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John Banville
Umkehrung des Lolita-Motivs

Eine verheiratete Frau beginnt eine Affäre mit einem 15-Jährigen. Es ist ihre letzte und seine erste Liebe, die einen Sommer lang währt. John Banvilles Roman "Im Lichte der Vergangenheit" fröhnt einer eleganten Sprach- und Bilderlust - und bleibt dabei problematisch.

Von Ulrich Rüdenauer |
    Eine Frau schaut durch ein Schlüsselloch.
    Ein folgenreicher, gebrochener, voyeuristischer Blick. (picture alliance / dpa)
    Die Details in John Banvilles neuem Roman, übersprudelnd und unbändig, beginnen vernehmlich zu sprechen. Der Teppich ist blassblau oder vielleicht auch blaugrau gestreift, die Dielen glänzen wie "angelutschte, klebrige Karamellbonbons", der Sessel wirkt wie auf dem Sprung, "als sei er im Begriff, sich grollend aufzumachen"; die Stehlampe verbirgt ihr Gesicht unter einem Chinesenhut. Im Kamin wispert der Wind.
    "Was doch die Welt für Selbstgespräche führt, auf ihre eigene Weise, so verträumt und heimlichtuerisch."
    Der Mittsechziger Alex Cleave erinnert sich an seine Jugendzeit, so, als müsse er sich sein Leben noch einmal erfinden. Ein sehr vertrauenswürdiger Erzähler ist er nicht. Er verliert sich in den Details, aber das Wesentliche bleibt ihm oft merkwürdig vage oder dunkel. Ob er Mrs Gray das erste Mal begegnet ist, als sie ihm auf dem Fahrrad entgegenkam? Genau entsinnt er sich zumindest, dass die Frau auf dem Rad einen Gabardineregenmantel trug, einen blauen Pullover, aus dem eine weiße Bluse herausschaute – und einen Rock, der vom Frühlingswind hochgehoben wurde, sodass der Blick des Pubertierenden die Taille erspähen konnte. Aber ob es wirklich Mrs Gray, die Mutter seines liebsten Schulfreundes Billy, war?
    Jahre später wird er ihr wiederbegegnen, im Haus der Grays mit dem blassblauen Teppich und den dunkelbraunen Dielen. Ein folgenreicher, gebrochener, voyeuristischer Blick. Der 15-jährige Alex streift durch das Heim seines Freundes, lugt in ein Zimmer hinein und sieht in einem dreiflügeligen Spiegel die 20 Jahre ältere Frau, nackt, mit "krisseliger" Haut, "stumpf" glänzend, ein altmeisterliches Gemälde:
    "Was sich mir darbot, war ein Triptychon von ihr, ein Körper, der gleichsam zergliedert war, besser gesagt, zerlegt. Der Mittelteil des Spiegels, also des Spiegels der Frisierkommode, wenn es denn eine solche war, bildete den Rahmen für ihren Torso, Brüste und Bauch und weiter unten die verwischte dunkle Stelle, während die Seitenflügel ihre Arme und die seltsam verbogenen Ellenbogen zeigten. Irgendwo oben war ein Auge, das mich unverwandt und leicht herausfordernd fixierte, als ob es sagen wollte 'Ja, hier bin ich, und was sagst du nun zu mir?' Ich weiß wohl, dass dieses verworrene Arrangement sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich ist – zum einen hätte sie ganz nah dran und unmittelbar vor dem Spiegel sitzen müssen, mit dem Rücken zu mir, damit ich sie so reflektiert sehen konnte, aber sie war ja gar nicht da, es war ja nur ihr Spiegelbild."
    Ob der kurze Blick "auf eine fragmentierte Frau" in dieser Form tatsächlich stattgefunden hat? Der Erzähler in John Banvilles Roman "Im Lichte der Vergangenheit" zieht seine Begegnungen mit seinem früheren Ich immer wieder selbst in Zweifel.
    "Zeit und Erinnerung sind in der Tat ein pingeliges Team von Innenausstattern, in einer Tour am Möbelrücken, ständig werden die Zimmer neu eingerichtet und sogar neu eingeteilt."
    Der Literaturwissenschaftler James Wood schrieb einmal über Vladimir Nabokov, dieser wolle uns immerzu klarmachen, wie wichtig es sei, zu beobachten. Nabokovs Prosa gerate zur Propaganda für genaues Beobachten und folglich zur Eigenpropaganda. Das trifft in höchstem Maße auch auf den irischen Romancier und Literaturkritiker John Banville zu. Die Details verführen und verlocken zwar, den Darlegungen des Erzählers unumwunden zu glauben. Aber manchmal verhindern sie den Blick auf das Unsichtbare, auf das, was sich nicht in girlandenhaften Beschreibungen ausdrücken lässt.
