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Johannes Brahms oder: Die Sehnsucht nach einem neuen frischen Ton

Der Trost, das Glück und die Friedfertigkeit, die wir in einer bestimmten Literatur, Architektur, Malerei und Musik wahrzunehmen glauben, bilden das Thema der Reihe "Kunstbürger-Bürgerkunst." Darin geht es um Porträts von Künstlern, die das Alte mit dem Neuen zu versöhnen suchten, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen. In der dritten Folge befasst sich Gerd de Bruyn mit: "Johannes Brahms oder: Die Sehnsucht nach einem neuen, frischen Ton".

Von Gerd de Bruyn |
    Gerd de Bruyn studierte Literatur- und Musikwissenschaft, ehe er ins Architekturfach wechselte. Seit 2001 ist er Professor für Architekturtheorie und Direktor des "Instituts moderne Architektur und Entwerfen" an der Universität Stuttgart.


    Johannes Brahms oder: Die Sehnsucht nach einem neuen frischen Ton
    Von Gerd de Bruyn


    Johannes Brahms, Tragische Ouvertüre op. 91

    Als der Schwarzamerikaner Dean Dixon zum neuen Chefdirigenten des Hessischen Rundfunkorchesters ernannt wurde, hoffte manch einer, in Frankfurt breche nun eine neue Ära an. Man schrieb das Jahr 1961und machte sich auf schmissige Gershwin-Rhythmen gefasst, doch weit gefehlt: Dixon fühlte sich dem klassischen Musikerbe verpflichtet. Notengetreue Interpretationen Beethovens und Brahms, fern der jubelnden Temperamentsausbrüche eines Leonard Bernstein, waren sein Erkennungszeichen. Davon zeugen auch die eben gehörten, 1968 mit dem Rundfunkorchester aufgenommenen Anfangstakte der "Tragischen Ouvertüre".

    Brahms komponierte sie gleich nach der "Akademischen Festouvertüre" 1880 in Bad Ischl. Da war er schon 47 Jahre alt, pflegte seinen Bart und begann allmählich jene beleibte Behäbigkeit anzunehmen, die wir mit seinen späteren Jahren verbinden. Man könnte spekulieren, zwei Ereignisse seien hieran Schuld gewesen: Einmal sein Umzug nach Wien und das damit verbundene leckere Essen, das er besonders gern und reichlich im Hause des Walzerkönigs Johann Strauß genoss; und zum zweiten ein Umstand, der etwas komplizierter ist. Der junge Brahms war ja ein hübscher schlanker Kerl mit blonden Locken gewesen, der, wenn wir den Bildern trauen wollen, dem Salonlöwen Franz Liszt in Künstlermähne und Habitus kaum nachstand. Doch nach 1860 verbot sich dieser Vergleich von selbst. Seitdem wurde Brahms einem anderen Lager zugerechnet: nicht den genialisch auftrumpfenden Vertretern der neudeutschen Schule, sondern ihren konservativen Gegnern.

    Zu ihnen gehörten die Apologeten der klassischen Musiktradition, die in dem Wiener Ästhetikprofessor und Musikkritiker Eduard Hanslick einen gefürchteten Mitstreiter gefunden hatten. Hanslick machte mobil gegen die Zukunftsmusik, die sich Wagner auf die Fahnen geschrieben hatte, und hob Brahms auf den Schild. Doch der zählte damals keine dreißig Jahre! Ausgerechnet dieser junge Mann also sollte die Tradition repräsentieren, während der fünfzigjährige Liszt als Erneuerer galt.

    Zumal sich Brahms in den Jahren seiner Verliebtheit in Clara Schumann keineswegs mit Traditionspflege und kontrapunktischen Studien zufrieden geben wollte! Als er sich Clara das erste Mal mit Vollbart präsentierte - das war im Sommer 1866 in Baden-Baden - schimpfte sie, dass sie die Feinheiten seines Gesichts nicht mehr erkennen könne. Er solle sich nicht älter machen, als er war. Sie hatte Brahms als strebsamen Jüngling kennen gelernt, der höchste Maßstäbe an sich legte. Noch im August 1855 hatte er der vierzehn Jahre älteren Freundin, die sich durch seine "glücklich leuchtenden Blicke" ordentlich verjüngt fühlte, geschrieben:

    "Was die Leute gleich einen Begriff haben, wenn ein junger Mensch etwas Besonderes schreibt! Wie mancher Jüngling wünscht sich wohl Adlerflügel und bildet sie sich auch wohl ein; gerät er hernach an die Bücher und Noten, dann klebt er gleich am Staub fest und vergisst das Fliegen. Ich fürchte das doch zum Glück nicht häufig von mir, aber oft macht's mich traurig, dass ich gar nicht mehr weiß, wie man componiert, wie man schafft. - Ich wünschte, diese Zeit wäre bald vorüber und ich wäre freier und mutiger; ich könnte krank werden vor Sehnsucht nach einem neuen, frischen Ton ..."

