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John Cage am Schauspiel Zürich
44 Arten der Entmündigung

Vor Jahren entdeckte der Regisseur Christoph Marthaler eine unbekannte Komposition von John Cage mit dem schwer verständlichen Titel "44 Harmonies from Apartment House 1776". Cage wollte anarchische Harmonie. Marthalers Inszenierung mündet in ein Porträt Europas als sinnfreies, leeres Ritual.

Von Cornelie Ueding |
    Der US-amerikanische Komponist John Cage (1912 – 1992) zeigt ein Foto von sich aus den frühen 80er-Jahren
    Der US-amerikanische Komponist John Cage (1912 – 1992) zeigt ein Foto von sich aus den frühen 80er-Jahren (imago/Leemage)
    Wie in einem leeren Ritual gefangen geistern acht Figuren gemessenen Schrittes durch einen gewaltigen, in die Tiefe gehenden Versuchsraum. Sie formieren sich zu zeremoniell anmutenden Verbeugungen voreinander und, gestützt und begleitet von vier Cellistinnen und einem Pianisten, zu chorartigen Gruppierungen. Bisweilen wagen sie dann schon mal erste Versuche in Richtung der angestrebten "Harmonielehre"- gelegentlich streiten sie wieder, lautstark und über weite Entfernungen hinweg, oder telefonieren ins Leere. Plötzlich bilden sie dann, wie aus dem Nichts, einen fröhlichen Shantychor: eine harmonische Gemeinschaft aus Alten und Jungen, sportiven und auch ungelenken Wesen verschiedener kultureller und sprachlicher Herkunft.
    Frustriert in der Schmoll-Ecke
    Doch die Euphorie verschwindet ebenso rasch, wie sie entstand. Aus Gemeinsamkeit wird Konkurrenz, die in einem absurden Wettbewerb endet: Das anfangs frisch-fröhliche Lied sinkt phasenweise in faktisch unerreichbare Bassregionen herab und erstarrt in knarrend monotoner Langsamkeit. Einer nach dem anderen aus der Sängerriege muss passen, verdrückt sich klammheimlich, zieht sich frustriert in eine Schmoll-Ecke zurück. Bis es zu einem neuen Anlauf kommt, vergeht geraume Zeit, die manche maulig monologisierend, andere unverständlich diskutierend überbrücken.
    Aufschwünge und Abbrüche, verbale Eruptionen, jäh und kläglich - ein eigentümlicher Rhythmus von traurig-komischem Versanden und Versickern grundiert ein permanentes Zerreden, Abgehen, Auftreten, Warten. Von Geschehen, gar Handlung kann keine Rede sein. Alle Beteiligten drehen sich wie in einem Hamsterrad in verwirrend sinnlosen Erkundungen und verlieren sich in immer neuen perspektivlosen Gesprächen.
    Perfektion statt Harmonie
    Und dann kommt es zu einem letzten, groß, sehr groß angelegten Versuch in Richtung eines generellen Neustarts. Hier geht Regisseur und Provokateur Christoph Marthaler bewusst und sehr erhellend an die Grenze des Zumutbaren. Nicht etwa durch Schockeffekte, sexuelle Drastik oder Gewaltfantasien, sondern durch extreme Zerdehnung, Verlangsamung, ja - Öde, Langeweile.
    Jene vier züchtig gewandeten Cellistinnen, die bislang brav begleiteten und still nickten, geben nun den Takt an und zwingen ihre professionellen Disharmonien, ihren stockenden Atem den erstarrten Figuren auf der Bühne ebenso gnadenlos ungerührt auf wie dem gesamten Zuschauerraum. Perfektion statt Harmonie. Exakte Einsätze statt emotionaler Wirkung. Nicht minutenlang, sondern zwei Viertelstunden lang - das ist ein Viertel der Aufführungsdauer!
    Funktionslos und repräsentativ
    Und immer wenn man denkt, hofft, nun wären sie endlich an ihr Ende gekommen und man könnte aufatmen, mahlen die quieksenden Neuansätze nach längeren Pausen weiter und zwingen das gesamte Auditorium in den Bann ihrer perfektionistischen Zwangsharmonisierungs-Maßnahme. Als sie - nach gefühlten Stunden - reglos abgehen, sind ihre Opfer derart domestiziert und all ihrer ursprünglich immerhin ansatzweise noch vorhandenen Fröhlichkeit beraubt. Sie können nur mehr formelhafte Wissenschaftsprosa oder Nonsense-Verse absondern - bevor sie, gleichermaßen apathisch wie selig, in eine überdimensionierte Sandkiste krabbeln, die im Vordergrund der Spielfläche lange schon für sie bereit steht. Sie spielen und entschlummern. Zwangs-Harmonisierung als Infantilisierung – ein beklemmendes Fazit.
    Marthaler sagt nicht – er zeigt: All diese Variationen klirrender Choräle, wissenschaftlicher Erörterungen, leerer Rituale, festgefressener Dialoge, die aberwitzigen, sinnfrei erscheinenden Aktivitäten von zu Automaten geschrumpften Pilzköpfen haben einen sehr realen Bezug. 44 Harmonies der Entmündigung - das ist ein zur Kenntlichkeit verzerrtes, gespiegeltes Selbst-Portrait Europas im Stadium seiner Ruhigstellung. Das letzte Bild bleibt haften. Plötzlich werden rund 50, vermutlich genau 44, Metall-Notenständer auf der Bühne verteilt. Funktionslos, aber schön anzusehen und repräsentativ. Da stehen sie wie die symbolischen stählernen Fahnenmasten vor der Europa-Zentrale in Brüssel - klirren im Wind. Und einer geht mit einer Plastikgießkanne herum - und begießt sie sorgsam - und absurd.