Im 18. Jahrhundert war Bildung eine vergleichsweise simple Sache:
"Ich wußte sehr viele Psalmen und fast alle Evangelien auswendig, sagte ziemlich genau, wie viel jedes Buch Kapitel und sogar wie viel jedes Kapitel Verse hatte, und wo und in welcher Verbindung die so genannten Beweisstellen standen; so daß mir von dieser Zeit an die Gewohnheit geblieben ist, bey manchen Gelegenheiten eine Reihe Bibelstellen anzuführen, worüber zuweilen selbst noch Theologen sich etwas wundern."
Auf jeden Fall lag man mit passenden Bibelstellen fast immer richtig - so lange man sie zitierte und nicht kritisierte:
"Ob sie wirklich bewiesen, was sie beweisen sollen, darnach fragte ich damahls noch nicht: es war nur Sache des Gedächtnisses und eines lebendigen Ideenspiels ohne weitere Untersuchung. "
Hier klingt freilich eine Art Häresie durch, ein Glauben-nicht-ernstnehmen-Wollen, mithin der Urkeim allen Zweifels. Religion ist doch kein "Ideenspiel", sondern eine Überzeugungsangelegenheit! "Ich glaubte nur was ich begriff; und ich begriff von den Kirchendogmen nur sehr wenige."
Lange vor Marx nannte er sich einen "proletarischen Schriftsteller"
So spricht ein Klassiker. Doch unter den rasch zu staatstragenden Denkmälern erstarrten Dichtern von Lessing bis Goethe, von Herder bis Schiller ist Johann Gottfried Seume so etwas wie ein garstiger Kobold geblieben. Man kennt ihn als Wanderer von Leipzig nach Syrakus, also frühen Reiseschriftsteller, und jenen deutschen Dichter, der sich als erster überhaupt das Etikett des "Proletariers" anheftete - lange, bevor sich Marx des Begriffs bemächtigte.
Ein mutiger Maulaufreißer war er schon in Kindertagen, beileibe aber kein Angeber. Das - häufig militärische - Abenteuer liebte er mehr als die Schreibstube, doch was die Unterordnung in einer Welt der gottesgegebenen Monarchien anbetraf, war wegweisend undiplomatisch:
"In Minden auf der Wiese [...] gab [es] von den Dragonerunteroffizieren und Gardisten einige freundliche Rippenstöße, weil wir nicht laut und voll und sonorisch genug 'Es lebe der König!' schrien. [...] Ich habe nichts dawider, daß die Könige leben und sich wohl befinden, wenn sie nur leidliche Menschen sind: aber man muß mir nicht despotisch zumuthen, unästhetisch marktschreyerisch meine Lunge für sie in peinliche Kontribution zu setzen."
Der hessische Soldatenhandel geht in die Literatur ein
Damit wären wir auch schon an einem zentralen Schauplatz in Seumes bewegtem, allerdings auch bisher bereits bekanntem Leben: 1781 brach der unglückliche Student der Theologie nach schwerer Glaubenskrise seine Zelte in Leipzig ab, um sich in Richtung Westen aufzumachen. Deutschland war ein Flickenteppich aus souveränen Kleinstaaten, und genau dieser Umstand veränderte Seumes Biographie nachhaltig. Doch hören wir ihn selbst:
"Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Werth hatten, und nach Abzahlung meiner kleinen Schulden, die ich nothwendig haben mußte, blieben mir ungefähr neun Thaler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu thun sey. Von dort aus, wer sieht nicht gern zuvor Paris, dachte ich nach Metz in die Artillerieschule [zu gehen], da ich eben damahls angefangen hatte, etwas ernsthaft Französisch und Mathematik zu treiben. Das übrige überließ ich billig dem Schicksal."
Und das schlug im kleinen Dorf Vacha bei Eisenach zu. Soldatenwerber lockten, zwangen oder überzeugten - die Wahrheit kommt auch in der ungekürzten Autobiografie nicht ans Licht - Johann Gottfried Seume in den Militärdienst beim Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. Der nun ist bis heute als umstrittenes Gegenstück zu den preußischen Soldatenkönigen bekannt, denn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Hessen-Kassel zwar der am stärksten militarisierte Staat im deutschen Reiche, führte aber selbst keine Kriege, sondern verpachtete die Landeskinder und aufgegriffene Durchreisende an andere europäische Herrscher.
