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John Wray: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"
Verhängnis einer eingebildeten Liebe

Der Amerikaner John Wray erzählt in seinem vierten Roman die Geschichte eines Clans durchgeknallter Hobbyphysiker, die Albert Einstein Konkurrenz machen wollen. Der Hauptdarsteller, ein junger Forscher, ist in einer Zeitblase gefangen. Schlimm genug. Aber verliebt ist er auch noch.

Von Hubert Spiegel |
    John Wray, amerikanischer Schriftsteller und Bestseller-Autor mit österreichischer Mutter.
    John Wray beschreibt in "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" eine eigenwillige Familie. (picture alliance/dpa/Erwin Elsner)
    Gute Literatur hat oft unerwartete Nebenwirkungen. Den Lesern von John Wrays neuem Roman kann es passieren, dass sie nach der Lektüre des Buches ihren Uhren nicht mehr so recht trauen. Jedenfalls werden sie sich häufiger als zuvor vergewissern wollen, dass ihre Uhr nicht stehengeblieben ist. Denn das könnte womöglich ein schlechtes, ein besorgniserregendes Zeichen sein. Woran merken wir, dass die Zeit vergeht, ja, dass sie überhaupt existiert? Sie verstreicht unabhängig von uns, und zugleich vergehen wir mit ihr. Wir sind von Zeit umgeben, sie ist um uns und in uns, wie die Luft, die wir atmen, aber wir können die Zeit nicht spüren, riechen oder schmecken. Wir können sie nur messen. Das glauben wir jedenfalls. Aber hören wir, was ein Experte dazu zu sagen hat:
    "Ich messe die Zeit. Aber ich messe nicht die Zukunft, denn diese ist ja noch nicht, ich messe auch nicht die Gegenwart, denn sie hat keine Ausdehnung im Raume, ich messe auch nicht die Vergangenheit, denn sie ist nicht mehr. Was also messe ich?"
    Das ist die Frage eines Zeitreisenden, die vor mehr als 1.500 Jahren gestellt wurde. Beantwortet ist sie noch immer nicht.
    "The Lost Time Accidents" heißt John Wrays Roman im amerikanischen Original, die deutsche Fassung, von Bernhard Robben vorzüglich, weil mit großer Geschmeidigkeit übersetzt, trägt den ein wenig platten Titel "Das Geheimnis der verlorenen Zeit". Proust-Freunde werden da sofort aufhorchen, aber wer nicht so richtig Proust-begeistert ist, könnte dazu neigen, die Finger von diesem 734 Seiten dicken Ziegelstein zu lassen, den der Rowohlt Verlag auch noch in einen gestalterisch leider völlig missglückten Schutzumschlag gehüllt hat, so dass der Roman nun aussieht, als handele es sich um ein von Fettleibigkeit geplagtes hässliches Entlein.
    Nahezu mühelos bringt er viele Figuren unter einen Hut
    Aber Titel und äußeres Erscheinungsbild täuschen. John Wray, der seit seinem 2002 auf deutsch erschienenen Debütroman "Die rechte Hand des Schlafes" als Geheimtipp gilt, ist alles andere als ein braver Proust-Adept. Wie Jonathan Safran Foer, Teju Cole, Nicole Krauss oder Dave Eggers ist er in den 70er-Jahren geboren, also zwei Generationen jünger als die Alt-Meister Philip Roth oder Don DeLillo. Doch sein Roman wirkt, als hätten ihn ein alter und ein junger Mann gemeinsam verfasst. Denn Wray ist nicht nur ein intelligenter und ausgesprochen eigenwilliger Erzähler, er ist auch abgebrüht wie ein alter Schakal und verspielt wie ein junger Hund.
    Nahezu mühelos bringt er den Heiligen Augustinus, Sir Isaac Newton, Albert Einstein, Joan Didion, die Sekte der Scientologen, einen tschechischen Gewürzgurkenhersteller, einen irren SS-Offizier und KZ-Kommandanten und viele andere reale wie fiktive Figuren unter einen Hut, eine geheimnisvolle Schönheit nicht zu vergessen, die so naiv scheinen kann wie die kulleräugige Audrey Hepburn, dabei aber mindestens so durchtrieben ist wie Mata Hari.
    Ihr Name ist Mrs. Haven, und mit ihr beginnt John Wrays Ich-Erzähler seinen Bericht:
    "Liebe Mrs. Haven,
    um 08:47 EST bin ich heute Morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen.
