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Joseph Conrad: "Der Niemand von der 'Narcissus'"
Unterwegs mit dem Unbewussten

Religion, Hautfarbe, Geschlecht: In Joseph Conrads "Der Niemand von der 'Narcissus'" von 1897 wird all das fraglich und muss neu verhandelt werden. Das bringt ein kollektives, von sozialistischen Ideen infiziertes Erzählkollektiv an den Rand des Deliriums. Den Roman gibt es jetzt in einer Neuübersetzung von Mirko Bonné.

Von Tobias Lehmkuhl |
Joseph Conrad mit Zylinder bei seiner Ankunft in New York 1920.
Joseph Conrad bei seiner Ankunft in New York 1920. (picture alliance / CPA Media)
Nennen wir erst einmal seinen richtigen Namen: James Wait. Wobei - auch dies ist eigentlich kein richtiger Name, sondern ein Sklavenname. James Wait stammt von den westindischen Inseln, seine Vorfahren sind afrikanische Sklaven. "James" klingt also eher nach einem Durchschnittsnamen, den englische Plantagenbesitzer auf Jamaica oder Puerto Rico den Nachkommen ihrer Leibeigenen gerne verpasst haben. Und "Wait", dieses sprechende Wort, sorgt schon bei James Waits erstem Auftritt auf der "Narcissus" für Verwirrung.
Die "Narcissus" ist eine Dreimastbark und liegt zu Anfang des Romans im Hafen von Bombay. Sie soll nach England segeln, und bezeichnenderweise wissen wir nicht, was oder ob sie überhaupt etwas geladen hat. Einige Matrosen wurden für die Überfahrt zusätzlich zur Stammbesatzung angeheuert, und nachdem wir in einer Art Kamerafahrt über die Back, also das Vorschiff, wo die Unterkunft der einfachen Matrosen liegt, einen Teil der Besatzung näher kennengelernt haben, ruft der Erste Offizier zur Einmusterung. Das heißt, alle müssen an Deck antreten, wo ihre Namen aufgerufen werden. Ist die Mannschaft vollzählig, wird in See gestochen. Ganz am Ende seiner Liste und des Alphabets aber kann der erste Offizier einen, den letzten Namen nicht entziffern. Der betreffende Matrose scheint auch gar nicht an Bord zu sein.
Schrecken und Schönheit
Da aber erschallt es im Rücken der aufgereihten Matrosen: "Wait", "Halt" also, was der Erste als Unverschämtheit empfindet, gerade aus dem Mund eines nach vorn tretenden Schwarzen. Zwar klärt sich das Missverständnis schnell auf, aber dieses "Wait", es bereitet den Leser auf das vor, was ihn auf den nächsten zweihundert Seiten erwartet: Eine Schiffspassage, die wie außerhalb der Zeit verläuft, in der die Einförmigkeit der Tage die Konturen verschwimmen lässt, eine Passage, auf der alle darauf warten, dass James Wait stirbt, 'that he passes away', wie es im Englischen heißt. Die Narcissus gleitet übers Meer von Ost nach West, und einer ihrer Passagiere gleitet vom Diesseits hin zum Jenseits. In weiten Teilen ähnelt Conrads Roman daher einer Elegie, einem Lied auf Schönheit und Schrecken der See, einem Gesang auf das Leben und den unausweichlichen Tod.
"Die Fahrt hatte begonnen, und das Schiff, ein von der Erde losgelöstes Bruchstück, eilte allein dahin wie ein kleiner Planet. Um es herum trafen die Abgründe des Himmels und des Meeres an einer unerreichbaren Grenze aufeinander. Eine große ringförmige Einsamkeit bewegte sich mit ihm voran, die sich immerzu wandelte und immerzu dieselbe blieb, unablässig monoton war und unablässig imposant. Ab und zu erschien weit entfernt ein anderer mit Leben beladener, wandernder weißer Fleck – verschwand... fixiert auf seine eigene Bestimmung. Die Sonne blickte den ganzen Tag hinunter auf das Schiff, und jeder Morgen erhob sich mit dem brennend runden Starren unersättlicher Neugier. Es hatte seine eigene Zukunft ... gemeinsam mit den Wesen, die auf ihm lebten und über seine Decks schritten, war das Schiff am Leben – wie jene Erde, die es der See überlassen hatte, bestand seine untragbare Fracht aus lauter Bereuen und Hoffen. Auf ihm lebten schüchterne Wahrheit und dreiste Lügen, und wie die Erde hatte es kein Bewusstsein, war schön anzusehen – und von Menschen zu einem unwürdigen Schicksal verdammt."
