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Jonathan Franzen: „Crossroads“
Die Erfindung unserer Gegenwart

Nach sechs Jahren legt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen einen weiteren dickleibigen Roman vor. „Crossroads“ bildet den Auftakt zu einer Trilogie, in deren Mittelpunkt die Familie Hildebrandt steht - die weder aus dem Bilderbuch stammt, noch dem Durchschnitt entspricht.

Von Shirin Sojitrawalla |
Jonathan Franzen: "Crossroads"
Jonathan Franzen schreibt über die Konflikte im Amerika der 1970er-Jahre (Cover: Rowohlt Verlag / Foto: Janet Fine)
Alles wie immer bei Franzen: irgendwo im Mittleren Westen, ein Vorort, eine amerikanische Familie, Vater, Mutter und vier Kinder, die so unterschiedlich sind, wie es Romanen gut ansteht. Vater Russ ist ein sexuell unterforderter Pfarrer, Mutter Marion eine instabile Hausfrau und ihre Tochter und ihre drei Söhne plagen sich ausgiebig mit den Unsicherheiten ihres jeweiligen Alters. Es gibt wenige Autoren, die Lebensläufe so herrlich entgleiten lassen wie Jonathan Franzen.
Diesmal schnüffelt er besagter Familie, den Hildebrandts, hinterher. Ein christlicher Haushalt, weswegen die zwei großen Kapitel, in die sich die mehr als 800 Seiten des Romans teilen, mit den wichtigsten christlichen Feiertagen überschrieben sind: Advent und Ostern. Wir schreiben das Jahr 1971. Alte weiße Männer gab es schon damals, auch wenn sie noch niemand als solche brandmarkte. In den Augen seiner einzigen Tochter Becky ist Vater Russ ein Loser par excellence:
"Er war ein großgewachsener, gutaussehender Mann, aber für Becky machten sein schwarzer Talar und die fromme Ernsthaftigkeit seiner Vortragsweise alles Ansehen, das er als Mann in der Welt besaß, mehr als zunichte. Sie saß da wie erstarrt, wand sich aber innerlich und zählte die Sekunden, bis er den Mund halten würde. Mit einer Klarheit, die sich ihrer Rückkehr nach langer Abwesenheit verdankte, erkannte sie auf einmal, wie sehr sie es immer gehasst haben musste, die Tochter eines Pfarrers zu sein. Die Väter ihrer Freunde entwarfen Gebäude, heilten Krankheiten, verfolgten Kriminelle. Ihr Vater war wie ein Kreuzmacher, nur schlimmer. Sein aufrichtiger Glaube und seine Heiligkeit waren ein Geruch, von dem schon immer die Gefahr ausgegangen war, dass er bleibend an ihr haften würde, wie der Gestank von Chesterfields, nur noch schlimmer, weil er nicht abgewaschen werden konnte."