    Ich sehe Dich vor mir, wie Du diesen Brief liest. Ich sei vor Kummer verrückt geworden, wirst Du sagen, hätte den Verstand verloren, doch war ich nie klarer im Kopf. Bitte glaube mir, Mrs. Haven, wenn ich schreibe, dass dies kein Scherz ist. Ungebremst dreht sich die Zeit um mich herum, gluckert wie ein Whirlpool, wandelt sich wie ein Quantenfeld, rotiert wie eine Galaxie um ihre zentrale Nabe – in der Mitte aber ruht alles still.
    Besteht die Hoffnung, wie unendlich klein auch immer, dass Du eines Tages dieses Manuskript finden und lesen wirst? Glaubte ich nicht daran, könnte ich nicht weitermachen. Und wenn ich nicht weitermache, verschwinde ich vollends."
    Im zugemüllten Palast der Erinnerungen
    Hier schreibt also jemand um sein Leben. Und er kämpft schreibend um die Liebe einer Frau, die ihn getäuscht, benutzt, betrogen und am Ende verlassen hat. Waldemar Tolliver, genannt Waldy, hockt in der Bibliothek der labyrinthischen, mit ungeheuerlichen Mengen an Krempel vollgestopften Wohnung seiner unlängst verstorbenen Tanten.
    "Wäre Noah von Gott beauftragt worden, eine Arche für Konsumgüter statt für Tiere zu bauen - und wäre Noah ein betrunkener Paranoiker gewesen -, hätte seine Arche vermutlich wie diese Wohnung ausgesehen."
    In diesem zugemüllten Palast der Erinnerungen in New York ist Waldemar hilflos in einer Zeitblase gefangen, wie eine Fruchtfliege im Spinnennetz. Und während die Uhren still stehen, verfasst er einen mehr als 700 Seiten langen Brief. Dieser Brief ist der Roman, den wir lesen, und der Roman ist der Brief, gerichtet an Mrs. Hildegard Haven, die undurchsichtige, ein wenig leichtlebige Ehefrau des millionenschweren, giftig schillernden Sektengründers Richard Haven. Sie ist die Adressatin des Briefes, ein Luder als implizite Leserin des Romans.
    Natürlich will Waldemar sie zurückgewinnen, aber noch wichtiger ist ihm, ihr und zugleich uns die Geschichte seiner Familie zu erzählen und die Rätsel zu lösen, die mit dieser Familiengeschichte verknüpft sind. Dabei handelt es sich um Fragen von universeller Bedeutung und nachgerade kosmischen und auch komischen Dimensionen, denn die Tollivers sind eine genialische, aber auch schwer durchgeknallte Sippe von Zeitforschern. Ihr Problem hat wohl niemand besser auf den Punkt gebracht als der eingangs zitierte Bischof von Hippo, geboren im Jahr 354 nach Christus im heutigen Algerien, bekannt geworden als der Heilige Augustinus. In seinen "Confessiones" heißt es:
    "Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage hin erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?"
    Die Wunde von Waldys Familie
    Ja, wie steht es nun mit dem Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft? Der heilige Augustinus legt gnadenlos den Finger in die Wunde von Waldys Familie. Über ein ganzes Jahrhundert und über vier Generationen hinweg, versuchen die Tollivers dem Wesen der Zeit auf die Schliche zu kommen. Sie führen Experimente durch, lösen Gleichungen, treiben physikalische Studien, entwickeln Formeln, bauen Maschinen, zermartern sich das Hirn, quälen und foltern ihre Probanden, vergeuden das eigene Leben, kurzum, sie unterwerfen alles dem einen Ziel: Sie wollen das Wesen der Zeit bestimmen, um Chrononauten zu werden, Zeitreisende, unterwegs in der vierten Dimension.
    Zeitreisen sind ein beliebter Topos der Literatur. Bei Washington Irvings "Rip van Winkle" aus dem Jahr 1819 und Louis-Sebastien Merciers Roman "Das Jahr 2440: Ein Traum aller Träume" von 1771 ist das Vehikel, das der Zeitreisende benutzt, ganz einfach der Schlaf. Rip van Winkle verschlief zwei Jahrzehnte, Mercier ließ seinen Helden 1769 einschlummern und im Jahr 2440 wieder erwachen. Erst H. G. Wells kam 1895 auf die Idee, eine Zeitmaschine zu konstruieren, die ihren Benutzer sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft befördern kann. John Wray hält für seinen Erzähler einfach die Uhr an: Die Zeit steht still, so lange er erzählt. Und zugleich reist Waldy durch Zeit und Raum, indem er erzählt.