Buchcover: Joseph Conrad: „Der Niemand von der 'Narcissus'. Eine Geschichte vom Meer“
Joseph Conrad fuhr selbst einst als Erster Offizier eines Schiffes namens "Narcissus" von Bombay nach England. Buchcover der Neuübersetzung: „Der Niemand von der 'Narcissus'. Eine Geschichte vom Meer“ (Buchcover: mareverlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Gänzlich der Zeit und ins Sphärische enthoben segelt "Der Niemand von der 'Narcissus'" freilich nicht über die Ozeane. Da ist einmal der autobiographische Hintergrund des Romans, den Joseph Conrad unumwunden offengelegt hat: Er selbst fuhr einst als Erster Offizier eines Schiffes namens "Narcissus" von Bombay nach England, mit ihm an Bord ein Schwarzer, der zwar einen anderen Namen trug, der aber wie alle anderen Besatzungsmitglieder, als Figur in den Roman übergegangen ist.
Da ist zum anderen ein gewisser Donkin, ein arbeitsscheuer, aber große Reden schwingender Matrose, der seine Mitmatrosen, wenn er sie nicht gerade um Tabak anschnorrt, zum Aufstand anstacheln will. Dabei drischt er allerlei zeittypische sozialistische Phrasen und inszeniert auf der "Narcissus" zwischen Offizieren und Matrosen einen Klassenkampf en miniature.
Und dann ist da noch ein drittes Element, dass diesen See- und Seelenfahrtsroman deutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verankert, der mehrmalige Hinweis nämlich auf die sich immer stärker durchsetzende Dampfschifffahrt, eine Entwicklung, die auch die Matrosen, so die Befürchtung, zu Maschinen macht.
Die Seele der Mannschaft
Doch zurück zum Anfang und zu der Frage, was es mit James Wait auf sich hat, welche Rolle er auf der "Narcissus" und in diesem Roman spielt. Auffällig ist, dass er von den übrigen Matrosen nicht als ein Fremdkörper bestaunt wird. Sie alle haben schon dunkelhäutige Menschen gesehen, ob in Bombay oder in irgendeinem anderen Hafen. Ein Schwarzer per se ist nichts Staunenswertes. Dieser Schwarze, James Wait, hebt sich zwar durch seine Hautfarbe, ebenso aber durch seine Größe und durch seine Stimme vom Rest der Mannschaft ab.
"Der Schwarze war ruhig, gelassen, hünenhaft, stattlich. Die Männer waren nähergekommen und standen dicht beieinander hinter ihm wie ein einzelner Körper. Er überragte den größten um einen halben Kopf. Er sagte: "Ich gehöre zum Schiff." Er sprach deutlich, mit sanfter Präzision. Die tiefen, rollenden Töne seiner Stimme erfüllten das Deck mühelos. Er war von Natur aus spöttisch und so ungekünstelt herablassend, als hätte er von seiner Warte in einsfünfundneunzig Metern Höhe aus die ganze Unermesslichkeit menschlichen Irrsinns überblickt und wäre zu dem Schluss gekommen, sie nicht zu hart zu beurteilen. (…) Die verächtlichen Geräusche hatten aufgehört, und schwer atmend stand er reglos da, umgeben von allen diesen weißen Männern. Er hielt den Kopf im Lichtschein der Lampe aufrecht – einen mit tiefen Schatten und glänzenden Lichtern kräftig modellierten Kopf – einen ausdrucksstarken und unförmigen Kopf, mit einem gequälten, plattgedrückten Gesicht – ein bedauernswertes und brutales Gesicht ... die tragische, die geheimnisvolle, die abstoßende Maske der Seele eines schwarzen Mannes."
Die Maske, könnte man aus diesem letzten Satz schließen, unterscheidet schwarze und weiße Männer. Die Seele hinter diesen Masken aber trägt stets dieselbe Farbe. Entscheidend für den Fortgang des Romans ist allerdings etwas anderes: Die Tatsache, dass dieser Hüne schwer atmet. Er ist, stellt sich bald heraus, lungenkrank und gibt sich selbst nur noch kurze Zeit zu leben. Die ganze Fahrt über wird er seine Koje nicht verlassen. Und wenn sein erster Satz "Ich gehöre zum Schiff!" lautet, so muss man das in einem ganz emphatischen Sinn begreifen: Er ist Teil des Schiffes, ein mit dem Schiff verwachsener Körperteil, er ist, und man verzeihe dem Rezensenten ein wenig poststrukturalistischen Jargon, das dem Schiff eingeschriebene Andere. Man kann auch sagen: James Wait steht sinnbildlich für den Tod, der auf dem Ozean immer mitfährt. Er ist die Fracht, die über die Ozeane transportiert wird. Von anderer Ladung wissen wir nicht.
