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José Alberto Gutiérrez
Herr der Bücher

Der Kolumbianer José Alberto Gutiérrez ist leidenschaftlicher Leser und Müllmann. Seit vielen Jahren sammelt er Bücher aus dem Abfall, lagert sie in seinem Haus in Bogotá zwischen und schenkt sie armen Menschen und Kommunen. Viele neue kleine Bibliotheken sind so entstanden.

Von Tobias Wenzel |
    José Alberto Gutiérrez in seinem Haus im Süden von Bogotá
    José Alberto Gutiérrez in seinem Haus im Süden von Bogotá (Tobias Wenzel)
    22 Uhr im spärlich beleuchteten Zentrum Bogotás: José Alberto Gutiérrez beginnt seine Nachtschicht als Fahrer der städtischen Müllabfuhr. Seine zwei Kollegen draußen werfen die Abfalltüten in die Müllpresse.
    "Das hier ist eine heikle Gegend, eine sehr heikle Gegend."
    "Don José, libros!"
    Eine Prostituierte redet mit zwei finsteren Gestalten. Ein ausgemergelter Mann mit verfilzten Haaren torkelt über die Straße. Wer hier allein zu Fuß unterwegs ist, wird schnell überfallen. Der 52 Jahre alte Müllmann Gutiérrez lächelt trotzdem. Er spitzt die Ohren, hofft auf den nur zu gut bekannten Ruf der Kollegen draußen: "Don José, libros!"
    Das bedeutet: Seine Kollegen haben im Müll Bücher entdeckt und bringen sie ihm gleich. Für seine Bibliothek. Aber bisher rufen sie nur aus Spaß, um die Adrenalin-Produktion von Gutiérrez einfach mal anzutreiben. Wenn dann wirklich neue Bücher aus dem Müll ins Fahrerhaus gelangen, so wie zuerst vor 18 Jahren "Anna Karenina" von Leo Tolstoi, dann ist José Alberto Gutiérrez berauscht vom Fund:
    "Das ist wie wenn ein Goldsucher gräbt und schürft und dann Goldstückchen findet. Ich habe nämlich Büchern einiges zu verdanken. Sie haben mir so viel gegeben."
    Rund 30.000 Bücher im Wohnhaus
    Ein Haus im äußersten Süden von Bogotá, wo die meisten Reichen aus dem Norden der Stadt noch nie einen Fuß hingesetzt haben. Man wird von rund 30.000 Büchern erschlagen; einzig ein schmaler Gang ist frei. Das kleine Wohnhaus der Familie Gutiérrez ist unfreiwillig zu einem Lager geworden. Seit der "Herr der Bücher", wie sie ihn in Bogotá nennen, 1997 bei der Müllabfuhr seinen Dienst antrat.
    "Da habe ich erstaunt festgestellt, dass einige Menschen Bücher wegwerfen. Das hat mich traurig gemacht. Als Kind hat mir meine Mutter viel vorgelesen. Ihr habe ich zu verdanken, dass für mich heute ein Buch der beste Freund ist."
    Tausende Bücher verschenkt José
    Als wollte er das belegen, nimmt Gutiérrez immer wieder ein Buch in die Hand und küsst es: den Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" ebenso wie einen Band der "Encyclopedia Britannica". Etliche Kinder aus der Nachbarschaft, denen die Hausbibliothek offen steht, hat Gutiérrez schon zum Lesen verführt. Vor allem aber hat er rund 20.000 Bücher verschenkt und mehr als 100 kleine Bibliotheken dort entstehen lassen, wo kein Geld für Bücher vorhanden ist.
    "Die nehmen das gesamte Material mit. Auch Bücher. Die verkaufen sie dann pro Kilo."
    Es ist Mitternacht. José Alberto Gutiérrez beobachtet seine Konkurrenz, die Müllsucher. Gerade hier im armen Zentrum Bogotás finden Bücher im Abfall oft in wenigen Minuten einen neuen Besitzer. Keine guten Bedingungen für den Bücher-Recycler Gutiérrez. Er hofft, bald wieder für eine Route im reichen Norden eingeteilt zu werden. Damit ihm seine Kollegen von der Straße endlich wieder die ersehnten Worte zurufen:
    "Don José, libros!"