Zugespitzt könnte man sagen, der Landgraf sei einer der ganz frühen Frühkapitalisten gewesen, der die Warenförmigkeit menschlicher Arbeitskraft eher begriff als andere, und die tiefere Verwerflichkeit seines Tuns habe vor allem in dessen Dimensionen gelegen. Denn praktiziert wurde der Untertanenverleih auch von anderen Monarchen, die ihre diesbezügliche Geschäftsuntüchtigkeit - Skrupel mag man es kaum nennen - hinter Worten des Neides versteckten, wie das Nachwort erläutert:
"Der württembergische Herzog Karl Eugen, [...] der selbst wiederholt mit Hilfe von Subsidien seine maroden Staatsfinanzen zu sanieren suchte, notierte nach einem Besuch in Kassel im Januar 1784 mißbilligend, daß der Landgraf Friedrich II. ›sehr reich an Geld‹ sei, dabei aber ›arm an Unterthanen‹, doch könne das Land sich wegen seines Militärs der unveränderten Aufmerksamkeit anderer Mächte sicher sein, auch die ›Kirchhöffe Ameriquens ruffen nach Hessenland‹".
Dorthin, in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wurde auch Seume verschickt, um auf Seiten der britischen Krone die abgefallenen Siedler zu bekämpfen. "Verschickt" kann man durchaus im Sinne eines Güterversands begreifen - oder das von Seume so genannte "Menschenragout" mit zeitgenössischen Berichten von Sklaventransporten abgleichen:
"Die Bettkasten waren für sechs Mann. [...] Wenn viere darin lagen, waren sie voll; und die beyden letzten mußten hinein gezwängt werden. Das war bey warmen Wetter nicht kalt: es war für einen Einzelnen gänzlich unmöglich sich umzuwenden und eben so unmöglich auf dem Rücken zu liegen. [...] Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebratet hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! und es wurde umgeschichtet: hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis ausgehalten, rief das nehmliche der linke Flügelmann; und wir zwängten uns wieder in die vorige Qvetsche."
Ein galliger Chronist wird zum Stichwortgeber der Gebrüder Grimm
Hier tönt der bekannte Kopf-oben-halten-Seume als Berichterstatter einer widrigen Situation, für deren Überlieferung er mehr als nur schriftstellerisches Rüstzeug besaß: Er war ein galliger, kritischer, intelligenter Chronist, zugleich ein eleganter, unterhaltsamer und sprachschöpferischer Stilist. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird Seume an 1130 Stellen zitiert. Auch wenn wir seine Wortschöpfung des »Fußwanderers« heute eher nicht mehr gebrauchen, war er über Generationen hinweg eine einflussreiche sprachliche Orientierungsgröße.
Aus eher niedrigen Verhältnissen stammend, pochte bei Seume ein rastloser Geist aufs absolute Vorrecht des Intellekts vor allen Dogmen, Hierarchien und seit Ewigkeiten gewachsenen Selbstverständlichkeiten. Heute würden wir den kindlichen Johann Gottfried vermutlich als Hochbegabten taxieren und ihn entsprechend fördern. Trotz eines adeligen Gönners widerfuhr ihm solches eher selten: "Keine Lage ist peinlicher, als wenn der Geist Bedürfnisse hat, die nicht erfüllt werden, und doch erfüllt werden könnten und sollten."
Schon vor der Französischen Revolution war Seume republikanisch gesinnt, individualistisch, antiklerikal. Dass er in Amerika dazu verpflichtet sein sollte, im Auftrag eines verkommenen monarchischen Systems Revolutionäre zu bekämpfen, erscheint nachträglich wie ein böser Witz, der vor Ort zwingend in die Desertion hätte führen müssen – doch Seume hatte Glück: Der Friede zwischen der britischen Krone und ihrer aufrührerischen Kolonie war bei seiner Ankunft schon projektiert, es kam zu keinen Kampfhandlungen mehr.
