19 Bücher hat der österreichische Schriftsteller Josef Winkler mittlerweile bei Suhrkamp veröffentlicht. In mindestens acht oder neun, so sagt er, stehe er selbst im Zentrum - und damit in einem vielleicht nie endenden Spannungsverhältnis zu seinem vor dreizehn Jahren gestorbenen Vater und seinem Heimatdorf Kamering im Drautal. Und da, wo der Vater und das erzkatholische Kärntner Dorf nicht im Vordergrund stehen und Winkler den Handlungsort nach Italien, Indien oder Mexiko verlegte, wirkt das fast wie eine Flucht, wie eine verzweifelte Suche nach anderen Stoffen, um dem Fluch der Herkunft zu entkommen. Geschafft hat er das selten.
Stattdessen fand Winkler in der Ferne, in einem kleinen mexikanischen Dorf am Fuße eines Vulkans das Sinnbild für sein Schreiben: Zu Allerseelen versammeln sich dort die Menschen auf dem Friedhof und stochern und stampfen mit Eisenstangen in den Gräbern ihrer Toten, um sie aufzustören und mit ihren Seelen ein fröhliches Fest des Wiedersehens zu feiern. Diese Symbolik gefällt Winkler, aber in seinem literarischen Kosmos wendet sie sich ins Düstere und Morbide.
"Die Geister der Toten aufstören. Und das verstehe ich als Metapher für mein Schreiben, dieses Weiterbohren, noch tiefer hinunterbohren, dieses Aufstöbern. Da habe ich natürlich auch meine Vergangenheit, die Vergangenheit des Dorfes und meinen Vater noch einmal hervorgeholt und habe ihn gefragt und immer wieder gefragt: Du hast so viel vom Krieg erzählt - über 50 Jahre. Bestimmte Geschichten 20, dreißig Mal. Aber du musst es gewusst haben. Dass dort in unserer Nähe, wo auch wir gearbeitet haben oder direkt unter uns, unter unseren Füßen einer liegt, der einst der ganzen Welt, will ich sagen, die Gurgel umgedreht hat."
Es klingt nach einer Ironie des Schicksals, nach einer makabren Zuspitzung, dass diesem Autor, der immer wieder davon Zeugnis ablegt, dass die Toten seines Dorfes ihn verfolgen und dass er seinerseits auch sie nicht ruhen lässt, dass nun auch noch dieser Tote als ein weiterer Wiedergänger durch den Winklerschen Kosmos geistert.
"Zwei Millionen ham’ma erledigt"
"Und dann auf einmal vor ein paar Jahren habe ich erfahren, dass der aus Klagenfurt stammende Juden-Massenmörder Odilo Globocnik, der gesagt hat: 'Zwei Millionen ham‘ma erledigt' - dass dieser Juden-Massenmörder in meiner Heimatgemeinde, als dann von den Engländern doch die Identität gelüftet worden ist, wo er sich also selber mit einer Zyankali-Kapsel umgebracht hat, habe ich dann erfahren, aus einem Buch von Johannes Sachslehner 'Zwei Millionen ham‘ma erledigt', (…) dass der in meiner Heimatgemeinde von meiner Gemeinde verscharrt worden ist, nämlich auf einem Feld mit Namen Sautratten, das war ein Gemeinschaftsfeld von mehreren Bauern. (…) Und als ich das erfahren habe, da habe ich mir gedacht, da muss ich ja irgendwie wieder zurückkehren in diesen Boden, in diese Heimaterde- denn, ich beschreib’s ja auch so: Aus diesem Skelett wächst das Getreide, mit diesem Getreide sind die Brote hergestellt worden. Da habe ich natürlich gespürt, da muss was draus werden, da muss ein Buch draus werden! "
Das Buch mit dem Titel "Laß dich heimgeigen, Vater, oder den Tod ins Herz mir schreibe" wird an einer Stelle als Brief bezeichnet. Genauer betrachtet gleicht der Text einer litaneiähnlichen Anrufung, in der Winkler mit geradezu biblischer Wucht seinen Erzeuger - oder wie er im Gespräch sagte, seinen Erzfeind - verflucht. Der Vater muss von dem auf dem Feld vergrabenen Kriegsverbrecher, der in der Nazizeit unter anderem Leiter der "Aktion Reinhard" zur Vernichtung der Juden war, gewusst haben. Aber er hat geschwiegen.
