Der Rabin-Platz in Tel Aviv ist ein eher weltlicher Ort. Bekannt für die Demonstrationen der israelischen Friedensbewegung. Gestern Abend aber wurde dort gebetet. Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, beginnt bereits am Vorabend. Vorne standen die Männer, dahinter die Frauen. Fast alle in weiß gekleidet, mit Masken und Abstand zueinander. Zumindest diese Gläubigen hielten sich also an die Empfehlung der israelischen Regierung. Draußen zu beten und nicht in den Synagogen.
"Als Premierminister bete ich jedes Jahr an Jom Kippur in der Synagoge", sagte Benjamin Netanjahu in einer Videobotschaft an die Israelis. "Aber diesmal möchte ich Sie darum bitten, worum Sie bereits die Rabbiner gebeten haben: Gehen Sie dieses Jahr nicht in die Synagogen. Bleiben Sie draußen und schützen Sie damit Ihr Leben."
Jom Kippur: Die Synagogen sind offen
Jom Kippur, der Tag der Sühne, ist in Israel auch ohne das Virus ein außergewöhnlicher Tag. Viele Juden fasten. Auf Fernseh- und Radiosendern herrscht Funkstille. Autos fahren nur in absoluten Ausnahmefällen. So wie hier in Tel Aviv fahren die Menschen mit ihren Fahrrädern auf den autofreien Straßen. Am Rabin-Platz trug etwa die Hälfte der Menschen zeitweise keine Masken. Und das, obwohl sich pro Kopf in Israel so viele Menschen mit dem Coronavirus infizieren, wie in kaum einem anderen Land.
Vor Monaten hatte die Regierung eine rote Linie definiert. 800 schwer an COVID-19 Erkrankte könne das Gesundheitssystem aushalten. Mehr nicht. Diese rote Linie wird schon bald überschritten werden. Das Virus soll auch in Synagogen häufig übertragen worden sein. Deshalb beschloss die Regierung, sie zu schließen. Nicht jedoch an Jom Kippur. Für diese Ausnahme hatte sich auch Arieh Deri eingesetzt. Koalitionspartner von Netanjahu, Innenminister und Vertreter einer ultra-orthodoxen Partei.
"Wir sind ein jüdischer Staat. Dass die Synagogen an dem heiligen Tag Jom Kippur geschlossen werden, ist undenkbar. Es hat auch eine symbolische Komponente. Aber ja: Ich bete draußen. Und auch die Rabbiner sind bemüht, so gut es geht draußen zu beten."
Epidemiologe: "Könnte zur größten Menschenansammlung der Welt kommen"
Die neu nachgewiesenen Infektionen bei ultra-orthodoxen Israelis stiegen zuletzt extrem an. Zwar riefen viele Rabbiner in der Tat dazu auf, draußen zu beten. Teile der ultra-orthodoxen Gesellschaft halten sich jedoch aus Prinzip nicht an Vorgaben des Staates. Hagai Levine macht all das große Sorgen. Er ist Epidemiologe und Professor an den Hadassah-Krankenhäusern in Jerusalem.
"Theoretisch könnte es in dieser Zeit in Israel zur größten Menschenansammlung der Welt kommen. In Synagogen oder auch draußen. Und das mit dem Segen der Regierung. Was für eine Botschaft senden wir damit aus? Nach Jom Kippur wird es ernst, aber vorher könnt Ihr euch alle noch mal treffen. Das ist die völlig falsche Botschaft. Die Menschen müssen wissen: Die Lage ist schon jetzt sehr schlecht."
Rasant steigende Infektionszahlen
Vor etwa zehn Tagen feierten die Israelis das jüdische Neujahrsfest. Viele hielten sich an die Regeln. Manche nicht. Aktuell steigen die Infektionszahlen rasant. Hagai Levine befürchtet, dass sich das nun wiederholt. Dass in etwa zehn Tagen die Infektionen des Jom Kippur dokumentiert werden. Levine gehört einem wissenschaftlichen Gremium an, das die Regierung berät. Aber, sagt der Arzt, die Regierung habe nicht auf seine Gruppe gehört.