Insofern ist James Wait tatsächlich "Niemand". Kein Individuum, sondern menschliches Frachtgut. Mehr mit dem Schiff als mit der Welt verbunden, hat er keine Familie und als Nachfahre von Sklaven im Grunde auch keine Heimat.
Der von Mirko Bonné gewählte Titel ist also durchaus gelungen, nicht zuletzt weil er die Alliteration des englischen Originals aufnimmt. Treffend ist er zudem, weil er ganz konkret einer entscheidenden Szene entnommen ist, in der bereits erwähnter Donkin, der Aufrührer, James Wait eben als jenen Niemand schimpft, als einen, der nichts ist und nichts gilt. Doch dazu später. Werfen wir, wo wir schon dabei sind, zuerst einen Blick auf die Übersetzung des Textes, und nehmen wir uns dafür eine jener elegischen Naturschilderungen vor, die Conrads Roman, wie überhaupt seinem Werk, diese enorme atmosphärische Energie verleihen:
"Gewitter hingen am Horizont, kreisten rings um das Schiff, weit weg und zornig grollend, wie eine Rotte wilder Tiere, die vorm Angriff zurückschrecken. Die unsichtbare Sonne, hinfegend über den aufrechten Masten, hinterließ auf den Wolken einen verschwommenen Fleck aus strahlenlosem Licht, und mit ihr Schritt hielt von Ost nach West ein ähnlicher Klecks verblasster Helligkeit auf Höhe der nicht länger blinkenden Wellen. Nachts winkten durch das unergründliche Dunkel der Erde und des Himmels geräuschlos breite Flammenmeere, und für eine halbe Sekunde zeichnete sich das bekalmte Schiffchen mit seinen Masten und dem Takelwerk davor ab, jedes Segel und jedes Tau deutlich sichtbar und schwarz im Zentrum eines lodernden Ausbruchs, wie ein verkohltes, in einem Feuerball eingeschlossenes Schiff. Und wieder war es für lange Stunden verloren in einem endlos weiten Universum aus Nacht und Stille, wo sanfte, gleich verlorenen Seelen hierhin und dorthin wandernde Seufzer wie in plötzlicher Angst die reglosen Segel zum Flattern brachten und das gekräuselte Leichentuch eines Ozeans in der Ferne flüsternd sein Mitgefühl ausdrückte – in einer klagenden, gewaltigen und ohnmächtigen Stimme ..."
Lektoratsfehler und Rhythmusgespür
Zuerst einmal fallen zwei Lektoratsfehler auf. In "wie eine Rotte wilder Tiere, die vorm Angriff zurückschrecken" ist der Bezug falsch, Subjekt ist ja die Rotte, es müsste also heißen: "wie eine Rotte wilder Tiere, die vorm Angriff zurückschreckt". Der zweite Lektoratsfehler besteht darin, dass im selben Satz, zweimal das Attribut "verloren" verwendet wird, wo sich leichterhand eins davon durch "verlassen" hätte ersetzen lassen. Leider sind das nicht die einzigen Unsauberkeiten im Text.
Wichtiger aber als die Präzision im Detail ist der große Bogen, die Sprachmelodie. Und da gelingen Mirko Bonné, der ja nicht nur Übersetzer und Romanautor, sondern auch Lyriker ist, überzeugend sangliche Passagen. Schauen wir uns an, wie Ernst Wagner den Anfang der Passage 1971 übersetzt:
"Gewitterböen zogen am Horizont auf und kreisten fernab dumpf grollend um das Schiff wie eine Herde wilder Tiere, die zu ängstlich ist, einen Angriff zu wagen."
Das klingt weitaus dumpfer und platter als bei Bonné, der ein stärkeres Gespür für Rhythmus hat und viel geschickter mit Alliterationen und Assonanzen arbeitet. Indem er etwa "Rotte" statt "Herde" und "zornig" statt "dumpf" übersetzt, rollen bei ihm die O’s nur so über den Horizont.