    Das war ein durchaus zweischneidiger Wunsch, wenn wir bedenken, dass Clara Schumann große Vorbehalte gegenüber den "Neutönern" hegte. Den Wagner-Kult ihrer Zeit verabscheute sie. Ein Leben lang hielt sie an den ästhetischen Urteilen ihres Mannes Robert fest und gehörte nicht gerade zu denen, die Brahms zu einem "neuen Ton" antrieben. Zumal ja Robert Schumann in seinem "Aufsatz über Brahms" betont hatte, der junge Komponist aus Hamburg besäße bereits alles, was einen epochalen Künstler ausmache. Kurz nachdem er den noch völlig unbekannten Brahms kennen gelernt hatte, feierte er ihn schon als kommendes Genie.


    Das Bild vom frühvollendeten Genie, das Schumann in Anspielung auf die Geburt der Minerva zeichnete, führt auf eine falsche Fährte. Wahr daran ist nur, dass der aus ärmlichen Verhältnissen stammende, oft scheu und verschroben auftretende Brahms eine eminente Begabung war. Indessen darf man nicht unterschätzen, dass er eine sehr ordentliche musikalische Ausbildung genossen und sich ein Leben lang im fleißigen Selbststudium fortgebildet hat.

    Heute wissen wir, dass er selbst dem Mythos der frühen Vollendung tatkräftig zuarbeitete, indem er seine Jugendwerke systematisch vernichtete. Doch konnte er den Eindruck, hart an sich zu arbeiten, nie ganz vertuschen. Zeitweise hing ihm sogar der Ruf eines "gelehrten" Komponisten an, weil er so viel las und stets eine kleine Bibliothek mit sich führte. Zum Bild des reflektierten Künstlers passt auch, dass er an Werken, die ihm besonders wichtig waren, jahrelang feilte. Dies alles führte dazu, dass ihm, der in den letzten Jahren mit Ruhm überhäuft wurde, nach dem Tod noch eine Ehre der besonderen Art zuteil wurde.

    Das dauerte freilich seine Zeit. Über 50 Jahre verstrichen, in denen Brahms zum Denkmal gemacht wurde, bevor er wieder vom Sockel herabsteigen und seine Musik ihren innovativen Charakter zu erkennen geben durfte. Hanslick war Schuld daran. Er hatte dafür gesorgt, dass Brahms als Bewahrer der Tradition und legitimer Nachfolger Beethovens galt. Das geschah freilich ganz und gar nicht gegen dessen Willen! Brahms war damit einverstanden, als Vollstrecker der klassischen Musiktradition in die Geschichte einzugehen. Und so gefiel ihm auch, dass der Dirigent Hans von Bülow, der zunächst begeisterter Anhänger Wagners war, den Ausspruch tätigte: Die erste Symphonie von Brahms sei Beethovens zehnte.

    Solch plakative Zuschreibungen waren mit Schuld daran, dass Brahms stets stärker der Häme ausgesetzt wurde, mit der eine Position überhäuft werden konnte, die bei den Jüngern des Fortschritts für antiquiert galt. Auch Nietzsche, der nach seiner radikalen Abwendung von Bayreuth ein freundliches Urteil über Brahms hätte fällen können, wollte 1888 in der zweiten Nachschrift zum Fall Wagner immer noch nicht gelten lassen, dass "andre Musiker gegen Wagner in Betracht kommen". Höchst ungnädig ließ er sich über Brahms aus, dessen Konservatismus er als Schwäche eines Künstlers auslegte, der zu mehr als dem Kopieren alter Meister nicht in der Lage sei:

    "... was liegt noch an Johannes Brahms! ... Sein Glück war ein deutsches Missverständnis: man nahm ihn als Antagonisten Wagners, - man brauchte einen Antagonisten! - Das macht keine notwendige Musik, das macht vor Allem zu viel Musik! - Wenn man nicht reich ist, soll man stolz genug sein zur Armut! ... Die Sympathie, die Brahms unleugbar hier und da einflösst, ganz abgesehen von jenem Partei-Interesse, Partei-Missverständnisse, war mir lange ein Rätsel: bis ich endlich, durch einen Zufall beinahe, dahinter kam, dass er auf einen bestimmten Typus von Menschen wirkt. Er hat die Melancholie des Unvermögens; er schafft nicht aus der Fülle, er durstet nach der Fülle. Rechnet man ab, was er nachmacht, was er großen alten oder exotisch-modernen Stilformen entlehnt - er ist Meister in der Copie -, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht ..."

    "Meister in der Kopie", das war ein schlimmer und ungerechtfertigter Vorwurf, der einen Musiker treffen sollte, der in einem Jahrhundert lebte, in dem sich nicht nur die Baukunst in die Vergangenheit verstrickte. Wie die Architekten, Literaten und Maler seiner Zeit, so entwickelte auch Brahms ein ausgeprägtes historisches Interesse für sein Metier, das nicht nur Beethoven, Bach und Händel galt, sondern Rückgriffe auf Palestrina, die niederländische Kanontechnik und die mittelalterlichen Kirchentonarten gestattete. Mit bedeutenden Vorgängern befasste sich Brahms wie kaum ein Komponist zuvor; er studierte sie, beteiligte sich aktiv an der Herausgabe von Gesamtausgaben und sammelte Originalhandschriften. Dies alles nicht aus rein konservatorischer Absicht, sondern um wichtige Kompositionstechniken kennen zu lernen und fortzubilden.

    Dass er trotz dieser Rückbesinnung einem Komponisten positiv auffiel, der der Musik die radikalste Erneuerungskur verordnet hatte, die ihr je zugemutet wurde, geriet Brahms zur spektakulärsten posthumen Würdigung. Die Rede ist von Arnold Schönberg, der, von den Nazis vertrieben, in Kalifornien den Übergang von der Tonalität zur Zwölftontechnik als eine Entwicklung beschrieb, die sich bei den großen Komponisten der Vergangenheit bereits angebahnt habe. Schritt für Schritt sei es zur Verlagerung der harmonischen auf die motivische Arbeit gekommen. In diesem Umstand vermutete Schönberg den Fortschritt in der Musik und beschrieb darum Brahms als progressiven Künstler, da dieser ein Meister der "entwickelnden Variation" und thematischen Durchdringung des musikalischen Satzes gewesen sei.

    Nachzulesen ist dies im Aufsatz "Brahms, the progressive", den Arnold Schönberg 1949 für sein Buch "Style and Idea" schrieb. Brahms war für ihn alles andere als ein Kopist. Er war ein Vortrupp der Avantgarde, der seine Stücke aus kleinsten motivischen Zellen aufbaute und so zur Auflösung der Tonalität beitrug. Was hiermit gemeint ist, lässt sich am Beispiel der "Drei Intermezzi op. 117" für Klavier veranschaulichen, die Brahms 1892 komponierte. Abermals sind uns die Ablenkungsmanöver, die er unternahm, damit dem Hörer die strenge Konstruktion verborgen bleibt, geläufiger als die musikalische Struktur. "Drei Wiegenlieder meiner Schmerzen" nannte er in gewohnter Selbstironie seine Stücke, als handle es sich bloß um sentimentale Anwandlungen eines alten Junggesellen. Clara Schumann aber, die für Psychologisches sehr empfänglich war, ließ sich nicht davon abbringen, dass hier neben Melancholie und Schwärmerei noch andere Kräfte am Werk waren:

    "Die Intermezzi sind eine wahre Quelle von Genuss; alles, Poesie, Leidenschaft, Schwärmerei, Innigkeit, voll der wunderbarsten Klangeffekte ... Die Brahmsschen Stücke sind, was Fingerfertigkeit betrifft, bis auf wenige Stellen nicht schwer, aber die geistige Technik darin verlangt ein feines Verständnis, und man muss ganz vertraut mit Brahms sein, um sie so wiederzugeben, wie er es sich gedacht."

