Manche Hunde mögen Zitronen. Andere mögen philosophische Gespräche. Ein Hund, der Zitronen mag, taucht zum ersten Mal im letzten der sieben Teile von Jonathan Franzens neuem Roman auf. Er heißt Choco und ist irgendetwas zwischen Labrador und Dackel. Er beschränkt sich hauptsächlich darauf, zu sabbern und dümmlich herumzutapsen. Die Menschen lieben ihn dafür. Mit dem anderen Hund, der für Franzens 800-Seiten-Epos eine Rolle spielt, haben Menschen eher Schwierigkeiten. Es ist der Pudel, der sich Faust als Geist, der stets verneint, vorstellt, als Teil von jener Kraft
"... die stets das Böse will, und stets das Gute schafft."
Dieses Zitatfragment aus Goethes Tragödie stellt Jonathan Franzen seinem belletristischen Versuch über die Reinheit voran. Um vom einen Hund auf den anderen zu kommen, streift Franzen durch ein halbes Jahrhundert, durchs ehemalige Ostdeutschland, die Vereinigten Staaten und den Dschungel Boliviens.
"Purity" ist der Titel und ein Thema des Romans. So lautet auch der Name von einer der Handvoll Hauptfiguren. Die nennt sich allerdings Pips. Anders als der Protagonist in Charles Dickens' "Große Erwartungen" ist Franzens Pip eine junge Frau und lediglich Halbwaise. Doch beiden Pips fehlt es an Geld und an gutem Rat – jedenfalls am Anfang.
"Es gab niemanden, der ihr sagte, dass es, wenn sie in der Welt mal Gutes tun wollte, vielleicht keine so gute Idee war, nach dem Collegeabschluss mit Studienschulden von 130'000 Dollar dazustehen. Niemand hatte ihr gesagt, dass die Zahl, auf die sie beim Vorstellungsgespräch mit Igor, dem Leiter des Direktmarketings bei Renewable Solutions, achten sollte, nicht die "dreißig- oder vierzigtausend Dollar" an Provision war, die er ihr schon im allersten Jahr in Aussicht stellte, sondern die 21.000 Dollar Grundgehalt, die er ihr anbot – oder dass ein so beredsamer Verkäufer wie Igor möglicherweise auch darin geschickt war, arglosen Einundzwanzigjährigen einen Scheißjob anzudrehen."
Das Wort "arglos" ist zutreffend. Pip bewahrt als Einzige in diesem Buch eine Art Unschuld, ein Zustand in den sich die meisten übrigen Akteure vergeblich zurücksehnen. Es sind Kräfte am Werk, die manchmal das Gute wollen, aber öfter das Böse schaffen.
"Purity" ist Jonathan Franzens fünfter Roman. Es ist der dritte in der Form aneinandergereihter Novellen, von denen jede für sich alleine stehen könnte. Diese Struktur erlaubt es Franzen, wie Dickens einen ganzen Reigen mehr oder weniger schillernder Nebendarsteller einzuführen.
"Purity" ist Jonathan Franzens fünfter Roman. Es ist der dritte in der Form aneinandergereihter Novellen, von denen jede für sich alleine stehen könnte. Diese Struktur erlaubt es Franzen, wie Dickens einen ganzen Reigen mehr oder weniger schillernder Nebendarsteller einzuführen.
Kaleidoskopischer Blick auf das Geschehen
Die unterschiedlichen Perspektiven eröffnen dem Leser einen kaleidoskopischen Blick auf die Geschehnisse insgesamt. Franzen vermag mit dieser Methode, jene Berührungspunkte zu schaffen, die aus scheinbar disparaten Teilen schließlich ein Ganzes machen. So gelangt man aus vielen Vergangenheiten in eine Gegenwart. Individuelle Schicksale erweisen sich als Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten.
Wie in "Die Korrekturen", Franzens Erfolgsroman von 2001, geht es in "Purity" um die Verheerungen der Pluto- und der Technokratie, um sexuelle Obsessionen und eine Mischung aus Ostalgie und Ost-Allergie. Wie in "Freiheit" von 2010 gilt die größte Aufmerksamkeit in "Purity" der weißen amerikanischen Mittelschicht. Und alle drei, ja alle fünf Romane von Jonathan Franzen sind Antworten auf die Frage: Was stimmt nicht mit uns? Ob diese Frage nun gestellt worden ist oder nicht.
