Erstmals hat Josef Haslinger den Missbrauch, den er als Schüler im Zisterzienserstift Zwettl erfahren hat, schon 1983, zirka fünfzehn Jahre danach, literarisch verarbeitet. Damals habe er das Schreiben über die verstörenden Erlebnisse als Befreiung empfunden, erinnert sich Haslinger. Etwas, worüber er bis dahin nicht reden konnte, hatte als fiktionale Erzählung unter dem Titel "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" eine Form gefunden:
"Wenn Pater G. vorlas, (...) fanden die schweißklebrigen und meist ein wenig zittrigen Finger der Hand des Religionslehrers unter dem Habit die meinige, tasteten sich weiter zu meinen Schenkeln, fuhren die Hose entlang und zwischen die Beine, öffneten in endlosen, wegen der leichten Geräuschentwicklung immer wieder unterbrochenen Ansätzen meinen Reißverschluss. (...) Mit meist angehaltenem Atem saß ich da und verstörten Gedanken, es fiel mir unendlich schwer, dem Verlauf der Geschichte zu folgen."
"Ich hab im Inneren so einen alten Groll gegen die Kirche gehegt und der hat sehr viel mit diesen Erfahrungen zu tun gehabt. Insofern war diese Geschichte eine Möglichkeit, mit mir ins Reine darüber zu kommen, einmal eine Sprache dafür zu haben, es einmal ausgesprochen zu haben. Und damit konnte das Ganze in der eigenen Geschichte einen normaleren Platz einnehmen und musste sich nicht ständig so in den Vordergrund drängen. Und das hat mich auch zu einer gelasseneren Haltung gegenüber der Kirche gebracht. Also was Missbrauchsfälle betrifft, da gibt's natürlich überhaupt keine Form von Gelassenheit, da muss man hellhörig sein und genau hinschauen. Aber dieses latent aggressive Verhalten gegenüber der Kirche, das hab ich nicht mehr."
Rücksicht auf den "guten Ruf" der Peiniger
Pater G., der pädophile Religionslehrer aus der frühen Erzählung, sei eine Zusammenführung von drei Personen gewesen, von denen Josef Haslinger im Kindesalter zu sexuellen Handlungen gedrängt wurde, schreibt der Autor in seinem neuen nichtfiktionalen Buch mit dem schlichten Titel "Mein Fall". Darin erfährt man auch den vollen Namen des Haupttäters: Pater Gottfried Eder. Diese Namensnennung war Haslinger erst möglich, als er durch Zufall erfuhr, dass der Geistliche inzwischen verstorben war. Auch andere Personen, die ihm im Kloster Gewalt angetan oder sich sexuell an ihm vergangen haben, benennt Haslinger nur dann namentlich, wenn sie nicht mehr am Leben sind. Eine nicht ganz leicht nachzuvollziehende Rücksichtnahme auf den "guten Ruf" seiner ehemaligen Peiniger. Er habe halt immer noch nicht damit aufgehört, sich mit den Tätern zu identifizieren, schreibt Haslinger zur Erklärung in seinem Buch.
"Immer noch stelle ich mir vor, wie es sein muss, den Ruf eines Kinderschänders oder den eines exzessiven Kinderverdreschers umgehängt zu bekommen. Letzteres wird gewiss für harmloser erachtet. Ich habe allen Grund, eine große Wut auf diese Typen zu haben, die mich in der Kindheit behandelt haben, als wäre ich ihr Leibeigener oder ihr Spielzeug, stattdessen bin ich um ihren Ruf besorgt. Bis heute. Normal mag das nicht sein. Dies langsam zu kapieren verstehe ich als ersten Schritt im Versuch, gegen die Geister der Vergangenheit ins Gefecht zu ziehen."
Die Nachricht vom Tod Pater Gottfrieds führte schließlich dazu, dass sich Josef Haslinger entschloss, seine Missbrauchserfahrungen der "Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft" zu melden, einer Initiative gegen Missbrauch und Gewalt in der katholischen Kirche Österreichs, die ihn an die Ombudsstelle der Diözese Wien weiterverwies. Dort riet man ihm, dem Schriftsteller, seinen Fall aufzuschreiben.
Das Ergebnis ist das vorliegende Buch, in dem Haslinger dezidiert von seinen Erfahrungen als Sängerknabe im Stift Zwettl berichtet. Anders als in der zitierten Erzählung verzichtet er dabei ganz auf ein sprachliches Triggern und Ausschmücken expliziter Vorgänge. Betont sachlich, in kurzen, klaren Sätzen notiert er das Geschehen und weist immer wieder auf Erinnerungslücken möglicherweise aufgrund von Verdrängungen hin. Die Gefühlsverwirrung des Heranwachsenden wird dabei ebenso deutlich, wie der emotionale Nachhall der Missbrauchserfahrung in der Psyche des mittlerweile 64-jährigen Autors. Damals, als Zehn- bis Zwölfjähriger, das wird einem beim Lesen bedrückend bewusst, gab es niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können.