Eine amerikanische Familie

Schicksal Pfarrerstochter. Nicht nur Becky bekommt die Möglichkeit, ihre Sicht auf ihre Eltern und ihre Familie loszuwerden, sondern auch die anderen. Kapitelweise ändert sich die Perspektive, aus der Franzen erzählt, auch wenn er es durchweg in der dritten Person Singular tut. In seinen "Zehn Regeln für den Romanautor" im Essayband "Das Ende vom Ende der Welt" rät Franzen unter Punkt vier: "Schreibe in der dritten Person, wenn sich eine wirklich markante Ich-Erzählerstimme nicht unwiderstehlich anbietet."
Bis auf das Küken der Familie, Judson, kommen im Roman alle Figuren zu ihrem Recht, ganz ähnlich wie in seinem ersten großen Erfolgsroman "Die Korrekturen". Auch die Konflikte, Sorgen und Nöte der Familie im neuen Roman sind einem aus Leben und Literatur bekannt: Männer, die ihren älter gewordenen Frauen die kalte Schulter zeigen, frustrierte Gattinnen, die ihr Geld auf der Couch ihrer Therapeutin verschleudern, Studenten mit moralischen Allmachtsphantasien, Teenager im Drogenrausch. Das Übliche eben. Eine Familie, die weder aus dem Bilderbuch stammt, noch dem Durchschnitt entspricht.
An einer Stelle heißt es, das Familienleben gleiche einem Highschool-Mikrokosmos. Die Mutter der Familie, Marion, gehört darin zwar nicht zu den Beliebten, im Roman aber zählt sie eindeutig zu den interessantesten Figuren, auch weil ihr Lebenslauf so manche 180-Grad-Drehung wagt. So verbrachte sie, bevor sie Pfarrersfrau wurde, einige Zeit in der geschlossenen Psychiatrie. In einer Rückblende schildert der Roman ihre damals zunehmend enger werdende Weltsicht, ihren psychotischen Ausnahmezustand:
"Überall Rot. Sie kam von dem Rot nicht los. Es war die Farbe seines Hauses. Er signalisierte damit, dass er immer schon da war, wohin sie sich auch wandte. Rote Schleifen, rote Bänder. Rot gestreifte Zuckerstangen. Funkelnde Sterne und Halbmonde aus metallisch rotem Karton. Das rote Haus. Das rote Auto. Das Rot im Waschbecken, damals in der Pension. Der rote Bollerwagen. Der rote Bollerwagen. Der rote Bollerwagen. Das Böse verfolgte sie schon ihr ganzes Leben, und nun ließ seine Farbe ihre Welt explodieren, und nirgends tat sich eine Zuflucht auf. Es fand sie in ihrem Badezimmer, dem Badezimmer ihrer Wohnung. Rot war auch in ihr, und es kam heraus. Sie war nichts als eine dünnhäutige, zum Bersten mit Rot gefüllte Blase. Rot war an ihren Händen, Rot an ihren Sachen, rot waren der Boden und die Wände, an denen sie sich die Hände abwischte. Rot löschte ihren Verstand aus. Frohe Weihnachten."

Sex sells

Das erinnert an Hitchcocks Film "Marnie", in dem Tippi Hedren bei der Farbe Rot buchstäblich rot sieht. Auch bei Franzen markiert die Farbe einen seelischen Alarmzustand. Für Extremsituationen, in dem Verstand und Körper kollabieren, für wahnhafte Zustände also, hat Franzen ein Faible. Später im Roman widmet er sich mit akribischer Genauigkeit den Drogenexzessen des mittleren Sohnes Perry. In solchen Szenen zoomt Franzen seine Figuren ganz nah heran, scheint dann hinter ihrer Stirnhöhle zu nisten, sie gleichzeitig zu steuern und zu verfolgen.
Zurück zu Mutter Marion. Zu Beginn gleicht sie einer übergewichtigen Mutter in einem wohlbehüteten Vorort von Chicago, die mit der Herablassung ihres Gatten kämpft wie mit andauernden Hungergefühlen und üppiger werdenden Hüften. Ihre psychische Instabilität hat sie an ihren Sohn Perry, der Drogen vertickt und später sensationell abstürzt, vererbt. Von ihrem Mann Russ, der in einer streng mennonitischen Familie groß geworden ist, trennen sie Welten. Doch sein Glaube hindert ihn nicht daran, mit einer Frau aus der Gemeinde zu flirten, wobei flirten untertrieben ist, weil diese Frau ihn sexuell in höchstem Maße erregt.
Wie überhaupt Sex eine herausragende Rolle in dieser Pfarrersfamilie spielt. Bloß, was sind das für Sätze, in denen Franzen vom Verlangen des Vaters erzählt. "Der bloße Klang ihrer Stimme ließ ihm das Blut in die Lenden strömen", heißt es da. Oder: "Ihre Wärme drang in seinen Körper und strömte ihm geradewegs in die Lenden." Oder: "Es traf ihn wie eine volle Ladung Testosteron."
Ist das ernst gemeint? Einfach schlechter Stil? Die einzig vernünftige und Franzens Ehre rettende Erklärung ist, es als Figurenrede zu deuten. Bei einem Satz wie "Die Lust war ungeheuerlich" möchte man aber dennoch schreien: Geht's etwas genauer, Mr Franzen?
Dass Vater Russ all diese Stilblüten fabriziert, ist von daher folgerichtig, als er wirklich als Depp vor dem Herrn gezeichnet ist. Ein schwacher Daddy, ein Verlierer, der sich immer wieder gekonnt ins Aus manövriert.