"Hast du es absichtlich verschwiegen? Ob du uns schonen und nicht sagen wolltest, daß wir über einem Skelett in den Sautratten den Roggen für das tägliche Schwarzbrot und den Weizen für das tägliche Weißbrot ernten, aus Angst, dass uns makabre Fantasien bis in die Träume hinein verfolgen oder wir das falsche Brot essen könnten? Und welches Brot wäre das richtige gewesen? Oder hast du dich vielleicht geschämt, aber wofür eigentlich, frage ich mich, da du doch öfter, als verbitterter und vereinsamter Bauer, der noch keinen Nachfolger in Sicht hatte, gesagt hast: 'Mauthausen haben sie zu früh zugesperrt!' und: 'Hitler hätte doppelt so viele Juden umbringen sollen!""
Eine Vaterverfluchung
Das Buch "Laß dich heimgeigen, Vater, oder den Tod ins Herz mir schreibe" hat keinen Plot. Eine Fabel zu erfinden, ist sowieso nicht Winklers Sache. Er variiert eher kleine Geschichten, die man als Winkler-Leser auch schon aus seinen früheren Büchern kennt. Die stetige Wiederholung hat sie zu wuchtigen Bildern gerinnen lassen, mit denen der Autor wortmächtig spielt. Mit ihnen umkreist er in seinem neuen Buch den Glutkern eines bohrenden Schmerzes: das väterliche Schweigen über die Leiche eines Massenmörders draußen auf dem Feld. In engen und auch weitläufigen Schleifen und immer wieder neu ansetzend mit der Anrufung "Mein Tate" als kindliche Bezeichnung für den Vater, umkreist der Autor diese alles beherrschende Figur seines Lebens, von der er sagt, sie habe ihm immer die Nähe verweigert. Wie in wohl jeder Vaterverfluchung, aber steckt auch hier ein Gran einer nachgetragenen Liebe. Er bettet diesen Vater ein in eine Familie, zu der unter anderem eine sprachlose Mutter gehörte, ein SS-Onkel, aber auch ein Verwandter, der den Nazis die Gefolgschaft verweigerte. Winkler entwirft - wie eben auch schon in vorherigen Büchern - ein bäuerliches Soziotop, das gekennzeichnet ist von Bildungsferne und blinder, hilfloser Brutalität, durchdrungen von Bigotterie und einem katholischen Glauben, der mit seinen Riten, Strafen und Drohungen die Kinder in Todesangst versetzte und die Erwachsenen in einer engen Welt der scheinbar ehernen Gesetze verharren ließ.
Und dann eben diese vielen Toten in Winklers Buch: Die Kriegstoten, die Verunglückten, die zwei offensichtlich homosexuellen Jugendlichen, die sich mit einem Kälberstrick erhängten. Und dann natürlich die Verstorbenen der Familie, die man im eigenen Haus aufbahrte bis sich Leichengeruch verbreitete. Von da an blieben die Todeserfahrungen und Todesarten seine ständigen Begleiter und wurden zu einem der zentralen Grundmotive seines Schreibens, später angeregt durch Lektüre, zum Beispiel durch die Bücher Thomas Bernhards.
Und der Tod war immer dabei
"Ich war ja auch jemand, der das Werk von Thomas Bernhard gelesen hat. Ich habe sicherlich einen Meter Bücher von Thomas Bernhard gelesen. Und das war natürlich für uns alle eben vor über 40, nahezu schon 50 Jahren auch die Inspiration - den Mut, den er uns gegeben hat, in der eigenen Kiste zu wühlen.
Und der Thomas Bernhard hat damals wörtlich gesagt: Mein Thema ist der Tod. Sowas habe ich vorher nie gehört. Irgendwann bin ich halt dann einerseits schon beim Lesen, weil ich sehr gern diese Todesthemen, also in der großen Literatur gelesen habe, und später beim Schreiben erst recht auf dieses Thema gekommen. Man kennt ja diesen Satz von Paul Celan: 'Der Tod ist ein Meister aus Deutschland'. Der ist selbstverständlich auch ein Meister aus Österreich, wie wir wissen. "
Winkler bezeichnet sein Buch wie seine anderen autofiktionalen Bücher auch als Roman. Sie sind allerdings so nah dran an seiner gelebten Erfahrung und den Menschen seiner Herkunft, dass man mit dieser Genrebezeichnung zunächst etwas hadert. Aber Winklers Erzähler und seine Figuren sind keineswegs platte Abbilder der Realität. Der Vater, die Mutter, der Pfarrer- das sind in seinen Büchern eher Archetypen eines österreichischen 200-Seelen-Dorfes. Die genaue Lektüre erschließt dem Leser dann auch, was seine Bücher und insbesondere dieses Buch als literarisches Werk auszeichnet: Es ist einerseits die schwingende, einem Singsang ähnelnde Sprache, die in manchmal endlosen Satzkaskaden geradezu beschwörend das Thema umkreist und hervortreibt. Und dann ist da diese Komposition der Textblöcke, die mit ihren einleitenden Verszitaten aus Fontanes Kinder-Ballade "Der Herr, der schickt den Jockel aus" und jiddischen Klage-Gedichten zur Shoah über dieses Dorf und sein verbuddeltes Massenmörder-Skelett hinausweisen.