"Die Kirche in der Siegfeldstraße stand jedem offen, der die Republik blamierte, und Andreas Wolf war eine solche Blamage, dass er sogar dort wohnte, im Keller des Pastorats, doch im Unterschied zu den anderen – den gläubigen Christen, den Freunden der Erde, den schrägen Vögeln, die an Menschenrechte glaubten oder nicht im Dritten Weltkrieg kämpfen wollten – war er keine geringere Blamage für sich selber."
Der Ort ist Ostberlin und die Zeit der Winter 1987.
"Andreas fand, dass die reifste totalitäre Leistung der Republik ihre Lächerlichkeit war. Zwar wurden Menschen, die den Todesstreifen zu überwinden versuchten, ganz unlächerlich erschossen, aber das hielt er eher für eine Eigentümlichkeit der Geometrie, eine Definitionslücke zwischen östlicher Flachheit und westlicher Dreidimensionalität, die man als gegeben voraussetzen musste, damit die Rechnung aufging. Solange man die Grenze mied, war das Schlimmste, das passieren konnte, das man bespitzelt, verhaftet und verhört wurde, im Gefängnis landete und sich das Leben ruinieren lies."
Hoffnung auf Vergebung
Andreas, der verstoßene, aber nach wie vor protektionierte Sohn von Parteifunktionären, betrachtet sein Leben als bereits derart ruiniert, dass er einen Mord begeht. Er tut es nicht gern, nicht ohne Zögern, und doch aus Überzeugung. Oder besser: Er hofft, diese Tat würde ihn von seiner Sucht befreien:
"(...) was bedeutete dieser Drang, mit Mädchen auf Mädchen das ewig gleiche Muster zu wiederholen, warum bekam er es nicht nur nie satt, sondern schien es sogar immer stärker zu wollen, ja warum war er mit dem Mund lieber zwischen Beinen als in der Nähe eines Gesichts(?...) Die Republik hatte ihn geformt (...), und eine der Rollen, die sie ihm zu spielen befahl, war anscheinend die des Assibräute-Aufreißers."
Statt eines Sparbuchs führt Andreas ein Koitus-Buch. Die Zahl der aufgerissenen Assi-Bräute liegt bei 52, als er Annagret in der Kirche an der Siegfeldstraße sitzen sieht. Annagret ist überirdisch schön und 15 Jahre alt. Annagret wird von ihrem Stiefvater missbraucht. Für sie, glaubt Andreas, zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Liebe zu empfinden, und diese Liebe soll ihn von seiner Phallus-Fixiertheit erlösen. Aber erst muss Annagrets Stiefvater dran glauben.
30 Jahre später wirbt dieselbe Annagret Pip in Oakland für das Sunlight Project an, das Andreas mittlerweile von Südamerika aus betreibt. Diese Organisation konkurriert mit WikiLeaks und Edward Snowden unter demselben Motto, nämlich: Geheimhaltung ist Unterdrückung, Transparenz ist Freiheit.
Verfechter und Erneuerer einer klassischen Literaturform
Jonathan Franzen hat sich als Verfechter und Erneuerer des klassischen Gesellschaftsromans einen Namen gemacht. Er plädiert in Essays immer wieder für altmodische Erzähltechniken und für Konvention. Der Leser sei ein Freund, sagt er, kein Feind, kein bloßer Zuschauer. Anders formuliert: James Joyce ruhe in Frieden, William Gaddis in Ehren, aber die Schuhe von Thomas Pynchon und Co. sind ausgelatscht, und Metaebenen hängen durch.
Die Rückkehr zur Tradition bedeutet für Jonathan Franzen freilich keineswegs eine Abkehr von den Anliegen mancher avantgardistischer Meister. Wie Don DeLillo interessiert er sich für die Systeme, die Gesellschaften am Laufen halten. Wie bei David Foster Wallace definieren die ideologischen, ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten einer Gesellschaft seine Figuren. Eine solche Gegebenheit ist die Dominanz der neuen Medien.
