Der Himmel knapp über New York ist bevölkert. Drachenköpfe und Fratzen, Monster, Nymphen, halbmenschliche Kreaturen aus Stein zieren Giebel und Fassaden, Dächer und Vorsprünge. Diese Figuren sind das Werk der Steinmetze aus Europa. Sie erinnern an Kirchenpforten, sie erinnern an das Mittelalter. Sie sind Schwellenhüter, haben die Aufgabe, unerwünschte Dämonen zu verschrecken, die sich der Pforte nähern. Der architektonische Begriff des Wasserspeiers erinnert daran, dass diese Figuren mit aufgerissenem Mund auch an Regentraufen angebracht waren, das Wasser konnte durch sie abfließen. Allerdings greift das Wort vom Wasserspeier nicht alles auf, was im Englischen Begriff des Gargoyles aufgehoben ist.
Architekturkritiker und Kolumnist
Es verschwinden die dunklen Vokale, es verschwindet ein Geheimnis. Schade also, dass der Gargyole aus dem Titel und aus dem Text dieses Debütromans verschwunden ist. The Gargoyle Hunters heißt das Buch im Original, Die Fassadendiebe in der deutschen Übertragung. Geschrieben hat es der New Yorker Architekturkritiker John Freeman Gill, bekannt durch seine Kolumnen in der New York Times. Zu Beginn dieses Romans spricht ein Erzähler zum Leser, erklärt sein Verständnis von der Weltstadt New York:
"Jeder New Yorker hat sein ureigenes, kartografisches System, seine persönliche Methode, die Übereinstimmungen zwischen der Stadt da draußen und den Marksteinen des Straßenbilds in seinem Inneren aufzuzeichnen (...) Für viele von uns ist die so entstehende Karte eine zwar verzerrte, aber doch der Wahrheit entsprechende Darstellung New Yorks, in der verschwundene Gebäude und Geschäfte mindestens so gegenwärtig sind wie die noch existierenden. Laufen Sie mal anhand ihrer selbstverfassten Karte durch die Stadt, und sie werden staunen, wie viele unbesungene Orte ihnen aus der verrückten, permanenten Rushhour entgegenspringen und Ihre Aufmerksamkeit fordern ... Und all das sieht niemand als Sie selbst."
Mensch und Stein versus Zeit
Die sich stets wandelnde Stadt aufgehoben in der persönlichen Erinnerung. Mensch und Stein versus Zeit, das ist eine Gleichung von großer Schönheit, und sie enthält jede Menge erzählerisches Potenzial. John Freeman Gill bevölkert den so entstandenen Erzählraum mit einer zerbrochenen Familie. Dad und Mum sind in ihren Vierzigern. Sie ist eine Hippiemutter, die aus zerstoßenen Eierschalen Mosaike legt. Er ist ein Architekturfreak mit umgekehrter Berufung: Dad demontiert. Er klettert auf Häuser und Dächer und stiehlt die Wasserspeier, die Gargoyles der Stadt. Quigley ist die 15jährige wortkarge Tochter der Familie und Griffin der Sohn und der Erzähler dieses Romans. Griffin taucht eingangs als Erwachsener auf, überbrückt dann vierzig Jahre Zeit zurück zu seinem 13-jährigen Ich.
Man schreibt die frühen 1970er Jahre. Architektonisch gesehen ist es ein Jahrzehnt, in dem New York viele alte Häuser abgerissen und Platz für Neubauten geschaffen hat, unter anderem für das World Trade Center. Es ist auch die Zeit der Pop Art, und es ist - für Griffin - die prekäre Zeit der frühen Pubertät. Griffin schließt sich den Raubzügen seines Vater an, um ihm nahe zu sein. Er gerät in immer größere Gefahren, etwa wenn er sich vom Woolworth Building abseilt, um Wasserspeier aus Terrakotta zu stehlen. Beziehungsweise um diese aus ihrer Misere zu befreien, das ist jedenfalls die Terminologie des Vaters.