    Diese kunstfertige, höchst elegante Sprach- und Bilderlust ist im Übrigen nicht das einzige, was ihn mit Nabokov verbindet: In Banvilles brillantem und zugleich auch problematischem Roman "Im Lichte der Vergangenheit" finden wir eine Umkehrung des Lolita-Motivs. Die Frau im Spiegel, die verheiratete Mrs Gray, beginnt eine Affäre mit dem jungen Alex. Es ist ihre letzte und seine erste Liebe, die einen Sommer lang währt – eine erotische Erweckung und euphorisierende Erfahrung, eine gewaltige Sprachinitiation, lyrisch und schwelgerisch, mit allerlei rhetorischen Kniffen, die auch in der bravourösen Übersetzung von Christa Schuenke noch schillern und klingen. Die leicht klischeehafte Liebelei von Mrs Gray und Alex Cleave mit heimlichen Treffen im Waschkeller, auf dem Rücksitz des Familienautos oder auf dem Fußboden eines verfallenen Hauses ist natürlich ein Skandal; sie wäre es schon, wenn sie sich nicht im katholischen Irland der 50er-Jahre ereignen würde.
    Fünfzig Jahre später, sich an diese glücklich-aufregenden Tage erinnernd, rätselt Alex Cleave, warum Mrs Gray dieses Wagnis eingegangen ist. Wie sie so leichtsinnig sein konnte, ihm, dem pickligen Jungen, ihren vom inzwischen alten Erzähler äußerst barock und nuancenreich geschilderten Körper darzubieten. Und er stellt seltsam berührt fest, dass er, der noch immer den Geruch seiner Liebhaberin schwärmerisch heraufbeschwören kann, nur sehr wenig von dieser Frau weiß – und sie nie wieder gesehen hatte, nachdem das Verhältnis aufgeflogen war.
    Ein Buch über das Erinnern
    "So oft erscheint einem die Vergangenheit wie ein Puzzle, bei dem die wichtigsten Teile fehlen."
    John Banville, der hierzulande mit seinem Booker-Prize gekrönten Roman "Die See" erst richtig bekannt wurde, hat nicht zum ersten Mal ein Buch über das Erinnern geschrieben, über die Unzugänglichkeit des Erinnerten, die Unzulänglichkeit des Gedächtnisses. Über einen älteren Mann, der sich in seine frühen Jahre verheddert, im Bewusstsein des großen zeitlichen Abgrunds, der sich zwischen gestern und heute aufgetan hat. Eine Recherche ist das auch in den inneren Abgründen. Einmal stolpern, etwas unbeholfen, die Namen Marcel und Odette durchs Buch, denn unter Proust macht es Banville nicht, wenn es um die Suche nach der verlorenen Zeit geht. "Im Lichte der Vergangenheit" ist darüber hinaus – wie Prousts Recherche natürlich auch – ein Buch über die Trauer, und zumal eines über den Tod. Jener Alex Cleave nämlich hat eine Vorgeschichte, und er ist dem Banville-Leser kein Unbekannter. Er tauchte bereits in zwei anderen seiner Romane auf: "Im Lichte der Vergangenheit" ist der Abschluss einer Trilogie, zu der noch "Sonnenfinsternis", auf Deutsch im Jahr 2002 erschienen, und "Caliban" von 2004 gehören.
    Schon einmal, in "Sonnenfinsternis", war die auch um schmierenkomödiantische Manierismen keinen Bogen machende Stimme Alexander Cleaves zu vernehmen: Der Monolog eines mit 50 Jahren gescheiterten Bühnenschauspielers, den während einer Inszenierung von Kleists "Amphitryon" eine Art Black Out ereilt. [Er zieht sich ins Elternhaus am Meer zurück und gibt eine nicht unbedingt sympathische Beckettsche Figur, die in einem Strudel aus Vergangenheit und Gegenwart versinkt.]
    Zu seinem Leben gehört auch Tochter Cass, eine hochbegabte, hochdepressive junge Frau, die wiederum in "Caliban" ins Zentrum rückt – neben dem Literaturwissenschaftler Axel Vander, einer nach dem Dekonstruktivisten Paul de Man geformten Gestalt, deren dunklem Geheimnis Cass auf die Spur gekommen ist. Die beiden treffen sich in Turin, sie werden ein Liebespaar, und am Ende stürzt Cass – im dritten Monat schwanger – die Klippen an der ligurischen Küste hinab.
    Es ist dieser Tod, dessen Schatten über dem neuen Roman Banvilles liegt, sowohl die Erinnerungsorgien von Alex Cleave in Gang setzt als auch die höhlenartige Zurückgezogenheit seiner Frau Lydia erklärt.
    "Ich glaube, ich weiß, was Lydia peinigt, neben jenem durch nichts zu lindernden Schmerz, den sie all diese zehn langen Jahre, seit unsere Tochter starb, in ihrem Herzen nährt. Lydia hat nie an irgendwelche kommenden Welten geglaubt, genauso wenig wie ich, aber ich habe den Verdacht, sie befürchtet, ein grausames Schlupfloch in den Gesetzen von Leben und Tod könnte dafür gesorgt haben, das Cass nicht ganz gestorben ist, sondern irgendwie noch existiert, gefangen im Lande der Schatten, und dort leidet, die Hälfte der Granatapfelkerne noch im Munde, und vergebens wartet, dass ihre Mutter kommt und sie zurückfordert, damit sie wieder bei den Lebenden sein kann."
