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Schattenseite des Antirassismus
Ein unorthodoxer Blick auf die identitätspolitische Debatte

Es ist eines der heiklen Themen dieser Zeit: die Auswüchse des Antirassismus. Diese treffsicher zu benennen, ist dem US-amerikanischen Linguisten John McWhorter gelungen. In seinem Buch „Die Erwählten“ geht es um die eifernden und intoleranten Seiten des Antirassismus.

Von Katja Ridderbusch | 31.01.2022
Der Autor John McWhorter und das Buchcover von  "Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet"
Der Autor John McWhorter und das Buchcover von "Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet" (Cover Hoffmann & Campe / Portrait (c) Eileen Barroso)
Der gewaltsame Tod von George Floyd im Mai 2020, die Proteste und die Debatten brannten ein Diktum in das kollektive Bewusstsein der USA: Schwarze Männer werden von weißen Polizisten getötet. Das ist die alltägliche, hässliche Norm, heißt es, der sichtbarste Ausdruck eines tief verwurzelten, systemischen Rassismus.
Wer es wagt, eine Fußnote anzufügen, eine differenzierende Statistik vielleicht, dem drohe die soziale Exkommunikation, schreibt John McWhorter, Linguistik-Professor an der Columbia University in New York, in seinem Buch „Die Erwählten“.  Er tut es trotzdem:
„Man darf nicht fragen, warum Schwarze Menschen sich so über einen weißen Polizisten aufregen, der einen Schwarzen Mann ermordet hat, obwohl das Risiko für einen Schwarzen Mann, von einem anderen Schwarzen Mann ermordet zu werden, viel größer ist. […] 2020 war der Ärger der Schwarzen Communities darüber, dass ihre Söhne, Neffen und Cousins sich gegenseitig umbringen, nie Thema. Dabei verzeichnete dieser Trend im Sommer 2020 USA-weit in armen Schwarzen Vierteln neue Rekordzahlen.“
Der Shitstorm in den traditionellen und den sozialen Medien brach verlässlich über McWhorter herein, wenngleich mit gebremstem Eifer. Denn: McWhorter ist schwarz.

Dritte Welle des Antirassismus

„Die Erwählten“, im Original: Woke Racism, versteht sich als Streitschrift – polemisch, provokant, mit steilen Thesen, messerscharf beobachtet und geschrieben in einer geschliffenen Sprache, die Kirsten Riesselmann furios ins Deutsche übertragen hat. McWhorter spricht von der Dritten Welle des Antirassismus. Im US-Fernsehen erklärt er:
„Die erste Welle kämpfte gegen die Rassentrennung und für das Wahlrecht von Afroamerikanern. Die zweite Welle – in den 1970er- und 1980er- Jahren – ging gegen rassistische Vorurteile vor, mit gemischtem Erfolg. Die dritte Welle des Antirassismus fordert von weißen Amerikanern das lebenslange Bewusstsein für ihre Komplizenschaft, für ihre sogenannte weiße Schuld und ihre weißen Privilegien. Die neuen Antirassisten sind überzeugt: Solange dieser Erziehungsauftrag nicht erfüllt ist, kann es keinen Fortschritt für das schwarze Amerika geben.“
Getrieben werde diese aktuelle Welle vor allem von linksliberalen Weißen, die sich zu Rettern schwarzer Menschen erklärten – eine Haltung, die zutiefst herablassend sei, findet McWhorter, und damit im Kern selbst rassistisch. Seine These: Der neue Antirassismus ist eine Religion. Und seine Anhänger?
„Wir müssen diese Menschen sehen als das, was sie sind: Mitglieder einer Sekte, religiöse Fundamentalisten und Fundamentalistinnen“.
Der Atheist McWhorter nennt sie „Die Erwählten“. Sie seien missionarisch, anti-aufklärerisch, intolerant. Sie kultivierten eine Aura der moralischen Überlegenheit, predigten die ritualisiere Buße, praktizierten das Wechselspiel aus Angst und Demut. Der Rassismus-Vorwurf – oder allein die Drohung damit – werde zur wirksamen Waffe.

Das religiös anmutende Personal

Auch das Personal im Universum der Erwählten sei dem Religiösen entliehen, schreibt er. Da seien die Hohepriester – afroamerikanische Kultautoren wie Ta-Nehisi Coates und Ibram Kendi. Und die Inquisitoren, die Philister, die Flagellanten und die Ketzer. Letztere seien all jene, die die reine Lehre der Erwählten hinterfragten, sagt McWhorter:
„Der Kurator des Museums für Moderne Kunst in San Francisco, Gary Garrels, wurde zur Kündigung genötigt, weil er sagte, er könne bei allem Bewusstsein für Antirassismus jetzt nicht weiße Künstler ignorieren. Das sei umgekehrte Diskriminierung. Nur weil er das gesagt hatte, musste er gehen. Das ist schlimm, aber das ist das neue Klima.“
Es gibt andere Beispiele – vor allem in den Medien und an Universitäten, wo die Erwählten mit tugendhaftem Eifer potenzielle Abweichler an den moralischen Pranger stellen und aus dem Job mobben. Aber McWhorter begnügt sich nicht damit, die neuen Antirassisten scharfzüngig zu kritisieren.

Das Ziel anders angehen

„Ich leugne nicht, dass Rassismus existiert, dass systemischer Rassismus existiert. Und wir werden ihn wahrscheinlich auch nie ganz ausrotten können. Aber diese psychologisierenden, um sich selbst kreisenden Belehrungen über weiße Schuld bringen uns nicht weiter dabei, die realen Probleme schwarzer Menschen in diesem Land zu überwinden.“
Im Schlusskapitel führt McWhorter eine Reihe von pragmatischen Lösungsvorschlägen an, die die soziale Ungleichheit mildern könnten. Dazu zählten Kampagnen zur Leseförderung von afroamerikanischen Kindern sowie mehr und bessere Angebote für Berufsausbildung.
McWhorters Manifest ist ein wütender, furchtloser, wuchtig geschriebener Beitrag zu einer Debatte über Haltung und Identität, Rassismus und Antirassismus – eine Debatte, die längst entgleist ist, die einen tiefen Keil durch die Gesellschaft getrieben hat. Der Autor ermutigt seine Leser, sich selbstbewusst und gelassen dem Regiment der Erwählten zu widersetzen.
„Angst und Schrecken sind auch dann nicht plötzlich gut, wenn sie von Linken oder von Schwarzen Menschen verbreitet werden. Die Vernunft sollte die Oberhand behalten. Das ist der Kern der Aufklärung.“
John McWhorter: „Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“, aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Riesselmann, Hoffmann und Campe, 256 Seiten, 23 Euro.