    Drei Intermezzi op. 117, Nr. 2 gespielt von Anna Gourari

    "Geistige Technik", schrieb Clara Schumann und charakterisierte auf diese Weise treffsicher das kompositorische Verfahren, das Brahms späte Werke kennzeichnet. Seine Klavierstücke gerieten mit höherem Alter immer dichter und "versponnener" im doppelten Wortsinn: Sie nahmen improvisatorische Züge an, tendierten zur Auflösung der Form, doch geriet zugleich das Gewebe der Töne immer feinstufiger, bis alles wie in einem Netz dicht miteinander verwoben war. "Beziehung und Auflösung" heißen die beiden Antipoden, in deren Spannung sich seine Musik vollzieht. Und noch etwas fällt auf: Ein einsamer Genießer spricht in diesen Stücken zu sich selbst. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke nennt die letzten Klavierkompositionen "verspätete Monologe", als hätte Brahms seine Könnerschaft zu lange schon zurückgehalten.

    "Wenn wir nicht selbst am Klavier sitzen, erleben wir die Stücke am richtigsten wie einer, der im Flur vor der Tür von Brahms' Musikzimmer stünde und hörte, wie der Alte drinnen für sich spielt."

    Wenn wir außerdem die Tür einen Spalt breit öffneten, sähen wir "den Alten" in lässiger Rücklage am Flügel sitzen, rundum ein Sinnbild selbstbewusster und selbstzufriedener Bürgerlichkeit. So käme es jedenfalls dem heutigen Betrachter vor, obschon ja die Klänge, die der alte Brahms seinem Instrument entlockte, kaum mehr auftrumpfen, sondern weit entrückt scheinen und zugleich in intimste Gefilde reichen. Peter Gülke spricht denn auch vom "unöffentlichen Charakter" der späten Klaviermusik. Brahms gab sie als eine Flaschenpost auf, die Schönberg entkorkte.

    Dem späten, monologisierenden Brahms ging der erfolgreiche voraus. Nachdem ihn so lange der Selbstzweifel geplagt und die Ignoranz insbesondere des heimischen Hamburger Publikums geschmerzt hatte, war aus ihm in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als er endgültig nach Wien zog, ein angesehener und enthusiastisch gefeierter Komponist geworden. Der Verleger Simrock soll ihm die Bude eingerannt haben, um noch das letzte beschriebene Notenblatt zu ergattern, das inzwischen gutes Geld wert war.

    Brahms Musik war eine vom bürgerlichen Konzertpublikum geschätzte Kunst und ist dies immer noch. Eine "Bürgerkunst", die mit mächtigem Chorgesang, prallem Orchesterklang, walzerseligen Liebesliedern und kammermusikalischen Raffinessen die in Kontoren und Bilanzen erkalteten Herzen erwärmte. Am Ende passte sogar das zu Beginn seiner Laufbahn gescholtene allzu Komplizierte seiner Musik, ihr polyphoner Charakter, bestens zur bürgerlichen Attitüde vermeintlicher Kunstkennerschaft. Man konnte für Brahms in hohen Tönen schwärmen, gelehrt über ihn debattieren, Anekdoten streuen über sein Junggesellentum und darauf vertrauen, dass ein Brahms-Konzert den Appetit auf ein gutes Abendessen noch steigerte.

    An dieser Entwicklung trug er selbst die geringste Schuld. Brahms war der Erfolg immer suspekt gewesen. Er misstraute einer Zuhörerschaft, die stolz war auf ihr borniertes Kunsturteil, das immer erst nach langem Kampf erschüttert werden konnte, nur damit aus dem Neuen sogleich die nächste Trutzburg entstand. Brahms weigerte sich, solch einem Publikum die Annäherung an sein Werk zu erleichtern. Mit der Folge, dass sein Durchbruch umso gewaltiger ausfiel, als er endlich erfolgte.

    Wir müssen bedenken, dass es damals zu einem unlösbaren Konflikt gekommen war. Im 18. Jahrhundert hatte das bürgerliche Publikum eine recht solide Einheit gebildet, die im 19. Jahrhundert sogar noch anzuwachsen schien, weshalb Monumentalbaumeister wie Gottfried Semper ihrer Zeit immer größere Konzert- und Opernhäuser offerierten. Dem widersprach, dass die zunehmend erbittert geführten Richtungskämpfe in der Kunst, das Auftauchen der Boheme, der Avantgarden und anderer Subkulturen dafür sorgten, dass das bürgerliche Publikum an den Rändern zu bröckeln begann und seine Einheit verlor. Plötzlich erhielt es Konkurrenz durch Expertenmilieus, die skandalträchtige Kunstausstellungen, Theateraufführungen und Konzerte besuchten. Der von Schönberg 1918 gegründete "Verein für musikalische Privataufführungen", der laut Satzung "Künstlern und Kunstfreunden eine genaue Kenntnis moderner Musik" verschaffen sollte, bot hierfür ein prominentes Beispiel.

