Stefan Heinlein: Ignaz Bubis, Paul Spiegel, Charlotte Knobloch und Dieter Graumann – Persönlichkeiten, die als Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland die politisch-gesellschaftliche Debatte hierzulande über viele Jahrzehnte mitgeprägt haben, stete Mahner gegen rechts, gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, für religiöse Toleranz und Offenheit.
Seit 2014 steht Josef Schuster an der Spitze der über 100 jüdischen Gemeinden in Deutschland. Gestern wurde er von der Ratsversammlung in Frankfurt für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. – Guten Morgen, Herr Schuster! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wiederwahl.
Josef Schuster: Guten Morgen und herzlichen Dank.
Heinlein: Was sind die beiden größten Herausforderungen Ihrer zweiten Amtszeit?
Schuster: Nun, das kann ich Ihnen besser in vier Jahren beantworten. Aber von heutiger Sicht aus gesehen ist für mich im Vordergrund einmal stehend das politische Klima, das gesellschaftliche Klima, das wir in Deutschland haben. Ich sehe hier doch ein Abrutschen nach rechts. Und was mir Sorgen macht ist, dass man sich heute einfach wieder traut, das zu sagen, was man vielleicht lange gedacht hat, sich aber nicht getraut hat zu sagen. Aber auch im Handeln, dass es hier Verwerfungen gibt.
Eine weitere Herausforderung wird es sicherlich sein, auch die Entwicklung der jüdischen Gemeinden weiterhin positiv zu begleiten, insbesondere auch junge Menschen "an der Stange" zu halten beziehungsweise auch in das aktive jüdische Gemeindeleben einzubeziehen.
Zur AfD: "Man muss sich fragen, wo geht die Reise hin"
Heinlein: Herr Schuster, was darf man heute sagen, was man früher nicht sich traute zu sagen?
Schuster: Die Frage ist, ob man es darf! Das ist nicht die Frage. Der Fakt ist, dass man heute Dinge sagt, artikuliert, auch diskriminierende Äußerungen, nicht nur gegen Juden, aber auch gegen Juden, die für mich vor zehn Jahren undenkbar gewesen wären.
Heinlein: Wie groß ist Ihre Sorge, die Sorgen der Juden in Deutschland, dass man wieder zur Zielscheibe von Hass und Gewalt von rechts wird?
Schuster: Es gibt eine, Sie haben mit Recht gesagt, Sorge. Ich würde nicht sagen Angst, aber es gibt eine Sorge darüber, dass man Zielscheibe wird. Ich habe es einmal so formuliert: Es gibt den Satz der ausgepackten Koffer. Na ja, der eine oder andere schaut vielleicht schon mal wieder nach auf dem Dachboden oder auch im Keller, wo er denn den leeren Koffer verstaut hat.
Heinlein: Sie haben das veränderte politisch-gesellschaftliche Klima in Deutschland angesprochen in Ihrer ersten Antwort. Herr Schuster, welche Rolle spielt es, dass jetzt mit der AfD eine rechtspopulistische Partei in allen Parlamenten sitzt, die sich in Teilen ja fremdenfeindlich artikuliert?
Schuster: Das spielt doch, glaube ich, eine große Rolle mit, denn wenn wir eine Partei haben, die in ihren Reihen auch Mitglieder, aber nicht nur einfache Mitglieder, sondern auch Funktionäre, leitende Menschen toleriert, die sich klar fremdenfeindlich äußern, artikulieren, Menschen, die die Geschichte relativieren, die von einem Vogelschiss der Geschichte in Bezug auf den Nationalsozialismus sprechen und Vorsitzende einer solchen Partei sind, dann muss man sich schon fragen, wo geht die Reise hin.
Heinlein: Einen Namen haben Sie nicht genannt, Herr Schuster. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie eine Rede von Björn Höcke hören?
Schuster: Es geht für mich Unverständnis durch den Kopf. Ich bin auch ein wenig dann schockiert. Aber am meisten schockierend ist weniger die Rede, sondern dass das, was zum Ausdruck gekommen ist und auch zum Ausdruck kommt, mehr oder weniger auch von den anderen Mitgliedern dieser Partei und der Führung dieser Partei toleriert wird.
Heinlein: Ist die AfD eine antisemitische Partei?
Schuster: Ich halte die AfD primär nicht für eine antisemitische Partei. Sie hat im Moment ein anderes Ziel. Sie agiert gegen Flüchtlinge und Migranten. Aber wer gegen eine Minderheitengruppe agiert, bei dem bin ich mir sicher, wenn es passt, dass auch andere Minderheiten hier mit ins Blickfeld eng geraten.
"Ich habe leider nicht das Idealrezept"
Heinlein: Friedrich Merz, einer der Kandidaten für die Nachfolge von Angela Merkel, Herr Schuster, hat gestern bei uns im Deutschlandfunk erklärt, die Union, die CDU habe den Aufstieg der AfD achselzuckend hingenommen. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf aus Ihrer Sicht? Hätte Angela Merkel, hätte die Union mehr tun müssen gegen rechts?