Stattdessen stach Seume seinen Vorgesetzten positiv ins Auge, errang einen höheren Dienstgrad, fand Muße, sich vorurteilsfrei mit Indianern zu beschäftigen und kehrte nach knapp einem Jahr des unfreiwilligen, aber von ihm durchaus genossenen Aufenthalts im heutigen Kanada nach Deutschland zurück. Vor Bremen angelandet, hörte er, dass preußische Werber das Nämliche betrieben wie vordem die hessischen: mit List und Tücke Soldaten auszuheben.
"Und nun - "
"Und nun" sind die beiden letzten Worte auf Seite 99 unten. Nach weniger als einem halben Seume-Leben bricht die Autobiografie ab. Herausgeber Dirk Sangmeister vermutet, den schwerkranken Seume habe 1810 der Tod kaum mitten im Satz ereilt, vielmehr sei es dem Autor versagt geblieben, eine von ihm begonnene Abschrift des Ur-Manuskripts fertigzustellen. Dieses Ur-Manuskript ist indes verschollen, und alle bekannten Ausgaben von Seumes "Mein Leben" gehen auf die unvollständige Abschrift zurück.
"Mein Leben" ist nur ein Fragment - aber mit welch einem Apparat!
Damit wären wir bei Teil zwei des vorliegenden, seltsam disproportionierten Lesevergnügens angelangt: Von 480 Buchseiten sind nur 135 von Seume selbst; auf das Fragment folgen noch ein paar Briefe von seiner Hand. Der Rest ist Fußnote, Nachwort, historische Rekonstruktion und Erläuterung. Nur etwas für Philologen, ja enger noch, für ausgewiesene Experten des 18. Jahrhunderts? Nein.
"Kürzlich erst fiel mir seine Selbst-Biographie in die Hand. [...] Sämtliche von ihm erzählte Data, die ich mit erlebte, sie sind samt und sonders total erstunken u erlogen. Auch nicht ein einziges Factum, das nicht verdreht wäre! Z.B.: Zahl der Rekruten, Zeit der Hin-Reise, Zahl der Schiffe, SchiffsKost pp. alles ganz anders. Nur zwey: der Rekruten waren 1000 und einige, nicht 1500, Segel-Wochen 9, und nicht 22. Stürme hin? gar keine. [...] Sergeant war er nicht und ist es dort nie geworden. ich [!] erst hab' ihm den Bauzkorporal-Stock verschafft. [...] Aller orten [!], wo er sich willig als Rekrut - pp engagiren ließ, will er - sein Ausdruck - aufgegriffen worden seyn, und dann desertirt er pp. Aus 16 Segeln hin, macht er 70 - pfui, was soll das?"
So donnerte 20 Jahre nach Seumes Tod sein ehemaliger Freund und Mitsoldat Karl von Münchhausen, und schon sind wir mitten im schönsten Streit über die historische Wahrheit. Dass Seume nach seinem Tode mal von politischen Interessengruppen vereinnahmt und verehrt, für die posthum erschienene Autobiografie aber genauso oft auch angegriffen wurde, ist die eine Seite der Medaille.
Die andere ist die Vehemenz, mit der der enthusiasmierte Herausgeber und Seume-Forscher Sangmeister den Dialog über die Jahrhunderte hinweg eröffnet. Zückte Münchhausen das Richtschwert, stichelt Sangmeister mit dem Florett zurück:
"Nimmt man den ganzen kruden Wust von Korrekturen, Anwürfen und Unterstellungen, die Münchhausen in seinem Brief (nebst ›Gedichten‹) gegen Seumes Lebensgeschichte vorbrachte, in summa in den Blick, muß man von einem retrospektiv kaum noch zu entwirrenden Durcheinander von notwendigen Corrigenda und haltlosen Beschuldigungen, leicht erklärlichen Mißverständnissen und schwer verständlichen Erinnerungsfehlern (NB: auf seiner Seite) sprechen. [...] Doch abgesehen von all dem, ist der eigentliche Grund für Münchhausens Enttäuschung, Verbitterung, Beckmesserei und Verdammung ganz leicht zu erklären: Die meisten Miß- und Nichtverständnisse wurzeln nämlich in der eklatanten Lückenhaftigkeit und hoffnungslosen Verderbtheit der Ausgabe, in welcher Münchhausen die Geschichte von Seumes Leben gelesen hatte."
