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Josefine Rieks: "Serverland"
Nachdem das Internet 2021 abgeschaltet wurde

In ihrem Debütroman "Serverland" erzählt Josefine Rieks vom geplatzten Gemeinschaftstraum Internet: In einer Zukunft, in der das Internet schon lange Vergangenheit ist, versuchen sich die folgenden Generationen zusammenzureimen, was es damit wohl auf sich hatte.

Von Raphael Smarzoch |
    Buchcover: Josefine Rieks: "Serverland"
    Buchcover: Josefine Rieks: "Serverland" (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Hintergrundfoto: picture alliance / Monika Skolimowska/dpa)
    1977 sprach der LSD-Guru und Psychologe Timothy Leary auf einer Konferenz von einer Technologie, die Computer weltweit in einem großen Netzwerk miteinander verbinden würde. Menschen aus der ganzen Welt könnten Videos, Texte, Musik und Fotos miteinander teilen und in Echtzeit kommunizieren. Anfang der 1990er-Jahre als das Internet im Begriff war, die Welt zu erobern, bezeichnete er die Computerkultur als das neue LSD, mit der es möglich sei, das Establishment endlich zu stürzen.
    Die Autorin Josefine Rieks war zu dieser Zeit ungefähr zwei Jahre alt. Eine digital Eingeborene, die sich an ein Leben ohne Internet nicht mehr erinnern kann. In ihrem Roman Serverland ist aber ausgerechnet das Internet abgeschaltet worden. Die alten Tage der Netzwerkgesellschaft sind schon lange vorbei und mit einem Tabu belegt. Reiner, der Protagonist des Romans, sammelt in Vergessenheit geratene Relikte aus dieser Zeit, alte Laptops und Computerspiele. Objekte, die einst für menschlichen Fortschritt standen und nun sein Scheitern symbolisieren.
    Welche gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen müssen stattgefunden haben, dass der Glaube an die Technik verloren gegangen ist und das Internet weltweit abgeschafft wurde? Laut Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2013 stellt es schließlich eine essenzielle Lebensgrundlage dar.
    In einer stillgelegten Serverfarm
    Auch wenn Josefine Rieks keine Antworten auf diese Fragen gibt, ihre Erzählung lässt sich dennoch als eine Analyse der digitalen Gegenwart aus dem Blickwinkel einer fiktiven Zukunft lesen. Ein paradoxer Umweg, der allerdings den Charme dieses Buches ausmacht. Die darin thematisierte Abwesenheit des Internets regt zum Nachdenken über die weltumspannende Datenautobahn an.
    "Es war Ehrfurcht. In diesen Schränken lagen Millionen von Daten gespeichert. Geschrieben von unseren Eltern. Von einer ganzen Generation, die ihre Gedanken allen anderen zugänglich gemacht hatte. Sie hatten sich davon etwas versprochen, etwas Unklares, das sie nicht beschreiben konnten. Davon ging ich zumindest aus. Ich wollte etwas sagen, holte tief Luft und ließ es dann aber. Meyer hätte es eh nicht verstanden."
    In einer Kneipe trifft Reiner seinen alten Schulfreund Meyer. Die beiden reden nicht viel miteinander. Ihre Kommunikation beschränkt sich auf das Nötigste, und doch hat ihr Aufeinandertreffen gravierende Folgen. Meyer nimmt Reiner mit nach Holland in eine stillgelegte Dependance des Internet-Giganten Google. Eine einst prosperierende Serverhalle, jetzt eine verfallene Ruine.
    Die dort aufgestellten Internet-Server funktionieren allerdings noch. Mit einem Computer und einem von ihm entwickelten Programm vermag Reiner auf die Inhalte zuzugreifen. Musikvideos, Amateurclips, historische Aufnahmen – Reiner verliert sich in der Vergangenheit und wird Zeuge einer Zeit, die unsere heutige Gegenwart ist. Beim Surfen entdeckt er sogenannte Let's Play-Videos. Sie zeigen Computerspiele, die von Gamern gespielt und in Echtzeit kommentiert werden.
    "Wozu hatte jemand Computerspielmitschnitte angefertigt und online gestellt? Wegen so etwas wie einer kommunistischen Vision?"
    Nachgeborene missverstehen dieses Internet
    Die frühen Tage des Internets Anfang der 1990er-Jahre waren von einer euphorischen Aufbruchsstimmung geprägt. Der amerikanische Soziologe Howard Rheingold bezeichnete das Netz damals als eine "elektronische Agora". Man sprach von einer sozialen Revolution und lobte das progressive Potential virtueller Gemeinschaften, ihre verbindungsstiftenden Dynamiken und ihren positiven Einfluss auf das wirkliche Leben jenseits der Datenautobahnen. Utopische Gedanken, die auch heute noch hartnäckig im Umlauf sind und das Denken über das Netz bestimmen.
    Reiner und seine Mitstreiter, die bald in Scharen in die Serverhallen strömen und sich dort als Kommune organisieren, sehen im Internet einen Heilsbringer, eine kommunistische Maschine der Freiheit. Parallelen zu der 68er-Bewegung sind sicherlich kein Zufall. Die analoge Netzgemeinschaft hält regelmäßig Plenen ab und diskutiert über die revolutionären Kräfte des World Wide Web. Vorwiegend feministisch sei es in den sozialen Netzwerken zugegangen, die weltweite Vernetzung habe zu einem solidarischen Miteinander geführt. Steve Jobs wird als visionärer Prophet gefeiert, der für eine bessere Welt einstand.