    Waldy ist der jüngste Spross einer Sippe von gelehrten Narren. Es ist kein leichtes Erbe, das auf ihn wartet, und es ist keine leichte Kindheit, die ihn darauf vorbereiten soll, es anzutreten. Sein Vater Orson Tolliver, den er nur beim Vornamen nennt, ist ein erfolgreicher Autor von Science-Fiction-Literatur, die sich natürlich nicht selten um Zeitreisen dreht. Sein Ruhm führt sogar dazu, dass eine Sekte in seinem Namen gegründet wird. Der eigentliche Stifter dieser obskuren Religion ist nicht ganz zufälligerweise Richard Haven, Ehemann der begehrten Hildegard und selbst ausgesprochen scharf darauf, das Geheimnis der verlorenen Zeit zu lösen. Die Anspielungen auf L. Ron Hubbard, Begründer der Church of Scientology und ebenfalls Verfasser von Science-Fiction-Romanen, sind nicht zu übersehen. In der "Kirche der Synchronologie" gilt Orson als Prophet, wenn nicht sogar als Gott, im wirklichen Leben ist er einige Nummern kleiner und zumindest als Vater ein Versager, wie die folgende Szene mit dem sechsjährigen Waldemar zeigt:
    "'Es gibt da ein Sprichwort der Venusianer, Waldy, von dem du vielleicht etwas lernen kannst.'
    Ich schluckte den Köder und stellte die erwartete Frage. 'Auf der Erde mag die Zeit fliegen wie ein Pfeil', der dramatischen Wirkung zuliebe legte er eine Pause ein, 'Fliegen aber mögen Bananen.'
    Das war's. Er schaute meine Mutter an, dann mich, stieß einen zufriedenen Rülpser aus und verschwand in seinen Keller wie eine Krake, die eine Tintenwolke hinter sich zurücklässt."
    Der Witz ist nicht nur geklaut, wie Waldemar später herausfindet, nämlich von den Marx-Brothers, sondern er ist vor allem eine Verhöhnung der Familientradition.
    "Es gab einen Grund, warum mir Orsons Scherz so unter die Haut ging: Ich wusste schon damals, dass die Zeit nicht wie ein Pfeil fliegt. Die Überzeugung, seit Newton sei jeder Physiker nur ein Schwindler oder ein Simpel (oder beides) gewesen, gilt in unserer Familie als ein Dogma, das von Generation zu Generation vererbt wird wie eine Blutrache oder eine Nussallergie. Ich wuchs in dem Wissen auf, dass die Zeit wie ein Bumerang fliegt, wie ein Satellit oder - wenn es denn unbedingt ein Pfeil sein muss – wie der Pfeil einer gutgeölten Wetterfahne. Meine Tanten haben stets behauptet, ich wäre dazu auserkoren, die Tollivers aus dem Souterrain des Vergessens zu führen, wäre derjenige, der ihren spinnerten Ansichten zum Durchbruch verhülfe, der unsere gemeinsamen Obsessionen der Welt nahebrächte: Allein deshalb hatte man mich auf den Namen meines Großonkels getauft. Ich widersetzte mich ihrer Prophezeiung so lang ich konnte – gut zwanzig Jahre lang -, musste am Ende aber doch die Kärrnerarbeit für sie erledigen. Was bleibt einem mit einem Namen wie Waldemar auch anderes übrig?"
    Der Schwarze Zeitmesser von Czas
    Onkel Waldemar: Unter den auf eher harmlose Weise verrückten Mitgliedern der Familie ist Großonkel Waldemar aus der Art geschlagen: Er ist das auf bösartige Weise verrückte, das blutbefleckte schwarze Schaf. Waldemar verkörpert den Typus des besessenen Wissenschaftlers, der über Leichen geht, um an sein Ziel zu gelangen, und der jede Gelegenheit nutzt, die sich ihm bietet. Von Toula, wie er sich mit einem angemaßten Adelstitel nennt, ist in der exzentrischen Galerie der pathologischen Fälle, die John Wray in seinem Roman eröffnet, der extremste Fall. Waldemar geht zur SS, wird Lagerkommandant und betreibt im fiktiven Konzentrationslager Äschenwald als Herr über Leben und Tod der Inhaftierten absurde und grausame Menschenversuche. Bei Kriegsende, als das Lager von der vorrückenden Roten Armee befreit und zerstört wird, verschwindet Waldemar von Toula, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Eine Spur hinterlässt er allerdings doch, und zwar mit voller Absicht. Der Schwarze Zeitmesser von Czas, wie er mit leisem Schauder genannt wird, hat dafür gesorgt, dass die Aufzeichnungen, die er über seine Experimente machte, erhalten blieben. Sie gehören zu jenen rätselhaften Schriftstücken, von denen die Familiengeschichte durchgezogen ist, unheilvolle, mysteriöse Kassiber, die kometengleich durch Zeit und Raum reisen. Im Roman werden sie ausführlich und manchmal über etliche Seiten hinweg wiedergegeben, als kursiv gesetzter Einschub und kleiner Tribut an die Montagetechniken der Postmoderne.