Wie formulierte Thomas Bernhard in seinem ersten Roman "Frost"?
"Noch heute stößt man immer wieder auf ganze Skelette, die nur von einer dünnen Tannennadelschicht zugedeckt sind - dieser Krieg wird niemals vergessen sein. Immer werden Menschen auf ihn stoßen, wo sie auch gehen mögen."
Josef Winkler ist im Gegensatz zu Bernhard, der sich - wie etliche Autoren der Alpenrepublik auch - in permanenter Fundamentalopposition zur österreichischen Gesellschaft befand, kein politischer Autor, der sich mit Autoritäten und seinen Zeitgenossen anlegen will. Obwohl er sich gerade eine Anzeige der FPÖ eingehandelt hat. Die Urne des verstorbenen Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider gehöre in eine bewachte Zelle, hatte Winkler in einer öffentlichen Rede gesagt. Damit allerdings nicht zuallererst dessen braune Gesinnung geißeln wollen, sondern seine Beteiligung an einem desaströsen Bankengeschäft, das den österreichischen Staat zehn Milliarden Euro gekostet hatte.
Der unerwünschte Sohn von Kamering
Was Winker und sein Schreiben unter anderem kennzeichnet, das ist eine geradezu verstörende Hartnäckigkeit, den Dingen, die ihn umtreiben, auf den Grund zu gehen und sie sprachlich immer weiter zu bearbeiten. Er lässt einfach nicht locker, auch wenn er sich pausenlos wiederholen muss. In seinem Heimatdorf Kamering darf er sich jedenfalls wegen seiner Bücher bis wohl zum Jüngsten Tage nicht mehr blicken lassen - auch wenn anzunehmen ist, dass kein Bewohner sie jemals wirklich gelesen hat.
"Es hat ja geheißen, dass ich dieses Dorf, wie es heißt, kaputtgeschrieben habe. Die Leute wollen natürlich Folklore und den sogenannten Heimatroman im Sinne von Anzengruber und wie sie früher geschrieben worden sind - hab ich denen nicht bieten können. Es gibt schon ein paar Leute, die mit mir reden. Aber was das Dorf betrifft, also die Allgemeinheit, da kann ich nach wie vor nirgendwo hineingehen. Als letztens einmal der Fernsehsender ARTE ein Porträt gedreht hat, da ist jemand sogar, wir haben auf dem Friedhof gedreht, da ist jemand mit einem Jauchefass voller Gülle gekommen und hat so ringsum, also vor dem Friedhof die Gülle verspritzt. Und das war natürlich auch ein eindeutiges Zeichen.
Und ja, es ist nach wie vor so, wenn ich in dieses Dorf fahre, da sind meine Eltern begraben, dann setze ich mich im Auto meist hintenhin und ja, damit mich niemand sieht, weil ich möchte ja auch nicht provozieren. Sie haben keine Freude mit mir. Das zieht sich seit 39 Jahren und das wird wohl so bleiben. "
Insofern erübrigt sich auch die Frage, ob Winklers Umkreisung der bäuerlichen Kindheitswelt eigentlich noch zeitgemäß ist bzw. den Zeitumständen entspricht. Und glaubt man folgenden Sätzen seines bewegenden Romans, dann ist Winkler mit dieser Welt auch noch lange nicht fertig und wird es - wie schon gesagt - vielleicht niemals sein.
"Ich bin dabei, meine Kindheit, die sich zwischen zuckenden, blutigen Hahnenköpfen, trottenden Pferden, tänzelnden Kalbsstricken bewegte, zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt! Damals hatte ich noch die Hoffnung, dass meine Kinderseele auf meinem zukünftigen Totenbett zur Ruhe kommen wird, heute habe ich diese Hoffnung nicht mehr, ich habe sie aufgegeben, ich werde weiter darüber schreiben müssen, ob im Inland oder im Ausland."
!!Josef Winkler: "Laß dich heimgeigen, Vater, oder den Tod ins Herz mir schreibe".!! Suhrkamp Verlag, Berlin. 200 Seiten, 22 Euro.