    Die Kleidungsstücke der Jugendlichen ziert eine weiße Maske, die sich bald auch Reiner auf die Jacke malen lässt: Das Zeichen der Anonymous-Bewegung.
    "Ich hatte seit Langem gewusst, dass uns die Jahrzehnte am Anfang des Jahrtausends wirklich voraus gewesen waren, dass sie die absolute Spitze der menschlichen Entwicklung dargestellt hatten."
    Eine gravierende Fehldeutung des Protagonisten: Aus der Internet-Subkultur, aus der die vermeintlich fortschrittliche Anonymous-Bewegung hervorgegangen ist, sind auch Teile der Alt-Right entstanden.
    Nahezu holzschnittartige Protagonisten
    Zwar vermag das Internet auch positive Entwicklungen auszulösen, die Menschenmassen im Iran und Istanbul auf die Straße für Freiheit und Demokratie treten lassen. Dennoch sind Hasskommentare, Fake-News und die allumfassende Überwachung und der damit einhergehende Verlust der Privatheit auch Teil der digitalen Realität. John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die Serverland eröffnet und von den Internet-Enthusiasten im Buch nahezu religiös verehrt wird, ist nicht in Erfüllung gegangen.
    "Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. […] Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln."
    Vor diesem Hintergrund erschließt es sich nicht, warum Rieks ihre Charaktere in der naiven Vorstellung eines kommunistischen World Wide Web schwelgen lässt. Es wäre interessanter gewesen, wenn sie die Ambivalenzen des heutigen Netzes deutlicher in das Denken der Protagonisten eingebaut hätte. Überhaupt wirken sie recht oberflächlich, nahezu holzschnittartig.
    Im Laufe der Geschichte erfährt man, dass die Entscheidung, das Internet abzuschalten zwei Jahrzehnte nach dem 11. September durch ein Referendum beschlossen wurde. Die genauen Beweggründe dafür bleiben allerdings im Dunkeln.
    So absurd dieser Volksentscheid anmuten mag, so interessant ist es auch, sich vorzustellen wie er wohl ausfiele, wenn man ihn tatsächlich durchführte. Die Möglichkeit eines Brexits hatte schließlich auch niemand ernsthaft in Erwägung gezogen. Und man denke nur an den Wahlsieg Donald Trumps, der zunächst völlig absurd schien. Wie würden die Menschen also abstimmen? Für oder gegen das Internet?
    Frage nach der Flüchtigkeit unserer Daten
    Rieks literarische Versuchsanordnung stellt ebenfalls die Frage nach der Flüchtigkeit unserer Daten, die online geteilt und auf Servern in sogenannten Cloud-Diensten hinterlegt werden. Der Verlust unseres digitalen kulturellen Gedächtnisses im Jenseits des Serverlands hätte traumatische Konsequenzen. Vielleicht ist das auch der Grund warum die Menschen im Roman nicht über das Internet sprechen möchten. Sie schämen sich für den Zusammenbruch der Netzwerkgesellschaft und Computerkultur.
    Nicht umsonst appelliert der Internet-Aktivist und Dichter Kenneth Goldsmith in einem 2012 veröffentlichten Essay, dem Internet und seinen Servern und Wolkenarchiven nicht zu trauen und alles herunterzuladen. Das macht auch Reiner und beginnt die YouTube-Clips auf seiner Festplatte zu speichern, um sie anschließend auf DVDs zu brennen und per Post zu verschicken. Eine virale Aktion, durchgeführt mit analogen Mitteln.
    "Wir mussten nur die Leute erreichen, eine kritische Masse bilden, dann würde alles von alleine gehen."
    Doch die Neuankömmlinge sind gar nicht an den kommunitaristischen Eigenschaften des Internets interessiert. Sie sehen es nicht als ein politisches Werkzeug, das Gemeinschaft, Demokratisierung und Freiheit bringt – die erhoffte Revolution. Sie wollen einfach nur feiern und Videos schauen. Damit sind sie den heutigen Internet-Usern nicht ganz unähnlich. Es scheint, als wiederholten Rieks Aktivisten der Zukunft die Fehler der Gegenwart.
    Kurzweilige Lektüre mit interessanten Denkanstößen
    Das macht "Serverland" zu einer melancholischen Erzählung über den geplatzten Gemeinschaftstraum Internet. Es ist der Versuch, nachzuvollziehen, warum die Hoffnungen aus der Gründerzeit des Internets versiegt sind, einen Ort der digitalen Gleichberechtigung und freien Wissensvermittlung zu schaffen, an dem ein solidarisches Miteinander möglich ist.
    Josefine Riecks bietet mit ihrer geschickten zeitlichen Konstruktion, vermeintlich retrospektiv auf den heutigen Status des Internets zu blicken, eine kurzweilige Lektüre mit interessanten Denkanstößen. Tiefer dringt sie allerdings nicht in die Materie vor.