Nur ein liebendes Philologenherz kann der "hoffnungslosen Verderbtheit" einer in diesem Fall stark trivialisierten Volksausgabe derart zürnen, und Sangmeisters Seumerisierung in Emphase, Stil und Sprache geht noch weiter. Bei ihm "endigt" ein Attentäter das Leben Kotzebues, statt es zu "beenden", und wenn der Herausgeber von einer "vorsätzlich kombabusierten" Buchausgabe spricht, meint er, dass sie vom Zensor kastriert worden sei; Seume selbst verwendete diesen poetisch klingenden Ausdruck mehrfach. Auch die Kunst des Abkanzelns beherrscht Sangmeister mindestens so gut wie sein Held, vor allem, wenn es um die wissenschaftliche Konkurrenz geht:
"Die Forschungen sind kleinteiliger geworden, mitunter auch kleingeistiger. Die Zahl der engstirnigen Miscellen hat bedenklich zugenommen, die Zahl der umsichtigen Studien bedenklich abgenommen."
Seume hat seinen Sangmeister gefunden
Selbst Laien, die nicht in akademische Grabenkämpfe verstrickt sind, kann die Lektüre indes bis hinein in die Fußnoten Spaß bereiten, weil sich hier ein Ego-Dokument - als solche gelten den Historikern Tagebücher und Autobiografien - in einem anderen Ego-Dokument widerspiegelt, das freilich wissenschaftlich-gefühlskalt sein sollte.
Hinter aller editorischen Sisyphusarbeit und überbordenden Faktenkenntnis kann Dirk Sangmeister aber einfach nicht verbergen, dass Seume ihm gehört und nicht den anderen Forschern - wovon schlussendlich der Leser profitiert, denn Kenntnisfülle plus Herzensengagement macht aus einer Monografie fast schon einen historischen Reißer.
"Unser Wissen über sein Leben ist größer als über Mein Leben", heißt es resümierend im Nachwort, und deshalb sei Seumes weitere Biografie nach dem "Und nun"-Hiatus nachgetragen: Drei Jahre lang wurde Seume im preußischen Emden wieder Soldat, seltsamerweise - und über die Motive weiß man bis heute nichts - unter dem Alias Johann Friedrich Normann.
Mit 26 inskribierte er sich erneut in Leipzig, diesmal für Jura und Philologie, wurde promoviert und habilitierte sich später auch noch. Seumes Bildungsbiographie übertrifft damit glänzend die engen klerikalen Vorgaben seiner Schicht. Als Begleiter eines ihm anvertrauten Zöglings begann er zu reisen und trat aus "Erfahrungslust" wieder in militärische Dienste ein. Das passt zu seinem unsteten Charakter, wohingegen sein stubenhockerischer Brotberuf als Korrektor beim Verleger Göschen in Grimma wie ein Zwangsaufenthalt aussieht. Aber das mag täuschen, denn die Auseinandersetzungen mit den großen Geistern seiner Zeit über Denk-, Sprach- und Druckfehler sind ja auch nichts anderes als unblutige Schlachten.
Der aufmüpfige Geist war von allem Militärischen fasziniert
Was auffällt und von Dirk Sangmeister gut herausgearbeitet wird, ist die Faszination für alles Militärische: "Seume war ein leidenschaftlicher Soldat, der stolz darauf war, acht Mal in der Minute schießen zu können, der aber das Militär für seine endemische Menschenverachtung und Dummheit verabscheute."
Mit Schwarzweiß-Malerei kommt man bei Seume offenbar nicht weiter, und das wirft noch einmal die Frage auf, wie unfreiwillig sich die erste soldatische Anwerbung wirklich vollzog? Zwei Jahrhunderte lang galt er als Kronzeuge gegen die menschenverachtende Söldnerpraxis des Landgrafen Friedrich, und selbstredend war diese - damals allerdings nicht rechtswidrige - "Organleihe" eine krude absolutistische Herrschaftspraxis. Im Originaltext der Autobiographie schwingt jedoch noch etwas anderes mit, etwas von - ja: glücklichem Zufall.