Sich selbst verachten für das, was man ist

Und doch einer, der im Grunde seines Herzens weiß, dass er seiner Frau Unrecht tut:
"Er wusste, dass es unfair war, etwas darauf zu geben. Es war unfair, dass er sich am Anblick seiner Frau schmerzhafter stieß als an vielen objektiv schlechter aussehenden Frauen in New Prospect. Es war unfair, dass er, als sie jung war, ihren Körper genossen und ihr dann Kinder und tausend Pflichten aufgebürdet hatte, nur um sich jetzt derart unwohl zu fühlen, wann immer er sich mit ihr und ihrem traurigen Haar, ihrem wirkungslosen Make-up, ihrem offenbar selbstverachtenden Kleidungsstil in die Öffentlichkeit wagen musste. Sie tat ihm leid, weil es so unfair war; er hatte ein schlechtes Gewissen. Aber er konnte nicht umhin, auch ihr Schuld daran zu geben, posaunte sie doch mit ihrer Unattraktivität geradezu heraus, wie unglücklich sie war. Manchmal, wenn sie bei einem kirchlichen Abendessen besonders pummelig aussah, spürte er, dass es ihr Genugtuung bereitete, wenn er sie unansehnlich fand, ja dass sie sich wünschte, ihn mit ihr gemeinsam dafür leiden zu lassen, was er und die Ehe aus ihr gemacht hatten, aber meistens schloss ihr Kummer ihn aus."
Selbstverachtung zeichnet nicht nur angeblich den Kleidungsstil seiner Frau aus, sondern alle Hildebrandts verachten sich irgendwie: Sie verachten sich dafür, wer sie sind, wie sie leben, wie sie ticken. Ihre Begierden und Sehnsüchte sind so gar nicht kompatibel mit ihrem irrsinnigen Streben danach, ein guter Mensch zu sein, respektive zu werden. Dieser brennende Wunsch vereint sie. Leider verträgt er sich suboptimal mit den so genannten Todsünden, die diese christliche Familie aus dem Effeff beherrscht: Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit.

Menschliche Ausnahmezustände

Dem großen Menschenkenner Franzen ist nichts Menschliches fremd. Sein neuer Roman bildet den Auftakt zu einer Trilogie mit dem größenwahnsinnigen Titel "Ein Schlüssel zu allen Mythologien". Im ersten Band spielt Religion eine große Rolle, wobei Gott dieselbe Leerstelle füllt wie Sex, Drogen, Rock 'n' Roll. In den Momenten des Außersichseins ist Franzen seinen Figuren immer am nächsten. Es sind jene Szenen, die in Erinnerung bleiben, das Austicken der Mutter, die sexuellen Umtriebe des Vaters oder die Drogenexzesse des Sohnes Perry, der in der folgenden Szene einen Koks-Laberflash exerziert:
"Wie landete eine allsehende Wesenheit auf einer Klobrille, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war? Als er sein geistiges Auge auf die zurückliegenden Momente richtete, stieß es auf ein Hindernis. Der Fleck dunkler Materie schien größer geworden zu sein; konnte im Grunde nicht mehr als Körnchen bezeichnet werden; ließ sich vielleicht besser als beunruhigende Semitransparenz beschreiben, als dürftig umgrenzter Klecks. Er war nicht in der Lage, ihn zum Zweck genauerer Betrachtung zu fixieren, spürte aber dessen bösartige Sättigung mit Wissen, das dem seinen widersprach. Es war unglaublich! Unglaublich, dass Gott selbst eine Glaskörperflocke im Auge haben sollte! Gott war sehr, sehr zornig. Sein Zorn, für den es kein anderes Ventil gab, manifestierte sich in drei weiteren massiven Kicks in kurzer Folge. Wenn heftiger Exzess den Körper zur Strecke brachte, dann sollte es so sein."

