Ein offizielles Foto des Elysée-Palastes zeigt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seinem Arbeitszimmer. Alles ist sorgsam symbolträchtig arrangiert. Auf Macrons Schreibtisch liegen drei Bücher. Eines davon sind die Memoiren von Charles de Gaulle. Fünfzig Jahre nach seinem Tod ist "der General" also immer noch präsent. Kein Wunder: Er hat das heutige Frankreich tief geprägt.
Über de Gaulle zu lesen heißt deshalb, Frankreich zu erkunden. Und es gibt kaum bessere Gesellschaft bei solchem Spaziergang als Johannes Willms. Der gewandte Feuilletonist, Historiker und Mitbegründer des Literarischen Quartetts, hat bereits mehrere Bücher über große Franzosen geschrieben. Nun also de Gaulle. Der glaubte, so Willms,
"Frankreich sei zu einem bedeutsamen, außergewöhnlichen Schicksal bestimmt, weshalb er die Gewissheit hege, die Vorsehung habe das Land für atemberaubende Erfolge oder beispielloses Unglück ausersehen. […] Kurz, ohne Grandeur könne Frankreich nicht Frankreich sein."
De Gaulle, ein Offizier aus der Provinz, hatte sich nach der Niederlage gegen die Wehrmacht mit einer Mischung aus Charisma und Chuzpe kurzerhand zum wahren Frankreich erklärt. Anfangs verkörperte er fast alleine den französischen Widerstand gegen Hitler. Statt sich in die Kollaboration zu fügen, wie die meisten Franzosen, ging de Gaulle ins Exil nach London. Dort lieh ihm Winston Churchill ein BBC-Mikrophon und der General hielt im Juni 1940 mehre Ansprachen, die Geschichte machten. Er bestritt der Regierung Petain das Recht zu kapitulieren und rief alle Franzosen auf, ihm zu folgen:
"Ich fordere die Anführer, die Soldaten, die Matrosen, die Flieger, ich fordere die französischen Kräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft, wo auch immer sie sich aufhalten, auf, sich mit mir zu verbünden. Ich fordere alle Franzosen auf, die frei sein wollen, auf mich zu hören und mir zu folgen! Es lebe das freie, das ehrenhafte, das unabhängige Frankreich!"
Frankreich am Siegertisch
In den folgenden vier Jahren stritt de Gaulle mit unglaublicher Hartnäckigkeit darum, seinem imaginären Empire einen Platz unter den Siegern zu sichern. De Gaulle hatte anfangs nichts: Keine Armee, keine Waffen, keine Organisation. Dass er sich für die neue Jeanne d‘Arc hielt und "une certaine idée de la France" - eine bestimmte Idee von Frankreich vor sich hertrug wie eine Monstranz, beeindruckte teils seine amerikanischen und britischen Alliierten, teils dachten sie, der verstockte Zwei-Meter-Mann sei ein bisschen Plemplem. Eigentlich mehr als ein bisschen.
Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: Frankreich bekam seinen Platz am Tisch der Sieger. Aber Willms beschreibt den politischen Kleinkrieg de Gaulles, seinen Trotz und sein Geschick mit pointierten Details so lebhaft wie ein Bühnenstück. Ebenso scharfsinnig analysiert Willms den Preis, den die "Siegermacht" Frankreich bis heute für de Gaulles Politik bezahlt: So brachte er nach Kriegsende die Kommunisten und Linkssozialisten mit teuren Privilegien dazu, seine erzkonservative Führung anzuerkennen. Diese Spezialkonditionen für den öffentlichen Dienst beschweren das Land bis heute: Hohe Löhne, Ruhestand mit kurz über 50, exorbitante Pensionen. Seit Generationen versuchen de Gaulles Nachfolger das zu korrigieren, in diesen Tagen Macron. Zum Erbe gehört auch de Gaulles verbohrtes Festhalten am Kolonialreich. Während Deutschland in seinen Wiederaufbau investierte, verpulverte Frankreich Milliarden im Indochina-Krieg. Ein Viertel des Staatsbudgets ging dafür drauf.
Nachdem de Gaulle die Weichen gestellt hatte, verließ er 1948 für zehn Jahre die politische Bühne. Das Land entwickelte sich mittelprächtig. Im Sommer 1958 drohte wegen des Algerien-Konflikts ein Militär-Putsch gegen Paris. In dieser Situation besann sich Frankreich abermals seines Retters und rief de Gaulle zurück an die Macht. Er reiste nach Algier und hielt dort vor Zehntausenden Algerien-Franzosen eine Rede, die ebenso zwiespältig wie unvergessen ist: "Ich habe Euch verstanden" rief de Gaulle.
Das war ein trügerischer Trost, denn bald trennte de Gaulle Frankreich von Algerien. Und noch eine Sache ging de Gaulle grundsätzlich an: Deutschland. Willms schreibt:
"Auch wenn außer Frage steht, dass für Frankreich die Lösung des Algerienproblems weitaus größere Bedeutung hatte als die deutsch-französische Aussöhnung, so maß dieser de Gaulle seit seiner zweiten Machtübernahme im Juni 1958 gleichwohl eine erhebliche Bedeutung bei, wie der umsichtige Eifer zeigt, den er […] auf die Verständigung mit dem Nachbarn im Osten verwandte. Für die Wiederannäherung war es eine glückliche Fügung, dass der General in dem rheinischen Zivilisten und Bürger Konrad Adenauer einen geradezu kongenialen Partner hatte."
Alte Konflikte wirken weiter
De Gaulle hatte nach dem Krieg vorgehabt, Deutschland in Kleinstaaten zu zerstückeln. Mit Stalin hatte er noch 1944 einen freundlichen Pakt geschlossen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Geblieben war seine Auffassung, Amerika sei kein Freund, die Nato eine Art Marionette. Sie sei, so zitiert Willms den General,
"nicht die Verteidigung Europas durch Europa. Das ist die Verteidigung Europas durch die Amerikaner. Deshalb braucht es eine andere Nato. Zunächst jedoch gilt es ein Europa zu haben, das seine eigene Verteidigung besitzt. Dann erst muss dieses Europa mit Amerika verbündet sein."
Klingt der heutige Macron nicht fast schon wie de Gaulle, wenn er die Nato als "hirntod" bezeichnet und eine europäische Armee fordert? Die alten Konflikte, die de Gaulle schon ausgefochten hat, sie leben also fort, inklusive gelegentlicher Flirts mit Moskau.
Nicht dass Willms glaubt, man könne unbedingt aus der Geschichte lernen. Aber sein wunderbar geschriebenes Buch, das den Mythos de Gaulle liebevoll ehrt und ihn zugleich in seine Einzelteile zerlegt, gibt zahllose Beispiele für historische Linien im Nachbarland, die in de Gaulle einen Anfang haben. Und so ist Willms Buch "Der General" ein großer Wurf, der - pardon für das Bild - eigentlich unbedingt noch unterm Weihnachtsbaum landen sollte.
Johannes Willms: "Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert",
C.H. Beck Verlag, 640 Seiten, 32 Euro
C.H. Beck Verlag, 640 Seiten, 32 Euro