Hören wir uns Lore Krügers Version an, die einzige Frau unter den fünf Übersetzern übrigens, und die einzige aus der DDR, an deren Übersetzung Bonné in seinem Nachwort lediglich bemängelt, dass sie in den revolutionären Reden Donkins "tendenziös" sei:
"Gewitterböen hingen am Horizont, kreisten rings um das Schiff, in weiter Ferne zornig grollend wie ein Rudel wilder Tiere, das sich fürchtet anzugreifen."
Auch hier eine Schwäche des Lektorats, denn Böen können nicht hängen. Da übersetzt Bonné, weil er wie auch an anderen Stellen manche Freiheit wagt, am überzeugendsten: "Gewitter hingen am Horizont". Überhaupt wirkt Krügers Übersetzung im Vergleich ein wenig steif. Ihr fehlt der zauberische Schmelz Conrads, dem Bonné am nächsten kommt. Hören wir uns noch Wolfgang Krege an, dessen "Bimbo von der Narcissus" im Grunde schon wegen des Titels ausfällt.
"Gewitterwolken hingen am Horizont, umkreisten das Schiff in weiter Entfernung, grummelnd wie eine Horde wilder Tiere, die sich nicht anzugreifen getrauen."
Auch hier zwei Lektoratsfehler, aber anders als bei Bonné in bloß einem Satz: Wieder stimmt der Bezug Singular-Plural nicht, diesmal ist es allerdings eine "Horde", die "sich nicht anzugreifen getrauen". Horden von Tieren aber kennen wir nicht, nur Menschenhorden. Ein solcher Mangel an sprachlichem Gespür spricht schon für sich. Die allererste Übersetzung des Romans von 1913 sparen wir uns an dieser Stelle.
Kehren wir zurück zu James Wait. Verlässt er auch nie seine Koje, so ist er in den Gedanken der Mannschaft doch höchst präsent. Mitunter ähnelt diese Mannschaft selbst einem Rudel wilder Tiere, das sich orientierungslos um das Leittier drängt.
Die Matrosen sind von ihm angezogen und abgestoßen zugleich. Es ist eine Art Angstlust, die sie an ihn bindet, eine durchaus sexuell besetzte Angstlust. Man will ihm zu Diensten sein, stiehlt in der Kombüse die Marmelade, auf dass er etwas Süßes bekommt, und dabei ist er selbst ein Süßer, wird vom Matrosen Belfast "Liebster" genannt oder "Schatz". Andere stehen sogar, Zitat, "bibbernd und sprachlos vor unterdrückter Empfindung" vor ihm.
Niemand, der Sklavenhalter
Den Moment höchster Hingabe erlebt der Leser, als am Kap der Guten Hoffnung ein nie gesehener Sturm über das Schiff hereinbricht und die Mannschaft tagelang mit den Wellen und Winden kämpft. Bald am Rande des Deliriums, setzen sie dennoch alles daran, James Wait aus seiner Kammer zu befreien, in die der Sturm und die Schieflage des Schiffes ihn eingeschlossen haben und hilflos umherschleudern.
"Belfast zeterte: "Lieber Herr im Himmel, Jimmy, wo biste denn? ... Klopf! Jimmy-Schatz! ... Klopf! Du verfluchtes schwarzes Miststück! Klopf!" Doch er blieb so stumm wie ein Toter in einem Grab, und wie über einem Grab stehende Leute waren wir den Tränen nahe – allerdings vor Verdruss, vor Strapaze, vor Müdigkeit ... vor der unbändigen Sehnsucht danach, es hinter uns zu haben, wegzukommen und uns hinzulegen und auszuruhen irgendwo, von wo aus wir sehen konnten, was uns drohte, und zu Atem kamen. Archie rief: "Macht mir Platz!" Wir hockten uns hinter ihn, zogen den Kopf ein, und er drosch immer wieder ein auf die Fuge zwischen den Planken. Sie barsten. Mit einem Mal fuhr das Brecheisen halb durch einen zersplitterten Längsspalt. Es musste nur um einen knappen Zoll an Jimmys Kopf vorbeigegangen sein. Archie zog es hastig heraus, schon stürzte dieser niederträchtige Schwarze an das Loch, legte die Lippen daran und flüsterte mit fast erloschener Stimme "Hilfe"."