Wegscheiden des Lebens

Nicht nur Perry, sondern auch alle anderen Familienmitglieder begleitet der Roman an Wegscheiden ihres Lebens, "crossroads", auf die der Titel anspielt. Franzen erzählt zeitversetzt von ihnen, blendet zurück und vor, die eigentliche Handlung umspannt die Jahre 1971 und 1972. Irgendwo weit weg tobt der Krieg in Vietnam, der uns heute an andere unrühmliche Auslandseinsätze der Vereinigten Staaten erinnert, wie auch die damaligen Debatten um Chancengleichheit, Frauenrechte, Rassismus und jugendlicher Absolutismus ihren Widerhall in der Gegenwart finden. Was heute unter dem Schlagwort "Wokeness" subsumiert wird, war schon damals studentischer Alltag. Und von Perrys Drogenmissbrauch zieht sich eine gerade Linie zur derzeitigen Opiatkrise in den USA.
Franzen blickt zurück und vermisst auch das Amerika von heute. Immer wieder pendelt er vom großen Ganzen zum Mikrokosmos Familie. Hier wie dort scheint sich das Unglück zu wiederholen, die Sünden zu vererben. Das gilt für außerehelichen Geschlechtsverkehr wie für unbotmäßige Auslandseinsätze der Armee. Natürlich wird auch das Thema Umweltschutz gestreift, ein Thema, das Franzen besonders am Herzen liegt. In seinem als Büchlein erschienenen Essay "Wann hören wie endlich auf, uns etwas vorzumachen" redet der manische Vogelbeobachter Franzen Tacheles:
"Das Ziel ist seit dreißig Jahren klar, aber trotz ernsthafter Anstrengungen haben wir uns ihm letztlich keinen einzigen Schritt angenähert. Heute sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse nahezu unbestreitbar. Wer jünger als sechzig ist, hat gute Chancen, Zeuge der radikalen Destabilisierung des Lebens auf der Erde zu werden – massiver Ernteausfälle, apokalyptischer Brände, implodierender Volkswirtschaften, gewaltiger Überschwemmungen, Hundert Millionen Flüchtlinge aus Gegenden, die wegen extremer Hitze oder andauernder Dürre unbewohnbar geworden sind. Wer unter dreißig ist, wird fast garantiert Zeuge all dessen sein."

Rassismus, Klassismus, Feminismus

Im Roman nimmt er diesen Faden auf, in dem er den Kohlebergbau in einem Reservat der Ureinwohner kritisch beäugt. Fragen der sozialen Gerechtigkeit spielen im Roman eine ebenso große Rolle wie Fragen der Herkunft und das Checken der eigenen Privilegien. Rassismus, Klassismus, Feminismus ziehen sich thematisch durch das Buch. Trübe Aussichten also, und kein Wunder, dass "Crossroads" der Titel eines berühmten Bluessongs von Robert Johnson ist. Auch Franzens Roman stimmt den Blues an, fleht zu Gott und fragt, womit wir das verdient haben.
Ins Deutsche übertragen hat den Roman die erfahrene Franzen-Übersetzerin Bettina Abarbanell, die an einer Stelle das Wort "fucking" mit "vögeln" wiedergibt und dabei den Vogelliebhaber Franzen bestimmt auf ihrer Seite wissen darf. Franzen wäre natürlich nicht Franzen, wenn er die menschlichen und gesellschaftlichen Abgründe nicht mitunter saukomisch konterkarierte. Besonders Vater Russ eignet sich als Witzfigur, aber auch Marion bietet in ihren neu entdeckten Attitüden und ihrem hemdsärmeligen Feminismus immer wieder Anlass zu großer Heiterkeit. Die Tektonik dieser Familie bildet das Zentrum des Romans.
In ihren Problemen sind die fünf Figuren absolut anschlussfähig, ja, es sind niedrigschwellige Konflikte, die der Roman auffährt. Die große Katastrophe ereignet sich erst im letzten Drittel der Geschichte, und am Ende strahlt das Licht dann einigermaßen warm und familienselig. Ein Kind wird geboren, Tochter Becky empfängt eine Tochter, die sie nicht zufällig "Grace" nennt, was Anmut, aber auch Gnade heißt. Eine christliche Tugend und die Möglichkeit für einen Neuanfang. Doch Becky selbst ist nicht bereit beziehungsweise gewillt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Sie, das Lieblingskind ihres Vaters, verzeiht ihren Eltern ihr Menschlichsein nicht. In einem Brief an ihren älteren Bruder begründet sie das so:
"Die Bibel sagt uns nicht, dass wir unseren Nächsten mögen sollen, denn man hat ja keine Kontrolle darüber, wen man mag. Ich tue mich tatsächlich schwer damit, die Eltern zu ehren, aber fairerweise muss gesagt werden, dass sie es mir auch nicht gerade leichtmachen. Dad ist grotesk unsicher, unsicherer denn je, die ganze Gemeinde weiß über seine Affäre mit einem Kirchenmitglied Bescheid (hat Mom zufällig erwähnt, dass er deswegen fast gefeuert wurde?), er hat sich einen Kinnbart wachsen lassen, der wie Schamhaar aussieht, und Mom benimmt sich, als wäre er Gottes besonderes Geschenk an die Welt. Versuch mal, das zu ehren. Ich bin absolut herzlich zu ihnen, aber nein, ich lade sie nicht zu mir ein, und nein, ich gehe an den Feiertagen nicht zu ihnen, denn 1. bin ich auch Teil von Tanners Familie, und 2. möchte ich, dass Grace in einem Haus aufwächst, in dem Frieden und Harmonie herrschen, und ich fürchte mich davor, was passieren würde, wenn ich mehr als fünfzehn Minuten mit ihnen verbringen müsste."