"Niemand war damahls vor den Handlangern des fürstlichen Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inscription, als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall: wo so viele durchkommen, wirst du auch: über den Ocean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug; und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich."
Empörung, Angst, persönliches Entsetzen äußern sich anders, und noch ein weiterer Umstand weist Johann Gottfried Seume beinahe als einen Vorläufer von Ernst Jünger aus. Es ist die Selbstinszenierung als stoischer Intellektueller im Kugelhagel:
"Die Sage von seiner Homer-Lektüre im Feuer des polnischen Aufstandes hatte Seume selbst in die Welt gesetzt, als er in Vorrede zu seinem Spaziergang nach Syrakus bemerkte, er habe damals ›während des langen Feuers kartätschensicher zuweilen in einer Mauernische neben den Grenadieren […] in meinem Taschenhomer‹ geblättert."
Die bislang unterschlagenen Stellen erzählen nichts Neues
Diese Verbindung zwischen Geist und Waffe - beide Werkzeuge des Aufstiegs - hat man bei Seume bislang eher nicht gesehen. Sein öffentliches Bild ist geprägt vom Widerstand gegen vor- und fortgesetzte Dummheit, wo immer sie qua staatlicher Machtstruktur Gerechtigkeit blockierte und Willkür praktizierte.
Sie versetzte Seume stets in Furor, und in dieses Feld gehören auch die wenigen Passagen, die in der ungekürzten Ausgabe von "Mein Leben" nun erstmals gedruckt sind. Dem Verleger Göschen und seinen Nachfolgern erschienen Seumes Worte zum Soldatenverleih einfach zu heiß. Ein Ausschnitt:
"Es ist unbegreiflich, wie ein sonst freyes und wackeres Volk bey einem ziemlichen Grad von Aufklärung so lange solche Unwürdigkeiten dulden konnte. [...] Die Minister sind gewöhnlich blinde niedrige Kreaturen des Hofes, und der Provinzial-Adel ist meistens durch Mangel und armselige Ruhmsucht Kreatur der Minister. [...] Die Kasse des Fürsten wurde gefüllt: die großen Officiere suchten Ruhm und Geld, von Ehre ist bey einer solchen Schändlichkeit nicht die Rede. [...] Die übrigen wurden nicht gefragt und mit Flintenkolben, Bayonetten und Stöcken zur Folgsamkeit bestimmt. Das nennt dann das Unwesen zur Schande der Menschenvernunft Gerechtigkeit."
Im Umfeld der auch sonst nicht eben leisetreterischer Publizistik Seumes ist das allerdings eher eine Marginalie, und bereits zu Lebzeiten hat der Aufklärer erhellende und bleibende Sätze publizieren können. In seinem Reisebericht "Mein Sommer 1805" äußerte er sich ebenfalls zum Adel, und das klingt beinahe wie eine moderne soziologische Rollenanalyse:
"Es wäre Unsinn zu glauben, daß unter den Edelleuten durchaus keine seien, die es redlich meinen: aber der Geist des Korps ist in Widerspruch mit allem Besseren und hebt alles Emporkommen der Vernunft und Gerechtigkeit auf. Gerechtigkeit und Adel [...] sind immer im Gegensatz; und kein Edelmann ist gerecht und vernünftig als solcher; sondern nur insofern er aufhört es zu sein." (S. 270)
Dem Buchkorpus indes hätte ein bisschen Adel gut angestanden: Ihm fehlt das - vielleicht sogar mehrere - Lesebändchen. Das philologisch feine Gespinst zwischen Text und Kommentar lässt sich nämlich nur blätternd und markierend erschließen - wer da auf Papierstreifen verwiesen ist, verzettelt sich leicht.
Johann Gottfried Seume: "Mein Leben"
Erstmals ungekürzt herausgegeben von Dirk Sangmeister
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 480 Seiten, 34,90 Euro.
Erstmals ungekürzt herausgegeben von Dirk Sangmeister
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 480 Seiten, 34,90 Euro.