"Anschauungsunterricht" beim Religionslehrer
"Ich hab von meinem Religionslehrer damals in den Ferien einen Liebesbrief bekommen. Ich hab den damals sogar meine Mutter lesen lassen, die hat das nicht kapiert. Die hat das auch nicht für möglich gehalten. Sie hat mich diesen Zisterziensern im Kloster anvertraut, auch damit aus mir vielleicht mal ein Priester wird, christliche Erziehung usw. Aber dass es da Mönche geben kann, die ein Kind sexuell missbrauchen, das war jenseits ihrer Vorstellungswelt. Und so hat sie diesen Brief gelesen, der auch eine Einladung enthielt, ihn doch in den Ferien im Kloster zu besuchen. Und dem hat sie zugestimmt. Aber ich hab gewusst, was mich erwartet."
"Er sagte, dass er als mein Religionslehrer auch für meine Aufklärung zuständig sei. Was er da machte, konnte ich mir nur als eine Art Anschauungsunterricht erklären. Es waren Zärtlichkeitsbezeugungen, für die ich keinerlei Vorbild hatte und auch keine Vorstellung davon, wie ich damit umgehen sollte."
Der Religionslehrer hatte für den jungen, tief religiösen Klosterinsassen, der das Priesteramt anstrebte, eine starke Erziehungs- und Vorbildfunktion. Indem der Pater seine Macht zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse missbrauchte, stieß er den ihm anvertrauten Jungen in tiefe Selbstzweifel. Josef Haslinger hielt sich für homosexuell, obgleich er mit zunehmendem Alter Gefühle für das andere Geschlecht entwickelte. Sich anbahnende Kontakte zu gleichaltrigen Mädchen wurden von den Mönchen konsequent unterbunden. So geriet Haslinger in eine von Misstrauen geprägte ambivalente Gefühlslage.
"Tatsächlich habe ich lange Zeit Mühe gehabt, anderen Männern körperlich zu nahe zu kommen. Das beginnt mit Umarmungen und Ähnlichem. So quasi als müsste ich ein übergriffiges Verhalten erwarten, völlig irreale Gedanken, die so im Hintergrund immer da waren."
Ein kindlicher Mitspieler?
Dennoch will Josef Haslinger sich nicht auf seine Rolle als Missbrauchsopfer festschreiben lassen und die Täter nicht pauschal verdammen. Bereits 2010, als die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg und in der Odenwaldschule publik wurden, forderte er in der Tageszeitung "Die Welt", keine Hexenjagd zu veranstalten. Daraufhin attestierte ihm der Soziologe Gerhard Amendt ein typisches Opferverhalten. Haslinger, so Amendt, sei auch als Erwachsener noch unfähig, "sich gegen seine Missbraucher aufzulehnen". Heute gibt Haslinger seinem Kritiker zum Teil Recht. Um sich selbst zu schonen, habe er sich zu sehr "in die Arrangements der pädophilen Täter" eingefühlt und sich selbst als einen kindlichen Mitspieler gesehen.
"Der Vorstellung gegenüber, sexuell missbraucht worden zu sein, war die Vorstellung, Mitspieler gewesen zu sein und dadurch der Situation nicht ganz ausgeliefert, gewiss die erträglichere."
Dass es sich bei dieser Vorstellung um eine Illusion handelte, hätte er damals viel deutlicher machen müssen, schreibt Haslinger heute. Das "Schönreden" sei Teil seiner "Bewältigungsstrategie" gewesen. Dennoch will er auch heute die Täter "nicht am Pranger vorgeführt bekommen".
Kein abgeschlossener Prozess
"Man muss einfach nüchtern darüber reden, dass es diese Menschen gibt und dass es bestimmte Institutionen gibt, wo diese Menschen gehäuft sich sammeln. Das sind Menschen, denen eigentlich vollkommen klar ist, dass da in ihrem eigenen Leben und mit ihrem Gefühlshaushalt etwas grundschief läuft. Aber denen muss man helfen.
"Mein Fall" ist die aufrichtige und selbstreflexive Auseinandersetzung Josef Haslingers mit den prägenden Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, die er in den sechziger Jahren als Kind im Stift Zwettl gemacht hat. Detailliert demonstriert er am eigenen Beispiel, was es hieß, als Schutzbefohlener den Bestrafungsorgien und sexuellen Gelüsten zölibatär lebender Glaubensleute ausgesetzt zu sein. Die Aufarbeitung der traumatisierenden Erlebnisse beschreibt er als einen Prozess, der nicht abgeschlossen ist, vielleicht niemals sein wird - eine ebenso aufwühlende wie erhellende Lektüre.
Josef Haslinger: "Mein Fall"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 144 Seiten, 20 Euro.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 144 Seiten, 20 Euro.