    Zu Zeiten von Brahms kam es zur ersten nachhaltigen Aufsplitterung des bürgerlichen Musikbetriebs durch das Auftreten der Neudeutschen um Franz Liszt und Richard Wagner. Die Musik eines Schubert, Schumann, Carl Maria von Weber oder Mendelssohn hatte die ästhetische Identität der Bürgerkunst herausgefordert, aber noch nicht gefährdet. Die Romantiker sahen Beethoven als einen der ihren an. Rausch und Wahnsinn boten zwar extreme Fluchtpunkte, doch keine Alternative zur herrschenden Kultur. Man spielte ein wenig verrückt und orientierte sich dabei an E.T.A. Hoffmanns bizarrer Kunstfigur des Kapellmeisters Johannes Kreisler.

    Manch einer wurde tatsächlich verrückt, wie Robert Schumann, der Komponist der Kreisleriana. Fakt ist dennoch, dass all die Grillen, Schnurren und Verdrehtheiten der bürgerlichen Welt nichts anhaben konnten. Sie folgten ihr wie gespenstische Schatten. Erst mit Wagner begann sich die Bürgerkunst aufzuspalten. Plötzlich gab es zwei Parteien von Musikliebhabern, die sich unversöhnlich gegenüber standen. Hinzu kam, dass Wagner und Liszt bereits auf ein neues Publikum spekulierten. In den beiden kündigte sich ein Künstlertypus an, der in Fundamentalopposition zur bürgerlichen Kultur stand und sich mit dem Habitus des Aristokraten, Rebellen und Anarchisten versah.

    Dazu passte auch, dass Wagner Opernmusik komponierte, Brahms aber nicht. Zwar könnte man sagen, einem sicheren Instinkt folgend, kamen sie sich nicht ins Gehege. Da sich aber das Genie nichts verbieten lässt, sollten wir besser folgern: So wie der eine genuiner Opernkomponist war, war der andere geborener Konzertkomponist. Ein Gegensatz, der sich zudem mit antagonistischen ästhetischen Positionen verschärfen ließ. Brahms war trotz seiner vielen Liedkompositionen ein Verfechter der "absoluten Musik" und damit der Idee, dass erst die vom Wort befreite reine Tondichtung die Musik zur Kunst emanzipiere. Wagner hingegen nannte in polemischer Absicht nur die Künste absolut, die aus dem Gesamtkunstwerk Oper heraus gebrochen wurden. Der Musikwissenschaftler Carl Dalhaus schreibt:

    "Wagner verstand das Musikdrama, das er nicht beim Namen nennen mochte, als Konsequenz aus dem Shakespeareschen Theater und der Beethovenschen Symphonie. In der Abspaltung der Künste voneinander, die er einerseits, gestützt auf antikisierende Theoreme, rückgängig machen wollte, erkannte er andererseits die Voraussetzung einer reichen kunsttechnischen Entwicklung, von deren Resultaten er zehrte."

    Wagner deutete die "Abspaltung der Künste" als eine Absolutierung, die trotz der ästhetischen Potenziale, die sie in Dichtung und Musik freisetzte, einen großen Verlust mit sich brachte, der erst durch die Wiedervereinigung der Künste wettzumachen war. Während Brahms die Autonomisierung der Musik fortsetzte und besonderen Ehrgeiz auf die Komposition von Orchesterwerken verwendete, erklärte Wagner die Wiedervereinigung von Musik und Literatur zu seiner Aufgabe. Der tosenden Stille des Konzertsaals konfrontierte er die Stürme seiner Musikdramen, in deren klang- und wortreichen Fluten die verhasste bürgerliche Welt samt ihrem Gut und Geld wie der Schatz der Nibelungen im Rhein versinken sollte.