Schuster: Ich glaube, es ist nicht nur eine Frage, ob die Bundeskanzlerin, ob die Parteivorsitzende der CDU mehr hätte tun können. Ich glaube, es hat ein bisschen gedauert in allen Parteien, in allen Parteien des demokratischen Spektrums, bis man bemerkt hat, was sich hier entwickelt. Es geht jetzt darum, genau nicht zurückzublicken, was eventuell der eine oder andere (und da ziehe ich wie gesagt alle Parteien hier mit ins Boot), was versäumt wurde.
Es gilt, nach vorne zu schauen. Es geht darum, Strategien zu entwickeln, wie man auch wieder klarmachen kann, wo das demokratische Spektrum ist und wie gefährlich auch gerade extremistische und extreme Parteien sind.
Heinlein: Haben Sie ein Rezept? Hat die jüdische Gemeinde ein Rezept, um rechts, um der AfD politisch und gesellschaftlich Einhalt zu gebieten?
Schuster: Wenn ich das Idealrezept hätte, dann hätte ich das tatsächlich Ihnen schon, oder nicht nur Ihnen, sondern generell schon im letzten Jahr oder in den letzten zwei Jahren gesagt. Da will ich ehrlich sagen: Ich habe leider nicht das Idealrezept. Aber ich glaube, es geht einfach mal darum, auch diese Partei in ihrem Inhalt, in ihrem Wirken zu entlarven.
Die Partei hat ein Thema. Sie bietet auch hier in meinen Augen keine realistischen und vernünftigen Lösungsansätze. Und hier sollte man auch einmal darauf schauen: Wir haben in unserem Land, aber nicht nur in unserem Land, auch in Europa eine ganze Menge Fragen und Probleme. Warum werden die eigentlich nicht angesprochen? Warum höre ich da von dieser Partei keine Lösungsansätze?
Heinlein: Verstehe ich Sie richtig, Herr Schuster? War es falsch, das Thema Flucht und Vertreibung für so viele Monate in das Zentrum der politischen Debatte hier in Deutschland zu stellen?
Schuster: Das als Thema Nummer eins – und man hat kaum mehr andere Themen gehört – war, glaube ich, nicht der richtige Weg.
Heinlein: Viele Juden, Herr Schuster, haben leidvolle Erfahrungen gemacht mit Flucht und Vertreibung. Bis heute gilt das ja. Gibt es deshalb in den jüdischen Gemeinden eine besondere Empathie für Flüchtlinge, die heute, jetzt aus anderen Ländern zu uns kommen?
Schuster: Wenn es eine Gruppierung gibt, die besondere Empathie hat, die weiß, was es bedeutet, fliehen zu müssen, dann sind es jüdische Menschen. Und insoweit gilt auch für die weitaus größte Anzahl der Juden in Deutschland ganz klar Verständnis für Flüchtlinge, für Migranten, aber natürlich gleichzeitig auch die Sorge, wenn wir Migranten haben, die aus Ländern kommen, in denen Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit ganz oben auf der Tagesordnung steht.
Heinlein: In diesem Zusammenhang, Herr Schuster: In Deutschland leben rund 4,5 Millionen Muslime und rund 100.000 Juden. Wie würden Sie das Verhältnis dieser beiden Religionen beschreiben?
Schuster: Das Verhältnis zueinander halte ich für unkompliziert, solange es sich um Moscheegemeinden, solange es sich um Muslime handelt, die nicht indoktriniert werden. Problematisch halte ich, dass es leider auch, ich habe das Gefühl, gar nicht so wenig Moscheegemeinden gibt, in denen von den Imamen allerdings genau das nicht gepredigt wird, über das wir gerade miteinander sprechen.
Islamfeindlichkeit muss genauso bekämpft werden wie Antisemitismus
Heinlein: Das Thema Antisemitismus ist ja ein großes Thema der deutschen Politik. Es gibt Antisemitismus-Beauftragte in vielen Bundesländern. Wird aus Ihrer Sicht von der Politik dem Thema Islamfeindlichkeit in Teilen der Gesellschaft die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie dem Thema Antisemitismus?
Schuster: Tatsächlich sehe ich auf der Agenda das Thema Antisemitismus stärker besetzt. Hier dürfen wir natürlich auch nicht die leidvolle Geschichte Deutschlands außer Acht lassen in den Überlegungen, warum es so ist. Aber es gilt genauso, auch natürlich Islamfeindlichkeit zu bekämpfen.
Heinlein: Kippa oder Kopftuch, das sind letztendlich zwei Seiten einer Medaille, und die heißt Fremden- und Ausländerfeindlichkeit?
Schuster: Ja, man kann es so sagen, wobei ich immer ein bisschen schlucke, wenn das Thema Kippa mit Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit gleichgesetzt wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass jüdische Menschen in Deutschland seit Jahrhunderten leben. Einen eigenen Stammbaum im fränkisch-hessischen Grenzgebiet kann ich 450 Jahre zurückverfolgen. Eigentlich bin ich doch nicht fremd, bin ich auch kein Ausländer.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der wiedergewählte Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Herr Schuster, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit und auf Wiederhören.
Schuster: Auf Wiederhören!
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