    Heraufbeschwören einer fadenscheinige Vergangenheit
    Das Buch ist wunderbar, wenn es die beiden Trauernden in ihrer Trauer zeigt: Alex, der auf dem Dachboden, dem Himmel nah, der Vergangenheit nachsinnt; die blasse, kaum in Erscheinung tretende Lydia, die in ihrer Küche wie ein guter Geist auf etwas nie Wiederkehrendes wartet. Die Toten seien eine "dunkle Materie", sagt Cleave, unfühlbar füllten sie die leeren Räume der Welt. Er wird umschwebt von Gespenstern. Mrs Gray, die ehemalige Geliebte, ist ihm näher als seine Frau, die stets mit mitleidigen Adjektiven umschrieben wird – "die arme Lydia".
    Die gestorbene Cass kehrt in Gestalt einer jungen, ebenfalls labilen Schauspielerin zurück: Auf der Gegenwartsebene von Banvilles Roman nämlich erhält Alex Cleave das überraschende Angebot, in einem Film mitzuspielen – die erste Filmrolle überhaupt für den abgedankten Bühnenstar. Und hier offenbart sich nun auch das Problem von "Im Lichte der Vergangenheit", vielleicht von Banvilles Schreiben überhaupt: Er überlädt seine Geschichte, überdehnt seine Erzählung, schraubt sie mit postmodern anmutenden Wendungen ins mysteriös Existenzielle, macht aus ihr einen Tagtraum, eine Farce. Der Film nämlich handelt von dem Literaturwissenschaftler Axel Vander, eben jener dubiosen Figur, die, ohne dass Cleave davon Kenntnis hat, im Leben seiner Tochter eine bedeutsame Rolle spielte.
    Die anagrammatischen Brüder Alex und Axel – sie tauschen die Rollen, ein geistig-komödiantischer Inzest sozusagen. Doppelungen und Spiegelungen waren immer schon ein beliebtes literarisches Werkzeug des Romantik-Kenners John Banville; sie bringen fragmentierte Teile einer Geschichte zum Vorschein, die sich am Ende zumindest kaleidoskopartig zusammenfügen. Im riesigen Referenznetz verfängt fast jeder Satz. Und dann erlaubt sich John Banville noch einen Spaß mit sich selbst und seinen Kritikern. Cleave liest eine Biografie über Axel Vander, sie stammt von einem gewissen JB. Das Buch erscheint ihm sehr fragwürdig:
    "Rhetorisch bis zum Äußersten, dramatisch höchst elaboriert, ganz und gar unnatürlich, künstlich und verklumpt, ein Stil, wie abgefeilt [– le mot juste! – von einem kleinen höfischen Beamten aus Byzanz, einem ehemaligen Sklaven, sagen wir mal, dem von seinem Herrn gnädig gestattet worden war, sich freizügig in dessen ebenso umfangreicher wie bunt zusammengewürfelter Bibliothek zu bedienen, eine Freiheit, von der der arme Kerl allzu eifrig Gebrauch gemacht hat.]"
    Das sind fast wörtlich Vorwürfe, mit denen der mit Eitelkeit und Selbstbewusstsein nicht zu knapp gesegnete JB - John Banville - in den letzten drei Jahrzehnten seines Schreiberlebens manches Mal bedacht wurde. Ein Witz. Zugegeben: ein intelligenter Witz. Aber vielleicht doch einer zu viel.
    All das vermag jedoch die literarische Wucht dieses Romans nicht zu mindern, die fulminante Fähigkeit Banvilles, das fadenscheinige Vergangene heraufzubeschwören, die Freude an assoziativ leicht scheinenden, aber natürlich genau gearbeiteten Motivlinien und Lichtmetaphern, auf die auch schon der Originaltitel "Ancient Light" verweist. Die gebrochen gespiegelte Erinnerung an Mrs Gray hat einen großen erzählerischen Zauber, und die unvollkommene, aufgeladene Vergegenwärtigung der fünfziger Jahre und des Kleinstadt-Milieus wirken reizvoll und bestechend. Es sind oft die Kleinigkeiten, auf die es zu achten gilt und die dem Bild seinen Reichtum verleihen. So erwähnt der Erzähler etwa an einer einzigen Stelle den Vornamen von Mrs Gray: Celia. Celia ist die Patronin der Gaukler und Schauspieler. Die Liebhaberin wird also nicht nur zum erotischen Leitstern, sondern auch zur Wegweiserin in die Welt des Scheins. Wenn man es genau bedenkt: Schon der 15-Jährige, zwischen Kindlichkeit und Frühreife oszillierend, übt sich im Spielen von Rollen, er täuscht und verstellt sich, um seinen Willen durchzusetzen. Und mit demselben akribischen Sprachwillen versucht er uns nun hinters "ancient light" zu führen.
    John Banville: "Im Lichte der Vergangenheit"
    Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2014. 333 Seiten. 19,99 Euro.