Es ist eine Mischung aus professioneller Gelassenheit und Sorge vor dem Unbekannten, wie in Brüssel auf Boris Johnson als künftigen britischen Premier reagiert wird. Dabei ist immer wieder ein Satz zu hören: An der Sachlage rund um das Brexit-Austrittsabkommen habe sich auch mit dem Personalwechsel nichts geändert.
So erklärte EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans wenige Minuten vor Bekanntgabe des Ergebnisses, Großbritannien und die Europäische Union würden an ihrem Abkommen festhalten. Man wolle sich anhören, was Boris Johnson zu sagen habe.
Doch die rote Linie ist klar: Das Austrittsabkommen neu zu verhandeln, um etwa nach Alternativen zu der Auffanglösung für Nordirland zu suchen, dem sogenannten Backstop – das soll es nicht geben.
Ausloten von Spielräumen
EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier twitterte, er freue sich auf eine konstruktive Zusammenarbeit und die Ratifizierung des bestehenden Scheidungsvertrags, um einen geordneten Austritt zu schaffen.
Damit stellt sich die Frage, welche Spielräume sich überhaupt für die Gespräche mit Johnson ergeben. Brüssel hat sich lediglich bereit erklärt, die politische Erklärung nachzubessern, die die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU skizziert. Am rechtlich nicht bindenden Dokument zu arbeiten, das dürfte Johnson allerdings nicht genügen.
Sollte er sich in dieser Verhandlungssackgasse dann doch wie angedeutet zu einem No-Deal-Brexit entschließen, dann wäre auch die Diskussionsgrundlage über die künftigen Beziehungen eine andere. Das könnte auch eine Eiszeit in der Zusammenarbeit einleiten, in der sich die EU auf ihre Top-Drei-Prioritäten zurückzieht: Die Rechte der EU-Bürger schützen, das Scheidungsgeld aus London eintreiben und das irische Karfreitagsabkommen am Leben halten.
Noch streckt Brüssel allerdings die Hand aus: "Die nachvollziehbaren Punkte in der britischen Debatte gehören meiner Meinung nach in die Debatte über die Erklärung über unsere künftigen Beziehungen und da hat Ursula von der Leyen auch deutlich gemacht, auf neue britische Vorschläge zu hören", sagt der CDU-Europaabgeordnete David McAllister.
Überraschende Wendung?
Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte ebenso in Aussicht gestellt, den Brexit-Termin Ende Oktober zu verschieben, vorausgesetzt, es liegen gute Gründe vor. Die könnten möglicherweise mit Neuwahlen oder einem weiteren Referendum über den Brexit begründet werden.
Jens Geier, Chef der Europa-SPD, sieht darin "ein politisches Signal, die Tür offen zu halten, aber das das hat dann auch Konsequenzen, dass es zum Beispiel einen britischen Kommissar geben müsste, der am 01.11. die Arbeit aufnimmt, der sich aber davor dem Anhörungsverfahren im EP stellt, da laufen jetzt Fristen ab, da kann man vieles nachholen, aber irgendwann ist auch mal Schluss".
Der Druck, sich klar zu positionieren, steigt also. Bis Boris Johnson konkret wird, heißt es in Brüssel zunächst: abwarten.
Katarina Barley, Vize-Präsidentin des Europaparlaments und SPD-Politikerin mit britischen Wurzeln, sieht in der Wahl Johnsons auch "vielleicht eine Chance, weil Boris Johnson ist so unberechenbar, dass er vielleicht der Einzige ist, dem es gelingt, dem britischen Volk etwas zu vermitteln, was bisher niemandem gelungen ist zu vermitteln, zum Beispiel, dass es jetzt eben doch so sein muss, mit diesem Abkommen, oder ob er ein zweites Referendum ankündigt."
Das könnte eine überraschende Wendung sein. Ob sie eintritt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.