    In der Chronologie dieser Buchbesprechung, die natürlich ebenso wenig linear verlaufen kann wie der in sich verschachtelte Roman selbst, ist es nun an der Zeit, auf die Anfänge der Familie zu sprechen zu kommen. Reisen wir also ins habsburgische Mähren, in die Stadt Znojmo, auf deutsch Znaim genannt, reisen wir zurück ins Habsburger Reich der Jahrhundertwende.
    "Am 12. Juni 1903, zweidreiviertel Stunden, ehe er von einem nahezu bewegungslosen Automobil überrollt wurde, machte mein Urgroßvater eine Entdeckung, die versprach, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Ottokar Gottfriedens Toula, Vater zweier Kinder, Amateurphysiker, von Beruf Gewürzgurkenanbauer, hatte den Vormittag in seinem Labor verbracht – einer umgebauten Einlegerei direkt unterhalb des Hauptplatzes im mährischen Znojmo, der Gewürzgurkenhauptstadt des Habsburger Reiches – und wollte gerade für den Nachmittag abschließen, als ihm etwas an der Anordnung der Gegenstände auf seiner Werkbank ins Auge fiel.
    Er ließ sich auf die Bank nieder, achtete sorgsam darauf, nicht umzukippen, und verfasste in weniger als einer Stunde jenen Eintrag – sieben Seiten in schräger, flüssiger Schreibschrift -, der über die nächsten hundert Jahre die Träume seiner Nachfahren heimsuchen sollte."
    Welche Rolle spielen Fakten?
    Ottokars Aufzeichnungen erweisen sich als ausgesprochen enigmatisch, zumal die letzte, alles entscheidende Seite fehlt. Das Rätsel der Zeit hat er zwar gelöst, so die Vermutung von Ottokars Nachkommen, die später zur Gewissheit wird, zum unumstößlichen Familiendogma nämlich, aber die Lösung ist verschwunden. Jemand muss das kostbare Blatt entwendet haben. Damit sind drei wichtige Motive des Romans angelegt: Die Suche nach der verschwundenen Seite, die unermüdlichen Versuche, Ottokars Eingebung zu wiederholen, also selbst das Geheimnis der verlorenen Zeit zu entschlüsseln, und die paranoide Angst vor Konkurrenten, Trittbrettfahrern und Widersachern, die sich zum Phantasma einer Verschwörung auswächst, an der alle beteiligt sind, die an die Linearität des Zeitverlaufs glauben – also fast die gesamte Welt, mit Ausnahme einiger Physiker, die jedoch nicht als Kollegen, sondern als Todfeinde angesehen werden. Der schlimmste von allen ist natürlich jener spätere Nobelpreisträger, der in der Familie nur als "der Patentprüfer" bezeichnet wird, weil sein Name nicht genannt werden darf: Albert Einstein. Stellen wir einmal eine ganz hundsgemeine Frage: Welche Bedeutung hat nun also die Relativitätstheorie für John Wrays Roman? Nun, mit Augustinus könnte man sagen: Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, aber sobald ich danach gefragt werde, weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls nicht so ganz genau.
    Man kann die Frage aber auch anders stellen. Nämlich so: Welche Rolle spielen Fakten in einem Roman wie diesem, einem metafiktionalen Briefroman, der Physik, Popcorn und die Geschichte des 20. Jahrhunderts unbekümmert durcheinanderwirbelt? John Wray ist nicht der Stephen J. Hawking des amerikanischen Belletristik. Schon eher erinnert er an einen Thomas Pynchon in jüngeren Jahren, der sich genüsslich eine Proustsche Madeleine auf der Zunge zergehen lässt, während er zerstreut in einem Perry-Rhodan-Heft blättert und mit einem Auge die Verfilmung eines Romans von Stanislaw Lem oder Philip K. Dick in seinem alten Schwarz-Weiß-Fernseher anschaut. Doch, das gab es einmal: Schwarz-Weiß-Fernseher. Wer sich daran erinnert, ist schon unterwegs auf einer Reise in die Vergangenheit.