Andreas macht im 21. Jahrhundert als Whistleblower Karriere, der das Medium, dem er seine Prominenz verdankt, verabscheut. In der alten Republik hatte alles nur in Bezug zum Staat existiert. Diese Erkenntnis war der Reiz und der Fluch seines früheren Daseins. In der Gegenwart existiert alles nur in Bezug zum Internet. Diese Erkenntnis ist Reiz und Fluch von Andreas' Jetzt:
"Als Andreas richtig berühmt zu werden begann, hatte er für sich erkannt, dass der Ruhm als Phänomen ins Internet abgewandert war und dass dessen Architektur es seinen Feinden leicht machte, ihre eigene Version der Wolf'schen Geschichte zu erschaffen. Wie in der alten Republik konnte er die Hasser entweder übergehen und sich mit den Konsequenzen abfinden oder die Prämissen des Systems, wie aufgeblasen er es auch fand, akzeptieren und dessen Macht und Allgegenwärtigkeit steigern, indem er sich darin einbrachte."
Eine Identität ist nur dann gültig, wenn sie über eine Entsprechung im Netz verfügt. Andreas hat eingesehen, dass nicht nur der Ruhm als Phänomen ins Internet abgewandert ist, sondern dass sich ein entscheidender Teil des Lebens an sich dort abspielt. Man kann wochenlang seine Körperpflege vernachlässigen, nicht aber die ständige Optimierung seines virtuellen Ichs. Dabei sind Egos letztlich unwichtig:
"Es gab in dem neuen Regime eine Menge potenzieller Snowdens: Angestellte mit Zugang zu den Algorithmen, die von Facebook benutzt wurden, um die Privatsphäre seiner User zu Geld zu machen, und von Twitter, um vermeintlich selbstgenerierende Mems zu manipulieren. Doch kluge Menschen fürchteten das neue Regime in Wahrheit weit mehr als das, was man fürchten zu müssen es den weniger klugen Menschen eingebläut hatte, nämlich die NSA, den CIA – die eigenen Terrormethoden zu verschleiern, indem man sie dem Feind zuschrieb und sich als einzig wirkungsvolle Verteidigung dagegen präsentierte, war ein Verfahren, wie es im totalitären Lehrbuch stand -, und folglich hielten die meisten potenziellen Snowdens den Mund."
Jonathan Franzen ist als Don Quichotte der Internet-Kritiker bekannt. Dass er die Internet-Kritik einer Figur in den Mund legt, die in "Purity" keineswegs zu den Sympathieträgern gehört, spricht für ihn. Dass dozierende Analysen des Google-Facebook-Twitter-Totalitarismus sich in Grenzen halten, spricht für den Roman. Denn Franzen orientiert sich auch in dieser Hinsicht an Balzac und den Seinen: Sein Ziel mag eine comédie humaine sein, aber gespielt wird sie in häuslichem Rahmen, untheoretisch und nachvollziehbar. Aus Zwischenmenschlichkeiten sollen sich politische und globale Zusammenhänge erschließen, aus Geschichten Geschichte.
Porträt einer katastrophalen Ehe
"Meine Affäre mit Anabel hatte begonnen, sobald unsere Scheidung rechtskräftig geworden war."
So beginnt Thomas Aberant seinen Bericht. Was folgt, ist das Porträt einer katastrophalen Ehe. Tom und Anabel zerstören sich gegenseitig, während der Ostblock auseinanderbricht. Tom geht aus dieser Beziehung derart traumatisiert hervor, dass er noch drei Jahrzehnte später, neu liiert und als Chefredakteur eines investigativen Online-Pressedienstes etabliert, unter Albträumen leidet.
Dabei ist Anabel komplett aus seinem Leben verschwunden. Aus aller Leben, auch aus dem ihrer milliardenschweren Familie, deren Erbe sie verschmäht hat. Solange die Ehe noch währt und Tom sich als Journalist einen Platz zu erschreiben versucht, zieht sie es vor, sich als Künstlerin millimeterweise mit einer Kamera ihren vernachlässigten Körperteilen zu widmen und als Aktivistin die Agrarindustrie anzuprangern, in der die Lebensmitteldynastie, der sie entstammt, ihr Vermögen gemacht hat.
Anabel ist Radikalfeministin und Vegetarierin. Als Vegetarierin bringt sie Tom dazu, monatelang mindestens zwei Mal pro Woche Spaghetti mit Auberginen und Tomaten nach sizilianischer Art zu essen. Als Radikalfeministin, schafft sie es, dass er ihr zuliebe im Sitzen pinkelt.
"Wenn ich mich hinsetzen muss...",
so ihre Argumentation
"... warum solltest du es nicht auch tun?"
