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Johnson als May-Nachfolger?
"Es gibt eine kleine Gruppe, die rebellieren könnte"  

Sollte Boris Johnson der Nachfolger von Theresa May werden, hält der Publizist Grahame Lucas ein Misstrauensvotum gegen ihn für möglich. In diesem Fall könnte es sein, dass May ihren endgültigen Rücktritt noch hinauszögert, sagte Lucas im Dlf.

Grahame Lucas im Gespräch mit Sandra Schulz |
Boris Johnson (l.) und Theresa May
Boris Johnson wird als möglicher Nachfolger von Theresa May gehandelt - er hat aber auch Gegner in der eigenen Fraktion (imago images / i Images)
Sandra Schulz: Am Telefon ist der Publizist und Großbritannien-Kenner Grahame Lucas. Einen schönen guten Tag!
Grahame Lucas: Guten Tag.
Schulz: Noch mal den Blick aufs große Ganze nehmend: Theresa May geht jetzt, zieht sich zurück von der Tory-Spitze. Wird alles besser, oder alles noch schlimmer?
Lucas: Das ist natürlich eine sehr gute Frage. Die Konservativen sind im Moment in einer tiefen Krise. Eine tiefere Krise hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Nach der Nachwahl in Peterborough stehen sie natürlich massiv unter Druck, Brexit zu liefern, und zwar einen möglichst harten Brexit, weil die Leute einfach keine Lust mehr haben, diese ewigen Diskussionen mit Frau May zu haben. Vor allen Dingen hat sie die Situation in der Unterhaus-Fraktion völlig falsch eingeschätzt, als sie versucht hat, eine vierte Abstimmung über ihren Deal mit der EU durchzusetzen. Die Abgeordneten gehen in die Wahlkreise und sie hören nur eins: Wir wollen jetzt raus aus der EU und es ist uns mittlerweile egal, wie hart es ist. Das ist in etwa die Situation. Man verspricht sich daher von der Wahl des neuen Vorsitzenden einfach eine Klärung der Situation und man geht dann quasi Volldampf, wenn es sein muss, in den No Deal Brexit.
Gerüchte über eine "Stoppt-Johnson"-Kampagne
Schulz: Das heißt, auch Sie haben eigentlich keine Restzweifel daran, dass Boris Johnson auf Theresa May folgen wird?
Lucas: Restzweifel sollte man immer haben bei solchen Situationen, weil wir letztlich nicht wissen, was in diesen Stichwahlen, die jetzt anstehen, tatsächlich passieren wird. Es hat schon Gerüchte in den letzten Tagen gegeben, dass einige Abgeordnete eine "Stoppt-Johnson"-Kampagne ausrufen wollen. Der Schatzkanzler Philip Hammond hat es so angedeutet, dass er als konservativer Abgeordneter im Parlament ein Misstrauensvotum gegen den neuen Premierminister sich vorstellen könnte, eine Stimme gegen die eigene Partei, die eigene Regierung, wenn diese dann den No Deal forciert. Das heißt, es gibt eine kleine Gruppe, man schätzt sie auf vielleicht zehn bis 20 Abgeordnete, die rebellieren könnten. Diese These wurde gestern kurz indirekt bestätigt, könnte man sagen, weil ein Sprecher von Ten Downing Street gesagt hat, Theresa May könnte ihren Rücktritt als Premierministerin hinauszögern im Juli, falls der neue Vorsitzende nicht sicher sein kann, dass er eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Sie könnte ihre Bitte an die Königin, den neuen Mann zu berufen, verzögern.
Interessanterweise nach einem schnellen Echo in den Medien hat der Sprecher von Ten Downing Street diese Meldung revidiert und teilweise kaschiert. Das heißt, man weiß jetzt wirklich nicht, was passieren wird. Das ist das Problem.
Jeremy Hunt oder Michael Gove als Kompromisskandidaten
Schulz: Das heißt, von Stabilität, von Verhältnissen, in denen Handlungsfähigkeit da ist, ist man eigentlich genauso weit weg wie jetzt schon seit vielen Monaten?