    Großvater Kaspar war kein Held
    Romanleser sind Zeitreisende. Das haben wir auch ohne John Wray gewusst. Aber dieser literarische Urgedanke wird uns nur selten auf so intelligente, unterhaltsam-spielerische Weise vor Augen geführt wie in diesem Roman, dessen Erzähler über 700 Seiten als Gefangener in einer Zeitblase feststeckt und zugleich durch Zeit und Raum reist: Von Urgroßvater Ottokars Gurkeneinlegerei in Mähren nach Wien, wo der schreckliche Waldemar und sein gutmütiger Bruder Kaspar studieren, Physik natürlich. Der eine, Waldemar, bleibt dem Geheimnis der verlorenen Zeit um jeden Preis auf den Fersen, der andere, Kaspar, verliebt sich und gründet eine Familie, die er vor den Nazis in Sicherheit bringt, indem er emigriert. Nun geht die Reise weiter: Von Wien nach Buffalo, wo Waldys Tanten heranwachsen, die Zwillingsschwestern mit den seltsamen Namen Enzian und Gentian, genannt Enzie und Gennie, sowie Orson, ihr kleiner Bruder und Vater des Erzählers. Waldy wird nach Wien und Mähren reisen, aber erst als Gefangener in der Zeitblase in der Wohnung der Tanten in Manhattan das Rätsel lösen. Hier trifft er seinen Großonkel Waldemar, der das Ende des "Dritten Reichs" überlebt hat und seitdem als Zeitreisender unterwegs ist.
    Trotz der sprunghaften Chronologie kann man dem Handlungsverlauf gut folgen. Ein wenig anstrengend wird es allerdings immer dann, wenn Waldy seiner geliebten Mrs. Haven erzählt, was sie gemeinsam erlebt haben. Hier erweist sich die Erzählperspektive, die Wray gewählt hat, als problematisch. Die Briefform, in die er seinen Roman kleidet, verlangt die Anrede in der zweiten Person Singular. Das funktioniert reibungslos, solange Waldemar Tolliver seiner Geliebten berichtet, was sie nicht weiß und nicht wissen kann, vielleicht aber auch nicht wissen soll:
    "Und jetzt, Mrs. Haven, wäre in dieser Geschichte der richtige Zeitpunkt, von jener Rolle zu erzählen, die mein Großvater im Wiener Widerstand spielte: Von den ersten, durch Ungarsky vermittelten Kontakten, den Treffen im Stadtpark und in verschlossenen Hinterzimmern, den immer verzweifelteren Sabotageakten, dann unweigerlich auch von Haft und Folter, der Deportation in unauffälligen Waggons und schließlich dem Tod in sonnenfleckigen polnischen Wald.
    Nichts davon aber wirst Du in dieser Geschichte lesen, denn nichts davon hat je stattgefunden."
    Großvater Kaspar war kein Held. Der finsteren Entschlossenheit seines Bruders Waldemar hatte er wenig entgegenzusetzen. Aber womit will Waldy sich eigentlich gegen die laszive, somnambule Durchtriebenheit seiner Mrs. Haven zur Wehr setzen?
    Nein, dieser Hildegard Haven ist Waldemar Tolliver nicht gewachsen. In Anbetracht dieser Tatsache wirken Waldys Berichte an sie letzten Endes doch eher wie die Zustimmung erheischenden Versuche, sich einer gemeinsamen Geschichte zu vergewissern. Das Geheimnis der verlorenen Zeit, von dem John Wray in seinem raffinierten, unbedingt lesenswerten Roman erzählt, handelt nicht zuletzt von dem Verhängnis einer eingebildeten Liebe. Im Rückblick wird alles unscharf, auch unser eigenes Leben. Die vergangene Zeit ist der größte Illusionist von allen. Sie macht unsichtbar, was war, und lässt als glaubhaft erscheinen, was niemals geschehen ist. Wir alle wissen, dass dies so ist. Aber wir wissen es nur, wenn uns gerade niemand danach fragt.