Ja, helfen wollen sie ihm. Später dann, während der Flaute, ist es der Koch, der James Wait anfleht, er möge sich von ihm helfen lassen. In einer Art verworrenem religiösen Wahn stammelt der Smutje allerlei Unverständliches, spricht von Gnade und Buße und bedrängt den Schwarzen in seiner Inbrunst derart, dass dieser erneut um Hilfe rufen muss. Der Glaube verleiht auf diesem Schiff niemandem Halt. Das Wort Gott tritt in "Der Niemand von der 'Narcissus'" fast ausschließlich in den Komposita "gottverdammt", "gottverflucht" und "gottlos" in Erscheinung. Der Teufel hat hingegen als Subjekt mehrere starke Auftritte.
Während also der Rest der Mannschaft in einer Hassliebe und Angstlust mit dem Sterbenden verbunden ist, scheint allein Belfasts Liebe rein. Und wo die Liebe groß ist, ist auch die Eifersucht nicht weit: Sie erklärt Donkins vermeintliche Beschimpfung James Waits, übrigens kurz nachdem zum einzigen Mal im Roman von Frauen die Rede ist. Der Schwarze selbst nimmt die Beschimpfung gleichmütig hin. Dass man ihn als Niemand tituliert, als eine Leerstelle empfindet, ist nicht sein Problem. Es sind schließlich die Anderen, die es drängt, diese Leerstelle zu besetzen, die diesen Raum besitzen wollen, die sich gegenseitig belauern, wenn es darum geht, wer James Wait am nächsten kommen darf.
Auch deswegen ist Joseph Conrads von so großer Sogwirkung, weil er eine höchst ungewöhnliche, aber äußerst schlüssige, zu seiner Zeit geradezu revolutionäre Erzählperspektive wählt: Ein kollektives Wir. Wie in einem Rudel Tiere, einem Schwarm Vögel oder besser noch: einem Fischschwarm, gibt es in "Der Niemand von der 'Narcissus'" kein individuelles, sondern nur ein kollektives Bewusstsein, ein Erzähl-Wir, das anders als ein antiker Chor keine kommentierende Außenperspektive annimmt, sondern im Zentrum des Geschehens sitzt und von den Ereignissen wellenartig hin- und hergeworfen wird: Vom überraschenden Auftauchen des schwarzen Mannes, vom zerstörerischen Sturm, von der anschließenden endlosen Flaute. Stärker noch als dem Kapitän des Schiffes, der nur eine Nebenrolle spielt, sind die Matrosen James Wait Untertan.
"Alle warteten, dass James Wait etwas sagte, und machten dabei den Eindruck, als wüssten sie im Voraus, was er sagen würde. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Türpfosten und ließ aus trägen Augen einen gebieterischen und schmerzerfüllten Blick über sie hinwandern wie ein kranker Tyrann, der eine Reihe unterwürfiger, aber unzuverlässiger Sklaven einschüchtert."
Unbewusste Nussschale
Der Nachfahre afrikanischer Sklaven als Sklavenhalter, als Sklavenhalter zudem, der nicht mit Stock und Peitsche, sondern durch die eigene Schwäche und Krankheit seine seltsame Macht ausübt.
Was bleibt in einer Welt, in der die Dinge Kopf zu stehen scheinen? Zwei Jahre vor Sigmund Freuds Traumdeutung, ist auch in Conrads "Der Niemand von der 'Narcissus'" so einiges von unten nach oben gespült worden. Unbewusstes, für das nicht nur dem gemeinen Matrosen die Sprache noch fehlt. Die Religion hilft ihm ohnehin schon lange nicht mehr weiter. Bleibt allein der Aberglaube. So sagt der älteste unter den einfachen Matrosen schließlich, es liege an James Wait, dass sie seit vier Monaten kein Land mehr gesehen haben. Wait halte sie vom Ufer fern, denn wenn sie es erreichten, müsste er sterben.
Wir finden uns beim Lesen ebenfalls in diesem Zwischenreich wieder, einem Reich zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde, zwischen Dampf- und Segelschiff, zwischen alter Ordnung und neuen Ideen. Kaum zweihundert Seiten hat Joseph Conrad gebraucht, um diesen Moment gebannt, in der alles zu kippen scheint, Religion, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe fraglich werden, zweihundert Seiten, auf denen die Welt in einer Nussschale über die Meere treibt.
Joseph Conrad: "Der Niemand von der 'Narcissus'"
aus dem Englischen neu übersetzt und herausgegeben von Mirko Bonné
Mare Verlag, Hamburg. 256 Seiten, 32 Euro.