Lucas: Ja, eigentlich schon, denn wenn es dazu kommt, dass man versucht, Boris Johnson zu stoppen, innerhalb der Fraktion, dann müsste man quasi verhindern, dass er unter den letzten beiden steht, denn diese letzten beiden, die werden dann in die Stichwahl der Parteimitglieder gehen, und dann wird der Parteivorsitzende gekürt. Das heißt, kommt Boris Johnson nicht in die letzten zwei, dann kann er es nicht mehr werden. Das heißt, alle möglichen Intrigen sind noch möglich in der Unterhaus-Fraktion, und da ist natürlich immer die Möglichkeit, dass ein Kompromisskandidat aus dieser Situation hervorgeht. Einige zum Beispiel sind schon dort sehr gut im Rennen. Da kann man zum Beispiel den Außenminister nennen, Jeremy Hunt, oder Michael Gove, der Umweltminister. Die beiden haben sich so positioniert, dass sie gerne noch mal verhandeln würden mit der Europäischen Union, obwohl dies ausgeschlossen ist. Das sagen sie ja auch. Michael Gove zum Beispiel hat dann gesagt, er könnte sich vorstellen, dass es eine weitere Verlängerung gibt. Nur das Problem dabei ist: Kaum hat Michael Gove das gesagt, fiel er zurück in der Popularität. Das heißt, das zeigt schon, dass die Konservativen eigentlich eine Verzögerung nicht mehr dulden werden, und das spricht natürlich für Johnson, der immer klar sagt, das ist das, was er möchte, und er ist natürlich unter den Parteimitgliedern extrem populär und die Partei glaubt, dass er derjenige ist, der die Partei noch retten kann, falls es im Herbst zu Neuwahlen kommt.
Stimmung in der Bevölkerung: "Die EU verlassen und das Thema erledigen"
Schulz: Dass diese Sorge vor einem ungeregelten Brexit zumindest im konservativen Lager soweit zurückgetreten ist, ist das auch insgesamt der Beleg dafür, dass eine Mehrheit einfach den Wunsch hat, aus diesem Chaos rauszukommen?
Lucas: Ich habe bei vielen Menschen, mit denen ich in Großbritannien gesprochen habe, die Leave favorisieren, den Eindruck, dass die meisten Menschen einfach die Komplexität nicht verstehen. Sie wollen eigentlich in erster Linie die EU verlassen und das Thema erledigen. Sie wollen es nicht mehr hören. Die wenigsten sind wirklich darüber im Klaren, was ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU bei WTO-Bedingungen, den Bedingungen der Welthandelsorganisation tatsächlich bedeuten würde in Bezug auf den Handel, dass man zunächst einmal an den Grenzen wahrscheinlich ein ziemliches Chaos erleben würde. Und natürlich ist die ganz große Frage, was passiert dann da in Irland. Da hat der irische Premierminister gestern angedeutet, dass es natürlich zu einer Befestigung dieser Grenze in irgendeiner Form kommen würde und Grenzkontrollen und so weiter. Das sind alles Fragen, die die nationalistisch gesinnten Engländer wirklich nicht auf dem Plan haben. Sie beschäftigen sich schlicht nicht damit.
Schulz: Ich wollte gerade sagen: Es ist ja nur die eine Hälfte der Briten. Das hat ja auch die Europawahl wieder gezeigt. Das ist schon fast eine Floskel, aber das Bild hat sich ja bestätigt, wie gespalten das Land ist. Wir haben die Brexit-Partei von Nigel Farage als stärkste Kraft gesehen. Auf der anderen Seite aber auch starke Zuwächse für die Liberal Democrats, die für ein zweites Referendum sind. Wie kommt das Land aus dieser Polarisierung raus?
Lucas: Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage. Normalerweise lösen wir in Großbritannien solche Situationen mit Unterhaus-Wahlen. Die Formel ist im Grunde genommen, der Premierminister muss sich eine Mehrheit dafür besorgen. Das hatte ja Frau May versucht in 2017 und es ist katastrophal daneben gegangen und sie hat ihre Mehrheit verloren. Aber die Partei, die Konservativen hoffen, dass sie dort einen Durchbruch bekommen können, indem sie eine sehr harte Linie fahren in möglichen Unterhaus-Wahlen und dabei die Unterstützung von der Brexit-Partei aufsaugen wie ein Staubsauger und dort eine Mehrheit bekommen könnten. Nur die Hochrechnungen, die basieren auf Meinungsumfragen, die deuten eher darauf, dass es wieder zu einer Situation im Parlament käme, wo es keine klare Mehrheit gäbe.
Schulz: Viel Mut können Sie uns heute nicht machen.
Lucas: Nein, auf gar keinen Fall.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.