    Wer monumentale Opern komponiert, zudem alle Libretti selber dichtet und sich schließlich sein eigenes Theater erwirkt, verfügt fraglos über eine unbändige Produktivität. Da wundert es nicht, dass so einer auch Liebschaften hat, viele Kinder zeugt und manches Gesetz übertritt. Wagner machte mit ästhetischen Konventionen kurzen Prozess, war ein steckbrieflich gesuchter Rebell und dreister Ehebrecher. Er legte an sich andere moralischen Maßstäbe als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen. Auch neigte er mit den Jahren zu einem aristokratischen Lebensstil, lebte weit über seine Verhältnisse und machte horrende Schulden.


    Ganz anders sein Antipode Brahms: Der gab sein Geld großzügig an Bedürftige weiter: an seinen Vater, an Clara Schumann oder Antonin Dvorák, der aus noch ärmlicheren Verhältnissen stammte. Brahms lebte bescheiden, blieb Zeit seines Lebens Single, liebenswerter Kauz und unabhängiger Künstler. Höchst produktiv war natürlich auch er, wenngleich verschwenderisch eher in den kleinen statt den großen Formen: Brahms komponierte keine Oper, zeugte keine Kinder, kam nicht mit den Gesetzen in Konflikt, er brach allenfalls das eine oder andere Herz, nie aber die Ehe.

    Immer hat er den Abstand respektiert, den ihm die verheiratete Clara diktierte. Und so entstünde zu guter Letzt das Bild eines durch und durch noblen Charakters und anständigen "Kunstbürgers", wenn uns nicht seine Freunde auch Bedenkliches überliefert hätten. Bekannt ist der Stoßseufzer des Geigenvirtuosen Joseph Joachim, Brahms sei ein "eingefleischter Egoist". Etwas milder fiel das Urteil des angesehenen Chirurgen Theodor Billroth aus, der ebenfalls intensiven Umgang mit dem Komponisten pflegte:

    "Mir bleibt es immer ein interessantes Rätsel, das ich nicht zu lösen vermag, ich finde die Brücke zwischen dem tiefen Ernst und der Weichheit seines Wesens - zu dem läppischen Benehmen auch in ernsten Kreisen nun einmal nicht. Eine gewisse Freude an Frotzelei, selbst eine Art Schadenfreude ist ihm Bedürfnis: es mag ein Rest von Bitterkeit sein, der ihm von früher Jugend geblieben ist, als er verhöhnt wurde mit Kompositionen, die er mit seinem Herzblut geschrieben hat. Er macht es einem recht schwer, ihn lieb zu behalten!"

    Von vielen wurde beklagt, was man mangelnde Herzenswärme nennen könnte. Auch seine Unnahbarkeit, die Tatsache, dass Brahms über seine innersten Gefühle nicht sprach, befremdete enge Freunde. Andererseits richtete er sich ja nicht nur mit seiner Musik, die in den zahllosen Kleinformen privaten Charakter annimmt, an die Mitwelt, sondern bekundete zudem ein immenses Mitteilungsbedürfnis in mehr als 10.000 Briefen! Vielleicht muss man ja sein brüskes Verhalten der norddeutschen Herkunft anlasten. Doch was hat es mit dem "läppischen Benehmen" auf sich, von dem wir ebenfalls durch Billroth erfahren haben?

    Außerordentlich läppisch musste dem achtbaren Chirurgen der Umstand anmuten, dass sich Brahms für Bleisoldaten begeisterte. Damit spielte er schon als kleines Kind und wäre wohl selbst gerne mehr als einmal ein standhafter Zinnsoldat gewesen, wenn ihn die wilden Nachbarjungs als Milchbübchen und Muttersöhnchen verhöhnten. Der kleine Johannes war sehr ängstlich und fiel überdies durch eine allzu hohe Stimme auf. Wie der Bart im Alter, so sollten die Soldatenfigürchen in den Jahren zuvor belegen, dass der zart besaitete Musiker über männliche Tugenden verfügte. Die Wahrheit ist dennoch, dass er ein verzärteltes Kind blieb. Als er sein Glück schon in der weiten Welt suchte, mahnte ihn die rührend besorgte Mutter:

    "Schreib es uns ja, wenn Du kommst, wir wollen Dir Schokolade besorgen und Theater-Billette aufbewahren, Eier besorgen für Punsch ... und kämst Du bald, koche ich Johannisbeergrütze, Pickbeerpfannekuchen ... schreibe es mir, welche Sorte bleierne Soldaten ich Dir schicken soll, damit Du sie mal aufstellst."

