Dirk-Oliver Heckmann: Zunächst aber zum Tode von Günter Grass. Aus der Weltliteratur ist er nicht wegzudenken. Zeit Lebens hat er sich auch in der Politik eingebracht. Mehrfach ist er für die SPD in den Wahlkampf gezogen. Am Telefon ist jetzt Johano Strasser, ehemaliger Präsident des PEN-Zentrums, ehemaliges Mitglied in der SPD-Grundwertekommission. Herr Strasser, wie ist bei Ihnen die Nachricht vom Tod von Günter Grass angekommen?
Johano Strasser: Ja, das hat mich überrascht und richtig ein bisschen deprimiert, weil ich ihn noch vor Kurzem gesprochen habe und wir, meine Frau und ich, ihn noch vor Kurzem auch gesehen haben, und da war er wie in alten Zeiten. Es war ja immer so ein Spruch unter uns, dass Kaschuben durch nichts umzubringen sind. Das war offenbar ein Irrtum, ja.
Heckmann: Günter Grass gilt ja als Großmeister der deutschen Literatur, auch der Weltliteratur. Was war aus Ihrer Sicht das Besondere?
Strasser: Ich habe ihn mit provinzieller Verspätung als Schriftsteller kennengelernt. Das war im Jahr 1961, als „Katz und Maus" herauskam und in der Presse überall von Pornographie, Blasphemie, Nihilismus zu hören war und zu lesen war, und für mich, der ich auch damals schon nicht sehr gefestigt war im Glauben an die abendländischen Autoritäten, waren das lauter Empfehlungen. Da habe ich „Katz und Maus" gelesen und mir dann von einem literarisch gebildeteren Studienkollegen „Die Blechtrommel" geliehen und bin dann Grass-Leser geworden. Persönlich habe ich ihn dann 1971 oder '72, muss es gewesen sein, kennengelernt, als ich zum Rektor einer Fachhochschule gewählt wurde und der Senat, damals dominiert von der SPD in Berlin, nicht mich berufen wollte. Da rief er an bei mir und sagte, Du hast ein Problem, ich habe Rotwein, komm doch mal rüber. Na ja, und so haben wir uns kennengelernt. Daraus ist eine Lebensfreundschaft geworden. Ich habe immer bewundert an ihm, dass jemand wie er, dem jede Form des anthropologischen oder universalgeschichtlichen Optimismus, selbst noch das Blochsche Prinzip Hoffnung zutiefst suspekt war, dass er als Skeptiker, der sich die Schnecke zum Wappentier und den Camusschen Sisyphos zum Hausheiligen erkoren hatte, dass so jemand sich so hartnäckig für Reformen und Veränderungen in Deutschland und auch in der SPD einsetzen konnte. Das hat mir großen Eindruck gemacht. Ich habe sehr viele politische Veranstaltungen mit ihm zusammen gemacht. Wir haben zusammen eine Zeitschrift gemacht, in der die Dissidenten des ganzen Ostblocks, die ganze Bürgerbewegung in der DDR schrieb, weshalb es auch so absurd war, dass ihm nach der Publizierung des Buches „Ein weites Feld" unterstellt wurde, er hätte kein Herz für die Menschen im Osten. Als andere sich noch überhaupt nicht darum kümmerten, hat er in seinem Haus aus der DDR zwangsausgesiedelte Schriftsteller beherbergt. Er hat sich in dieser Zeitschrift mit anderen, mit Böll und Carola Stern, zusammen um diese Menschen gekümmert.
Er ist in vieler Hinsicht missverstanden worden. Es ist richtig, er hat sicherlich auch hier und da Missverständnisse provoziert. Er war ein kämpferischer Mensch, der kaum einem Mikrofon aus dem Wege ging, und da ist dann auch manches Mal etwas so angekommen, wie er es vielleicht nicht wollte. Aber ich glaube, dass er der Typus des politisch intervenierenden Intellektuellen und Schriftstellers war, wie wir ihn dringend brauchen und leider kaum noch haben.
"Ich habe um die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS sehr lange gewusst"
Heckmann: Herr Strasser, erst sehr spät hat sich Günter Grass zu seiner Mitgliedschaft bei der Waffen-SS bekannt. Hat dadurch sein Ruf aus Ihrer Sicht Schaden genommen?
Strasser: Nein, aus meiner Sicht überhaupt nicht, weil ich das schon lange wusste. Ich habe ja mit ihm zehn Jahre zusammengelebt, quasi in einer Art Wohngemeinschaft in Berlin, und er hat mir schon sehr früh gesagt, wenn Du wüsstest, welche Uniform ich mal getragen habe als junger Mann. Ich habe auch erlebt, wie er in der Auseinandersetzung schon zur 68er-Zeit mit den linksradikalen Studenten, die es ja da auch gab, die ganz verrückten Theorien anhingen, immer wieder gesagt hat, ich selbst bin mal einer Ideologie erlegen als junger Mann, macht nicht selbst den Fehler noch einmal. Für mich war das überhaupt keine Überraschung. Für mich war das eine Sache, die ich aus seinem Munde sehr, sehr häufig gehört habe. Ich glaube auch, dass sehr viele gern den Vorwand benutzt haben, dass das nun in seiner Autobiographie drinstand, um Rechnungen zu begleichen, die mit ganz anderen Dingen zu tun hatten.
Israel-Gedicht war "großer politischer Fehler"
Heckmann: Günter Grass wurde auch Antisemitismus vorgeworfen, nachdem er 2012 dieses Gedicht veröffentlicht hat, "Was gesagt werden muss", mit heftiger Kritik an der Politik Israels. Wie sehr hat ihn das getroffen?
Strasser: Es hat ihn sehr getroffen. Das Gedicht war auch schlecht. Es hat auch große politische Fehler. Er hat es mir nicht vorher gezeigt und ich habe ihn ja auch öffentlich verteidigt, weil der Vorwurf des Antisemitismus bei ihm völlig absurd ist. Er ist überhaupt kein Antisemit. Im Gegenteil: Er hat sich immer für das Existenzrecht Israels ausgesprochen. Er hat sich gegen jede Form des Rassismus, auch des Antisemitismus immer sehr deutlich ausgesprochen. Aber das Gedicht war missverständlich und ich habe ihm auch gesagt, Günter, warum hast Du das mir nicht vorher gezeigt, ich hätte Dir sagen können, man darf nicht, wenn man die israelische Regierung meint, Israel schreiben, und man darf auch nicht die Atomrüstung in Israel missverstehen als eine Erstschlagskapazität, was sie nicht ist, sondern sie ist tatsächlich als Zweitschlagskapazität gedacht und so weiter. Das hat er schließlich auch dann wohl eingesehen. Aber die Kampagne, die dann losgetreten wurde, hat wiederum mit ganz anderen Dingen zu tun gehabt.
Heckmann: Günter Grass ist heute verstorben - wir haben darüber gesprochen mit Johano Strasser, ehemals Präsident des PEN-Zentrums. Danke Ihnen, Herr Strasser, für dieses Gespräch.
Strasser: Bitte sehr.
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