Tom habe keine Ahnung, wie es sich anfühle, bei jedem Besuch auf der Toilette daran erinnert zu werden, wie unfair es sei, eine Frau zu sein:
"Sie heulte richtig los. Um sie zum Aufhören zu bewegen, blieb mir nur eine Möglichkeit, nämlich auf der Stelle jemand zu werden, der die Tatsache, dass ich im Stehen pinkeln konnte, als genauso schmerzlich empfand wie sie. Also nahm ich die Anpassung meiner Persönlichkeit (...) vor und pinkelte fortan, wann immer sie mich hören konnte, im Sitzen."
Im Schlafzimmer sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern allerdings durchaus willkommen. Der Sex ist gut, sehr gut sogar, wenn auch von den Mondphasen abhängig. Anabel kommt nur in den drei Tagen in den Genuss von Orgasmen, in denen der Mond am vollsten ist.
Tom und Anabel führen endlose Diskussionen über Plüschtiere und die Korruption des Geldes. Es sind Debatten die im Nichts beginnen und im Nichts enden:
Tom und Anabel führen endlose Diskussionen über Plüschtiere und die Korruption des Geldes. Es sind Debatten die im Nichts beginnen und im Nichts enden:
"Jede ihrer Äußerungen gab mir eine Reihe von Antwortmöglichkeiten, die eine jeweils andere Reaktion hervorrufen würden, auf die ich wiederum mit einer Reihe verschiedener Äußerungen antworten könnte, und ich wusste, wie schnell ich mich acht oder zehn Schritte weit auf einen gefährlichen Ast hinauslocken ließe und was für eine verzweiflungsvoll langwierige Aufgabe es wäre, mich von dort bis zu einem neutralen Ausgangspunkt zurückzuhangeln, denn das würde selbst wieder Äußerungen hervorrufen, auf die ich notgedrungen mit einem gewissen Prozentsatz an verkomplizierenden Antworten reagieren müsste."
Mit Power-Point-Präsentationen dieses Dialogschemas könnte sich ein Paartherapeut eine Villa an bester Lage verdienen.
Dreidimensional, aber formelhaft
Franzen stattet alle seine Protagonisten mit Kindheit, Jugend und Seelenschäden aus. So entstehen dreidimensionale Figuren, die nebeneinander betrachtet jedoch eine gewisse Formelhaftigkeit aufweisen. Franzens Männer sind Raubtiere und die Frauen manipulative Opfer, die nur zu gerne zur einzigen Waffe greifen, die den Männern fehlt, nämlich zum Kinderkriegen. Mit ihrem Besitzanspruch auf menschliches Leben quälen die Mütter in diesem Roman dann sowohl die Männer als auch die Kinder.
Außerdem hüten die meisten Akteure in "Purity" Geheimnisse. Pips Mutter verrät ihr nicht, wer ihr Vater ist. Tom verrät niemandem etwas über eine Reise, die er kurz nach dem Fall der Mauer nach Berlin unternahm. Und der Transparenz-Guru Andreas lebt in ständiger Angst, jemand könnte in ihm den Mörder erkennen, der er ist. Pip macht die Erfahrung...
"... dass Erwachsene die Dinge eben durchstanden und ihre Geheimnisse für sich behielten."
Es braucht kein Wissen mehr
Es braucht kein Wissen mehr
Ist Reinheit mit Geheimnissen möglich? Ist nicht jedes Geheimnis ein dunkler Fleck? Bleiben Absichten gut, wenn manche davon verdeckt sind? Früher hieß es, Wissen sei Macht. Heute, das demonstriert Franzen am deutlichsten am Beispiel des professionellen Bloßstellers Andreas, braucht es kein Wissen mehr. Informationen genügen.
