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Joseph Cassara: "Das Haus der unfassbar Schönen"
Vom Leben in der New Yorker Ballroom-Szene

New York in den 1980er-Jahren: Junge trans- und homosexuelle Mitglieder der latinoamerikanischen-Community finden im "House of Xtravaganza" ein neues Zuhause. Joseph Cassara erzählt in seinem Debüt vom Kampf gegen Diskriminierung und HIV, vom Wunsch nach Akzeptanz und Geborgenheit.

Von Isabelle Bach |
Buchcover: Joseph Cassara: „Das Haus der unfassbar Schönen“
Joseph Cassaras Debüt ist inspiriert vom realen "House of Xtravaganza" in New York (Foto: imago stock&people/Xinhua, Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag)
Angel wächst als Junge mit puerto-ricanischen Wurzeln auf – im New Yorker Stadtbezirk Bronx. Schon früh merkt er, dass etwas nicht stimmt. Er fühlt sich nicht männlich, sondern weiblich; trägt gern hohe Schuhe und glänzende, bodenlange Kleider.
"Er kam mit einem engen silbernen Kleid in Größe Wie-klein-ist-das-denn zurück, aber es lag auf Angels Figur wie Plastikfolie auf einem Teller Koteletts: fest, aber elastisch. Als sie hineingeschlüpft war und erst ihr Spiegelbild anstarrte und dann Jamie, der sie im Spiegel anstarrte, hob sie die Arme, wie um loszufliegen. Den Kopf zurückgelehnt, den Mund geöffnet, schloss sie die Augen und lachte. Frei, dachte sie, vollkommen frei."
Doch im New York der 1980er-Jahre hat Angel es nicht leicht. Den vergeblichen Kampf um Anerkennung und die Unsicherheit über die eigene Identität verdeutlicht Autor Joseph Cassara zu Beginn des Romans mit wechselnden Personalpronomen:
"Angel hätte sich dafür ohrfeigen können, so selbstsüchtig gedacht zu haben – geglaubt zu haben, nur weil sie beschlossen hatte, als Frau durch die Straßen zu gehen, wäre Mami bereit, ihre Entscheidung auf der Stelle zu akzeptieren. ,Du siehst aus wie eine billige Straßennutte', sagte Mami. In einem so ruhigen Tonfall, als würde sie aus der Fernsehzeitung vorlesen. Angel ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Er zog T-Shirt und Jogginghose an und betrachtete den Jungen im Spiegel. Das Wort Nutte durchfuhr ihn. Vielleicht hatte Mami recht. Vielleicht sah er wirklich wie eine Nutte aus."
Gemeinsamer Kampf gegen Hunger und Gewalt
Als Angel es nicht länger aushält, läuft sie mit 17 von Zuhause weg und gründet das "House of Xtravaganza". In ihre Wahlfamilie nimmt sie Trans- und Homosexuelle aus der latinoamerikanischen Community auf, die von ihren leiblichen Familien verstoßen wurden. Innerhalb der Gruppe entwickelt sich ein enger Zusammenhalt, der von gegenseitiger Unterstützung geprägt ist. Gemeinsam kämpfen Angel und ihre "neuen" Kinder Venus, Juanito und Daniel gegen Hunger, AIDS, Diskriminierung und Gewalt:
"'Jemanden rächen, den ich gerade erst getroffen habe?' wiederholte Angel. 'Nena, ich muss für Leute in die Bresche springen, die aussehen und sich bewegen wie ich, weil wenn er dir wehtut, dann tut er auch mir weh, verstehst du?'"
Zu seinem Debütroman inspiriert wurde Joseph Cassara von Jennie Livingstons Dokumentarfilm "Paris is burning" und vom realen "House of Xtravaganza", das heute noch existiert. Die Biografien der Romanfiguren ähneln denen tatsächlicher Mitglieder dieses Hauses, die Romanhandlung ist jedoch fiktiv. Um einen möglichst authentischen Eindruck von der Subkultur zu vermitteln, charakterisiert Jospeh Cassara seine Figuren durch verbale und nonverbale Äußerungen, die aus der LGBTQ-Ballroom-Szene stammen. Missfallen und Unzufriedenheit drücken sie oft gestisch und mimisch aus, etwa durch demonstratives Wegschauen mit hochgezogener Augenbraue - eine Geste, die als "Shade geben" bezeichnet wird. Dass die Mitglieder des "House of Xtravaganza"‘ der latinoamerikanischen Community entstammen, spiegelt sich in der Sprache des Romans deutlich wieder. Immer wieder sind spanische Worte in den Text eingeflochten, besonders häufig in Szenen, die mit Gedanken, Gefühlen oder dem Verhalten einzelner Figuren in Zusammenhang stehen. Dies mag im englischen Original funktionieren, in der deutschen Übersetzung wirkt es schlicht ungelenk und alles andere als authentisch.
"Bevor sie an diesem Tag zur Arbeit ging, stellte sie sich vor den Spiegel und blähte die Nüstern, um zu sehen, ob es noch irgendwelche pelos gab, die gestutzt werden mussten. […] Sie hatte den Job angenommen, weil er por lo menos schnelles Geld brachte, sie konnte ihn nebenbei erledigen, wenn sie nicht an den Piers war. Und er war dauerhaft. Porque sie wollte verdammt sein! Verdammt, wenn sie jemals für Sozialhilfe Schlange stehen müsste. Auf gar keinen Fall würde sie betteln."
Glanz und Glamour
Äußerst unbefriedigend ist die Tatsache, dass der gesamte Roman nur einen einzigen Ballbesuch thematisiert, obwohl die dort ausgetragenen Wettbewerbe eine sehr wichtige Rolle im Leben der Figuren spielen. Gerade für Leser, die mit der Ballroom-Szene nicht vertraut sind, wäre es wichtig, mehr über die Bälle zu erfahren, um deren Bedeutung erfassen zu können. Der einzige beschriebene Ballbesuch gibt Aufschluss darüber, wie sich die Figur Juanito aus der Realität flüchtet. Vordergründig geht es um Glanz und Glamour, um banale Fragen, die in diesem Moment jedoch große Bedeutung haben.
"Er hatte kein Accessoire. Das war das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, als er sich an einen Ecktisch setzte und zusah, wie sich die Queens mit ihren Grüppchen und Familien auf die Stühle verteilten, als er zusah, wie die Jury mit ihren Schildern, auf denen Acht, Neun, Zehn stand, die Bühne betrat, wie die Moderatoren das Mikrofon anschlossen und dafür sorgten, dass die Pokale auf dem Beistelltisch hinter der Jury nach Größe geordnet waren. Jemand schaltete den großen Ventilator in der Ecke ein, und auf dem Balkon schüttete jemand einen großen Karton mit diesen kleinen Styroporteilen aus, die man mit ins Paket legte, wenn man ein Geschenk verschickte. Sie waren wie weiße Konfettiklumpen, die auf die Leute herunterhagelten und sich in ihren Dauerwellen und Afrolocken verfingen. Und er hatte kein verdammtes Accessoire."
Der Roman konfrontiert seine Leser mit einer Subkultur, in der junge Trans- und Homosexuelle aus der latinoamerikanischen und afroamerikanischen Community in familienähnlichen Strukturen zusammenleben und sich gegenseitig unterstützen. Leider werden zu viele Aspekte nur kurz angerissen und zu oberflächlich thematisiert. "Das Haus der unfassbar Schönen" schafft es nicht, seine Leser wirklich in die Ballroom-Szene eintauchen zu lassen.
Joseph Cassara: "Das Haus der unfassbar Schönen"
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 448 Seiten, 24 Euro.