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Tour de France
Lassen sich die Leistungen von Jonas Vingegaard erklären?

Über die ersten 2.600 Kilometer der Tour de France trennen die beiden Favoriten Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar nur zehn Sekunden. Dann distanziert Vingegaard den Kontrahenten um mehrere Minuten. Handelt es sich um eine glaubhafte Leistung?

Von Tom Mustroph |
20-07-2023 Tour De France Tappa 18 Moutiers - Bourg En Bresse 2023, Jumbo - Visma Vingegaard, Jonas Bourg En Bresse PUBLICATIONxNOTxINxITAxFRAxNED
Jonas Vingegaard ließ Pogacar auf der 16. Etappe zum ersten Mal hinter sich. (IMAGO / Sirotti / IMAGO / Fotoreporter Sirotti Stefano)
Jonas Vingegaard kann die Zweifel immerhin nachvollziehen. Auf der Pressekonferenz nach der 17. Etappe sagt er: "Ja, ich kann verstehen, dass es schwer ist, dem Radsport zu glauben nach der Vergangenheit, die er hatte. Aber ich glaube, heute ist es anders als vor 20 Jahren. Und ich kann aus vollem Herzen sagen, dass ich nichts nehme. Und ich würde auch nichts nehmen, was ich nicht meiner Tochter geben würde. Und ihr würde ich definitiv keine Drogen geben.“
Das klingt gut. Vingegaards Pech ist, dass sich viele Träger des Gelben Trikots ähnlich ausdrückt haben. Auch die, die später des Dopings überführt wurden.

Leistung ergibt sich mathematisch

Der Trainingswissenschaftler Aike Visbeek geht rational an die Sache heran: “Wenn man einen perfekten Zeitfahrkurs für Jonas Vingegaard zeichnen müsste, würde er aussehen wie der, den wir hatten. Dann macht Pogacar noch den großen Fehler mit dem Radwechsel. Das kostet ihn 30 Sekunden. Vingegaard gewann schon 30 Sekunden in den Abfahrten und den Kurven. Das ist eine Minute."
Und die "restlichen 30 Sekunden" könne man damit erklären, "dass ihm der Kurs mehr liegt". Visbeek führt aus: "Wenn man also seine Mathematik macht und auf die Fakten schaut, dann ist da nichts, worüber man irgendwie spekulieren muss. Es ist einfach eine tolle Leistung."
Visbeek arbeitet bei der Tour für den belgischen Rennstall Intermarche Circus Wanty. Er gehört zur neuen Generation der Trainer, die von sich behauptet, nicht auf Pharmazie, sondern auf Trainingswissenschaft zu setzen.
Bei Mauro Gianetti ist das etwas anders. Er war in Dopingskandale verstrickt. Jetzt ist er Rennstallchef von Tadej Pogacar, dem großen Kontrahenten von Vingegaard. Auch er hält die Leistung des direkten Rivalen für komplett nachvollziehbar: „Tadej ist nicht auf seinem Niveau. Vingegaard hingegen ist auf seinem höchsten Niveau und erntet jetzt das, was er sich verdient hat.“

Leistungssteigerung durch Material, Training und Fokussierung

Natürlich haben die Rekordfahrten von Pogacar und Vingegaard bei der Tour Aufsehen erregt. Beide waren am Tourmalet schneller als alle nachweislich gedopten Radprofis zuvor. Die Standarderklärung für das generell höhere Leistungsvermögen der aktuellen Rennfahrergeneration lautet zusammengefasst: Besseres Material, besseres Training, extremer Fokus auf den Sport.
Jumbo-Visma hat früh damit angefangen. Der Rennstall entsteht vor genau zehn Jahren aus den Trümmern des von Dopingskandalen gebeutelten Rabobank-Teams, der neue Name ist zunächst Team Blanco.
Richard Plugge war damals Aufbauhelfer und ist jetzt Rennstallchef: „Der Firmenname ist noch immer Blanco. Und wir wollten es anders machen als andere Teams, mit einem weißen Blatt Papier starten und die Vergangenheit hinter uns lassen. Aber wir wollten auch nach vorn gucken, es auf andere Art machen. Und von 2015, 2016 an haben wir viel mehr Energie und Geld in Aerodynamik, Material, Ernährung und auch Schlaf gesteckt als viele andere Teams.“
Durch besseres Material können insgesamt 30,40 Watt im Vergleich zur Vergangenheit eingespart werden. Zur Einordnung: Ein Profi im Tour-Peloton muss über längeren Zeitraum mehr als 300 Watt treten.

Auch Teamtaktik spielt entscheidende Rolle

Den Abstand zwischen Vingegaard und Pogacar begründet Plugge hingegen mit Teamtaktik, mit dem Versuch, über Tempoarbeit Pogacar regelrecht zu brechen: „Es ist ein Prozess von zweieinhalb Wochen, in dem wir, ich suche jetzt nach einem netteren Wort, Pogacar leiden lassen wollten. Und dann brach er zusammen.“
Plugge erklärt es mit einem drastischen Beispiel simpler Mechanik: „Es ist, wie wenn etwas mit einer Säge schneidet. Man muss immer wieder sägen, und plötzlich hat man es geschafft. Genau das haben wir die letzten zweieinhalb Wochen gemacht. Und dann, wenn er bricht, kommen auch diese Abstände. Wenn man auf die Leistungsdaten schaut, dann sind sie über zweieinhalb Wochen konsistent für Jonas.“

Leistungsdaten von Vingegaard nicht transparent

Hilfreich wäre es, wenn der Rennstall die Leistungsdaten des designierten zweifachen Toursiegers veröffentlichen würde. Einige Tour de France-Profis halten das durchaus für sinnvoll. Denn erst mit Transparenz lässt sich Vertrauen wiederherstellen.

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„Ich fände das interessant. Dann kann man das auch anders beurteilen. Es gibt doch all diese Daten, und ich verstehe nicht, warum man die nicht der Öffentlichkeit vorstellt, auch die der besten Fahrer.“
Das sagt Lilian Calmejane. Er hat seine Leistungsdaten beim Zeitfahren auf Twitter veröffentlicht. Jonas Vingegaard könnte dies auch tun. Damit die einen den Respekt vor seiner Leistung auch mit Zahlen unterlegen können und die anderen, die Zweifel haben, diese Zweifel mit den Daten abgleichen können.