Das Leben ist ein langer Abschied. In Gustav Mahlers sinfonischem "Lied von der Erde" allemal, wo das "Abschied" betitelte Lied so lange dauert wie all die Trinklieder und jugendlichen Erzählungen von Mädchen und Freundschaftsspielen zusammen. Und in John Neumeiers Choreografie erst recht, die jenen Einsamen im Herbst, der noch einmal auf sein Leben blickt, in symbolbeladener Reduktion der Bewegungen auf die leere Bühne schickt. Sie wird in Neumeiers eigener Ausstattung beherrscht nur von einem Kreis, der zunächst blau wie die Erde aussieht, dann aber rot oder golden wie Gottes Sonnenauge das Erdenleben zu beleuchten scheint. Die abstrakten Kreisgemälde des von Neumeier so verehrten Tänzers Nijinsky mögen da Pate gestanden haben. Das geneigte Rasenstück als weiteres Spielelement wirkt dagegen etwas profan.
Alter Egos verborgener Homosexualität
Von hier aus rutscht Mathieu Ganio in einem Prolog ins Leben. Wenn er sich die Hände vors Gesicht hält, taucht sein Double, der blonde Karl Paquette, auf, aus dessen inniger Umarmung er ins erste Trinklied zieht. Neumeier schätzt diese Alter Egos, die eine Ahnung verborgener Homosexualität mit sich tragen, aber natürlich stets symbolisch zu deuten sind. Hier mag es für die verlorene Jugend oder Lebenslust an sich stehen, von der der Protagonist im letzten Lied "Abschied" wehmütig scheidet. Das zugrunde liegende chinesische Gedicht schildert die Trennung der Freunde sehr emotional. Und so hemmungslos berührend gerät sie auch bei Neumeier. Es ist ein Zueinanderfinden erst in diesem endgültigen Auseinandergehen. Paquette naht als Gruß des Lebens, aber wenn Ganio ihn greifen will, hat er sich weggeduckt. Schließlich kann er sich doch noch ganz in ihn schmiegen, Paquette streichelt ihn, an langgesteckten Armen ziehen sie voneinander.
Denn den bergenden Tod bringt die Frau, die Mutter, die Erde, würdevoll getanzt von Laetitia Pujol. Denn mag auch sein Leben enden, so heißt es in den letzten Liedzeilen doch: "Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz... ewig ewig!" Zu diesem wiederholten "ewig" aber hat Neumeier eine wunderbare Choreografie gefunden. Da hebt Ganio die Tänzerin an, setzt sie weiter vorne ab und umrundet sie, um sie erneut anzuheben, weiterzutragen und zu umrunden - ein Mikrokosmos der ewigen Wiederkehr des Lebens. Und zu den letzten Noten bewegen sie sich rückwärts ins Gegenlicht, Schatten nur noch.
Symbolisches Klischee
So schön dieser Abschied gelingt, so sehr bewegt sich Neumeier zuweilen im symbolischen Klischee, wenn Hände an unsichtbaren Wänden tasten oder gestreckte Arme fallen wie Blätter. Und die stummen Zwischenspiele bremsen den bei Mahler hart gegeneinander geschalteten Charakter von lebensvollen und melancholischen Liedern aus. Da ist man froh, wenn mal ein paar Tänzer mit offenem Hemd dazwischen wirbeln und sich mit den Partnerinnen auf das Rasenstück zurückziehen. Und Vincent Chaillet als "Trunkener im Frühling" mit lustig-eckiger Beinarbeit und weitausholenden Armen weltverliebt durchs pralle Leben taumelt. Protagonist Ganio besichtigt dies oft nur aus Distanz, irrt auf halber Spitze durchs Getümmel und greift, wenn die Frauen durchs Bild ziehen, nur mehr ins Leere. Da hat Neumeier Mahlers Biografie vor Augen, dessen Herzkrankheit und den frühen Tod der Tochter. Aber er vermeidet alles Zeitgebunden-Dekorative und setzt eher karg als opulent das Weltabschiedswerk in Wert, eine Philosophie überindividueller Kontinuität, die den chinesischen Gedichten entspricht.
In Paris gab es reichlich Applaus und Bravos, auch für den kraftvollen Tenor von Burkhard Fritz und den angenehm höhengeschmeidigen Bariton von Paul Armin Edelmann als Solisten unter Patrick Langes mitatmendem Dirigat.