"Ich dachte darüber nach, während ich zu Dad aufs Podest stieg. 'Diese gemeißelten Frauen da', sagte ich, 'die hast du also geklaut?' Er sah mich lange ausdruckslos an, bis sein Mundwinkel sich schließlich zu dem Hauch eines Grinsens verzog. 'Ich habe sie befreit. Das ist etwas anderes. Ich rette diese Sachen und suche ein Zuhause für sie bei Menschen, die sie zu schätzen wissen.' 'Du läufst durch die Stadt und nimmst dir einfach, was dir gefällt?' 'Nur die guten Sachen.'
Großartiger Stoff, trotzdem Flopp
Die Fassadendiebe, The Gargoyle Hunters, ist als Konversationsroman konzipiert. Und genau darum floppt er, trotz des großartigen Stoffes, in dem sich viele Symmetrien und Geheimnisse verbergen. Hier berichtet ein Erwachsener, was sein 13-jähriges Alter Ego erlebt. Ein Junge ist umgeben von durchgeknallten Bezugspersonen, er ist einsam und betritt das Land der Pubertät. Wollte man dieses zeitliche und emotionale Spannungsfeld in Dialogen durchmessen, dann müssten diese an den Sprecher angepasst sein.
Tatsächlich aber bersten die Dialoge dieses Romans, sind mit Faktenwissen vollgestopft, enthalten alles, was der Autor an Information an seine Leser weiter geben will. Meist stülpt sich der Architekturkritiker über seine Figuren. Wer also wissen will, was Kauleisten, Tourelle und Kragstücke sind, der ist bei Griffin - 13 Jahre wie gesagt - bestens aufgehoben. Hier wird Griffin mit seinem Freund Kyle von der Polizei erwischt.
"Der Bulle beäugte mich. 'Und deshalb habt ihr da draufgestarrt?' 'Na ja, nicht ganz', sagte ich. 'Vor allem wollte ich Kyle zeigen, dass die Leiste ein tolles Beispiel für Eierstab ist.' 'Eier-was?'' 'Eierstab'. Das ist ein der gängigsten Zierleisten in der westlichen Architektur. Aber das wirklich Besondere an der Ausgestaltung der Lobby, weswegen ich sie Kyle überhaupt zeigen wollte, ist eine richtig schöne Kauleiste gleich unter dem Eierstab."
Der 13-Jährige spricht und denkt wie ein kleiner Erwachsener
Griffin spricht und denkt wie ein kleiner Erwachsener, und das gilt auch für seine Freunde. Ihnen bürdet der Autor eine weitere Aufgabe auf, nämlich: die Hippiezeit im Manhattan der 1970er Jahre einzufangen. Diese Figuren bewegen sich nicht in ihrer Zeit, sie sprechen darüber. Nikolaus Hansen und Bettina Abarbanell geben hier in ihrer deutschen Version alles, mit Wörtern wie Schlonz und Pferdeschwanztyp und aufgeschickt sind die 1970er tatsächlich wieder da, stehen aber wie fremdes Mobiliar im Roman herum.
All die gestohlenen Gargoyles, auch die gusseiserne Fassade eines Art Déco-Gebäudes landen am Ende übrigens auf einer Insel. Dort hat sich Griffins Vater vor der Welt versteckt. Der Baumeister kurz vorm Wahnsinn - auch das ist ein großartiger Stoff, der von seinem Erzähler nicht abgeholt wird. Die Gargoyle Hunters, sie wurden in der amerikanischen Presse enthusiastisch besprochen, lassen uns hierzulande aber ratlos zurück. Greifen Sie vor der nächsten New York Reise lieber zu einem Architekturführer. Da steht alles drin, was man wissen muss, und es wird nicht so viel geredet.
John Freeman Gill: "Die Fassadendiebe"
Piper, München 2018. 464 Seiten, 14 Euro.
Piper, München 2018. 464 Seiten, 14 Euro.