    Offenbar hatte Brahms von Zuhause nicht nur Bücher mitgenommen! Darum war er auch in der Lage, der nicht wenig amüsierten Clara bei passender Gelegenheit seine Bleisoldaten zu präsentieren. Zusammen mit der Tatsache, dass er sich auf dem Höhepunkt seiner Verliebtheit eine Trompete kaufte, um ordentlich Lärm machen zu können, ergibt sich daraus das Bild eines nicht läppischen, aber infantilen Menschen. Beinahe möchte man ihn in Erinnerung der naiven Jünglinge, die die romantische Literatur durchgeistern, einfältig nennen, doch trifft das die Sache nicht. Genaueren Aufschluss gibt die Tatsache, dass er sich über einen langen Zeitraum hinweg mit dem Kapellmeister Kreisler identifizierte, den er sogar als Pseudonym gebrauchte.

    Es war nicht nur der gleiche Vorname, der ihn an diese geheimnisvollste Romanfigur E.T.A. Hoffmanns fesselte. Im Genie, dem Übermut und den Tollheiten des Johannes Kreisler, der seine Mitwelt fasziniert und entsetzt, glaubte der junge Brahms eine tiefe Wesensverwandtschaft entdeckt zu haben. Kreisler schien sein Alter Ego zu sein und die Freunde akzeptierten bereitwillig diesen Rollentausch und nannten ihn unter sich den "blonden Kreisler".

    Die Tarnkappe des "liederlichen Musikanten" ermöglichte zweierlei: zum einen half sie Brahms, seine kleinbürgerliche Herkunft zu verbergen, die Schuld war an seiner Unsicherheit in der großen Welt; und zum zweiten erlaubte sie die Wut, die sich in ihm aufstaute, solange er als Künstler keine Anerkennung fand, in allerlei Spötterei und Mutwillen zu verwandeln. Das führte beispielsweise dazu, dass er bei einem Ausflug vor den entsetzten Augen seines Hamburger Frauenchors auf einen Baum kraxelte, um die Damen der Gesellschaft von diesem schwankenden Olymp herab zu dirigieren:

    Neue Liebeslieder op. 65, 15 Walzer für Chor und Klavier für vier Hände, Nr. 6 "Rosen steckt mir an die Mutter", WDR Rundfunkchor Köln

    "Rosen steckt mir an die Mutter, / weil ich gar so trübe bin. / Sie hat Recht, die Rose sinket, / so wie ich, entblättert hin."

    Dieses Gedicht von Georg Friedrich Daumer und viele weitere, die unter dem Titel "Neue Liebeslieder" op. 65 vertont wurden, entdeckte zwar Brahms erst in seiner Wiener Zeit, dennoch können wir davon ausgehen, dass ihm früh schon solch traurige Zeilen zu Herzen gingen. Sie bildeten einen wichtigen Kontrast zu seinen jugendlichen Possen, die mit fortschreitendem Alter einer stillen Religiosität Platz machten. Der verrückte Kreisler in ihm wurde vom Glauben an die Unsterblichkeit der Seele besiegt. Beredte Kunde geben hiervon die aus beiden Testamenten gewählten Texte des "Deutschen Requiems", das 1868 in Bremen uraufgeführt wurde.


    Am Ende sank Brahms selbst dahin wie eine entblätterte Rose. Clara Schumann hatte 1896 einen Schlaganfall erlitten und starb wenig später im Alter von 76 Jahren. Brahms überlebte ihren Tod nur um elf Monate. Hatte er sich zuvor stets bester Gesundheit erfreut, begann er nun zu kränkeln. Zunächst sprach man von Gelbsucht, dann stellte sich die Diagnose Leberkrebs heraus. Ab März 1897 musste er das Bett hüten. Schwächeanfälle, Darmblutungen und hohes Fieber machten ihn apathisch. In der Tagebuch-Eintragung des Arztes finden sich seine letzten Worte:

    "Der Kranke setzte sich mit ganz geringer Unterstützung fast vollständig auf, fasste das Glas mit beiden Händen und trank es in ein paar langsamen Zügen aus. Dann sagte er, tief aufatmend und mit einem Ausdruck aufrichtigen Behagens: 'Ach, das schmeckt schön!'"