Der große Menschenkenner Franzen

Einmal mehr scheut sich Franzen nicht, sein Personal in filmreifen Szenen zu überhöhen. Diesmal fühlt man sich zuweilen an den Weihnachtsepisodenfilm "Tatsächlich Liebe" erinnert, was nicht nur an den ständigen Perspektivwechseln und den Schneemassen im Roman liegt, sondern auch an der sehr glatt abspulenden Konstruktion. Franzens filmische Erzählweise operiert souverän mit Schnitten, Cliffhangern und großen Effekten. Seine Figuren punkten dabei durchweg mit hoher Plastizität. "Crossroads" ist ein weiterer Familienroman aus dem Hause Franzen, der die Familie nicht feiert, sondern ihre strukturellen Probleme offenlegt. Wenn ganz am Ende ein Arbeiter sagt: "Nichts ist wichtiger als Familie" kann man dennoch nicht sicher sein, ob das bloß seiner beschränkten Lebenswelt zuzuschreiben ist oder die Botschaft des kinderlosen Autors.
Die Parallelen zu seiner eigenen Biografie sind unübersehbar, die Herkunft, die vielköpfige Familie, der Vorort im Mittleren Westen. An einer Stelle des neuen Romans beschreibt er einen Jungen, der an seiner Talgdrüse um die Nase herum reibt und dann an seinen Fingern schnuppert. Im übertragenen Sinne wahrscheinlich ein gutes Bild für sein eigenes literarisches Verfahren: am eigenen Nasenflügel reiben und dem Geruch auf den Grund gehen. Heraus kommen realistische Familienromane, geradeaus erzählt, anschaulich, abgründig, effektsicher. Romane, die sich bestens für üppig versponnene Filme eignen würden, so in der Art von "Magnolia" von Paul Thomas Anderson. Sehr merkwürdig eigentlich, dass bislang keines der Bücher verfilmt wurde.
In allen geht es um das uramerikanische Unterfangen Selbstverwirklichung. Alle Mitglieder der Familie Hildebrandt hecheln ihrer Einzigartigkeit hinterher. Die depressive Frage aller Fragen "Wozu?" beschleicht sie alle dann und wann. Franzen lässt seine Figuren zwar gnadenlos zappeln, bedenkt sie aber dennoch mit gütig ironischen Blicken. Es ist diese unschockierbare Haltung verqueren Familienverhältnissen gegenüber, die auch seinen neuen Roman auszeichnet. Er liebe Menschen, die in Schwierigkeiten steckten, hat er einmal gesagt. Welche Leser liebten die nicht? So hat man nach 800 Seiten alle Hildebrandts ins Herz geschlossen und möchte dringend wissen, wie es mit ihnen weitergeht.
Jonathan Franzen: "Crossroads"
aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Rowohlt Verlag, Hamburg. 825 Seiten, 28 Euro.