassen, bedarf es philologischer und historischer Hilfsmittel, die dem Leser erlauben, in die Situation und Absicht der biblischen Autoren einzudringen. Und auch bei der christlichen Dogmatik geht es ihm wesentlich darum, sie für die Herzen der Menschen zu erschließen.
"Dogmatik ist eine Philosophie aus der Bibel. Das heißt, sie ist eine aus dem historischen Studium der Dogmengeschichte sich entzündende freie Einsicht in die edelsten Wahrheiten des Menschengeschlechts, die als solche selbst einem geschichtlichen Wachstum unterliegen."
Die Religion auf das Wesentliche reduziert
Seinem Anspruch, dass auch die Verkündigung zur menschlichen Bildung beitragen soll, verleiht er dann in seinen Predigten Ausdruck, die er in einfacher und nüchterner Sprache hält. Später, 1787 in Weimar, schreibt dann Friedrich Schiller:
"Am vorigen Sonntag hört ich Herdern zum ersten Mal predigen. Der Text war der ungerechte Haushalter, den er mit sehr viel Verstand und Feinheit auseinandersetzte. Die ganze Predigt glich einem Diskurs, den ein Mensch allein führt, äußerst volksmäßig."
In seinem Reisejournal hat Herder vier Hauptaufgaben genannt, auf denen die sozialethische Ausgabe des geistlichen Amtes zu gestalten ist: Predigt und Seelsorge, Gestaltung des Schul- und Erziehungswesens, populäre Schriftstellerei und politische Beratung der Obrigkeiten.
"Auch da ist er natürlich im Zentrum der Aufklärung. Es gibt ja eine ganze Reihe von Aufklärern, die Toleranz predigen. Indem er die Religion reduziert auf das Wesentliche, auf das Menschliche, menschlich Machbare, versucht er auch die Religion abzukoppeln von dem Machtapparat, den es natürlich innerhalb der Kirche gibt. Indem Herder und verschiedene andere nun versuchen so etwas wie eine Volkskirche und eine Volksbildung herbeizuführen, versuchen sie auch eine Entflechtung von Kirche und Staat. Das ist eigentlich eine sehr moderne Vorstellung schon zu dieser Zeit."
Am 23. Mai 1769, also nach 5 Jahren, reist Johann Gottfried Herder aus Riga ab. Er fühlte sich insgesamt nicht frei in seinem Denken und Handeln.
"Ja, da kommt er wahrscheinlich mit seinem universalistischen Anspruch in Konflikt, mit dem engen bürgerlichen Denken der Stadtväter."
Herder war als Lehrer und Geistlicher, der Predigten hielt, ein Angestellter der Stadt Riga und durfte sich daher nicht so frei äußern, wie er es gerne getan hätte.