Bisher handelten alle Romane von Jonathan Franzen im Kern von Familien. Das gilt auch für "Purity". Allerdings ist die Familie diesmal abstrakter Natur. Familiäre Verbindungen werden verschwiegen, abgebrochen oder vernachlässigt und gewinnen dadurch erst recht an Kraft. Auf ihre Herkunft, und sei diese wie im Fall der vaterlosen Pip ein Rätsel, führen die Figuren ihr Wesen und ihre Probleme zurück. Tom beschwört dafür sogar seine Großmutter im Jena der 1950er-Jahre herauf, dem seine Mutter Clelia als Braut eines Amerikaners in die Vereinigten Staaten entfloh:
"Die Wohnung in der Adalbertstraße war in der Gewalt eines Magens. Wenn Clelia abends die Augen zumachte, konnte sie ihn sich in der Dunkelheit, über ihrer Pritsche schwebend vorstellen. Äußerlich straff und glänzend, eine hellrosafarbene Verdauungsaubergine, von der schwärzliche Venen abzweigten, war der Magen im Inneren rot und zerfetzt, voller ätzender Flüssigkeiten, und konnte sich jederzeit, vor allem frühmorgens, wie ein brüllender Säugling zusammenkrampfen.
Dieses unselige Organ hatte seinen Sitz im Körper von Clelias Mutter Annelie. (...) Der Magen war sorgfältig auf Clelias Selbstmitleid geeicht. Er konnte sie hören, wenn sie sich in den Schlaf weinte; das mochte er nicht und spie Blut und Galle auf die mütterliche Bettwäsche, die Clelia dann abziehen und einweichen musste. Über Blut ließ sich nicht diskutieren. Egal, wie grausam ihre Mutter zu ihr war, sie hielt die blutige Trumpfkarte des Krankseins in der Hand."
Gelegentlich liest sich "Purity" wie das äußerst unterhaltsame Protokoll eines Laborexperiments. Was geschieht, wenn man Anzahl X Psychopathen aufeinander loslässt? Es ergeben sich Dramen ohne Ende.
Nun hat Jonathan Franzen in den letzten Jahren zwar einiges an Witz verloren, doch wie er in diesem Roman beweist, ist ihm die Selbstironie noch nicht ganz abhanden gekommen.
"Früher einmal hatte es genügt, 'Schall und WahnÄ oder 'Fiesta' zu schreiben. Heute dagegen war Umfang unerlässlich. Dicke. Länge."
So heißt es an einer Stelle im Zusammenhang mit einem scheiternden Schriftsteller. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Jonathan Franzen keinen Roman unter 600 Seiten geschrieben hat. Und weiter:
"So viele Jonathans. Eine wahre Plage von Literatur-Jonathans. Liest man nur die New York Times Book Review, möchte man meinen, Jonathan sei der häufigste Männername in Amerika. Gleichbedeutend mit Talent, Größe, Ehrgeiz, Vitalität."
Als das dicke Buch des besagten Schriftstellers schließlich erscheint, wird es von der Kritik verrissen:
"aufgebläht und äußerst unangenehm", Michiko Kakutani, New York Times."
Tatsächlich hat die päpstliche Literaturkritikerin Michiko Kakutani Jonathan Franzens "Purity" in der "New York Times" geradezu ungewöhnlich überschwänglich gelobt. Es gibt auch wirklich viel Lobenswertes: Wie mühelos der Autor seine Stimme in zahlreiche Tonlagen bringt; wie gut er Eindrücke von Orten und Epochen zu vermitteln vermag oder die Atmosphäre in einem Raum, in dem sich zwei Menschen beinahe zu Tode hassen.
Schwächen sind Stärken
Die Schwäche dieses Romans sind seine Stärken. "Purity" funktioniert im Einzelnen besser denn als Ganzes. Aber nur als Ganzes ergibt "Purity" einen Sinn. Die Geschichten von Pip und Andreas und Tom entfalten unabhängig voneinander mehr Wirkung als in der sorgfältigen Anordnung und im Zusammenhang, in die sie Franzen gebracht hat. Doch nur in ihrer sorgfältigen Anordnung und zusammen genügen die Geschichten Franzens Anspruch, mehr zu sein als hübsche Vignetten privater Befindlichkeiten. Es geht um Großes: um moralischen Absolutismus und einen neuen Totalitarismus, um archaische Konstellationen und anarchische Ambitionen. Das Resultat ist ein schwerfälliger Roman mit quecksilbrigen Elementen.
Kein Wunder, beginnt Jonathan Franzen "Purity" mit einem philosophierenden Pudel und endet bei einem sabbernden Hund namens Choco, der Zitronen kaut.
Vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Choco hat viele Freunde. Mephistopheles hingegen hat nur Teuflisches im Sinn.
Jonathan Franzen: Unschuld. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Rowohlt Verlag, Reinbek 2015, 832 Seiten, 26,95 Euro