"Ich habe neun Leben gelebt": So heißt die jetzt erschienene Autobiografie des am 4. Januar 1984 verstorbenen Verlegers Joseph Melzer. Sie vermittelt in der Tat Einblicke in ein überaus bewegtes, aber auch ein sehr leidvolles Leben. Mehrmals sprang er sozusagen dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe. Melzers Sohn Abraham Abraham ist ebenfalls Verleger, zudem Buchautor und Blogger.
Gisa Funck: Herr Melzer, Wussten Sie eigentlich auch schon vor diesen Lebenserinnerungen Ihres Vaters, was für ein windungsreiches, brutales Leben ihr Vater hatte?
Melzer: Nein, so genau nicht. In groben Zügen wusste ich schon, dass er aus Berlin fliehen musste. Dass er in Sibirien war. Aber ich kannte nicht die Einzelheiten. Er hat wenig darüber gesprochen. So wie im Prinzip die ganze Generation der Nazi-Verfolgten wenig über ihr Schicksal gesprochen hat.
"Mein Vater hat wenig über früher gesprochen"
Funck: Ihr Vater, Joseph Melzer, der hat in Köln dann 1958 den Joseph-Melzer-Verlag gegründet. Und er ist ja 1984 mit 76 Jahren gestorben. Aber in den letzten Monaten vor seinem Tod, das schreiben Sie im Epilog, da hat er ganz fieberhaft noch an dieser Lebenschronik gearbeitet. Der Tod ist jetzt 37 Jahre her. Warum haben Sie als Sohn so lange gewartet, die Lebenserinnerungen ihres Vaters zu veröffentlichen?
Melzer: Ja, ich muss Ihnen sagen, das Manuskript, das mein Vater mir übergeben hat, war eigentlich unleserlich. Er hat es auf einer Schreibmaschine getippt und dann durchgeixt. Hat über das Durchixen noch mal korrigiert. Also, es war sehr sehr schwer zu lesen. Ich war damals auch Verleger und stand in einem wirklich stressigen Existenzkampf. Also ich hatte keine Zeit, keine Ruhe, mich damit zu beschäftigen. Ich habe erst angefangen, es zu lesen, als ich meinen Verlag eingestellt habe, hab‘ mir auch das Manuskript genommen und habe es Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe abgetippt in meinen Computer – und da habe ich erst erkannt, was da alles drinsteckt! Ich wusste zum Beispiel nicht, dass mein Vater eine so kritische Einstellung zum Zionismus hatte. Ich wusste vieles nicht von seinem Leben. Ich wusste nicht, dass er zum Beispiel im Café dû Dome in Paris, in seiner Pariser Zeit oft mit Joseph Roth zusammengesessen hat. Weil beide aus Galizien stammten, usw. Das habe ich erst beim Abtippen und Abschreiben des Manuskriptes kennengelernt. Und ich habe es dem Verleger vom Westend Verlag erzählt, und er hat natürlich sofort gesagt: "Ja, das verlegen wir!"
"Erst beim Lesen erkannte ich, wer mein Vater wirklich war"
Funck: Ja, das ist auch ein wirklicher Schatz, der da gehoben wurde! Vielleicht fangen wir noch einmal vorne an: Ich glaube, ihr Vater wurde 1907 in Galizien geboren, im Städtchen Kuty. Und das gehörte ja damals noch zur österreichischen KuK-Monarchie. Und dann geriet er schon als Kind in die Wirren des Ersten Weltkriegs und später dann – kann man sagen – in die Blutmühlen des Zweiten Weltkriegs. Er konnte aufgrund dieser Kriegswirren und auch aufgrund dieser Flucht und dieser Vertreibungen, da konnte er ja nie lange eine Schule besuchen?!
Melzer: Er hatte keine fertige Ausbildung, noch nicht einmal an der Volksschule!
Funck: Aber Ihr Vater war trotzdem ein sehr belesener Mann. Er hat sehr früh angefangen zu lesen, er war ein großer Bücherfreund. Können Sie erklären, woher diese Liebe zur Literatur, ins Besondere für die jüdische und deutsche Literatur bei ihm kam?
"Die Liebe zur Literatur hatte er geerbt"
Melzer: Ja, das hatte er von seinem Vater. Das beschreibt er ja auch in seinen Erinnerungen. Sein Vater, der ja in diesen jüdischen, orthodox-jüdischen Verhältnissen gelebt hat, war aber kein orthodoxer Jude, sondern war ein säkularer Jude. Und wenn er in die Synagoge gehen musste im Schtetl in Kuty, da hat er die deutschen Klassiker, Heine und Goethe und Schiller, mitgenommen und hat sie quasi unter dem Tisch gelesen. Mein Vater hat quasi die Liebe zum Buch und zur deutschen Literatur von seinem Vater geerbt.
Funck: Ein Thema, das ihren Vater Joseph Melzer allerdings auch lebenslang beschäftigte und begleitete und das sich auch durch diese Autobiografie wie so ein roter Faden zieht, das ist das Thema Zionismus. Theodor Herzl, der hat ja 1897 in seinem Buch "Der Judenstaat" diese Heilslehre von einer eigenen jüdischen Nation proklamiert. Und ihr Vater hat sich dann eigentlich schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen. Aber er blieb doch lebenslang sehr kritisch, würde ich sagen. Oder er hatte zumindest ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Zionismus...?!
Melzer: Ja, also "bewusst angeschlossen", kann man nicht sagen. Mein Vater ist quasi in die Hände der zionistischen Organisation übergeben worden von seinem Vater, der ihn quasi nicht ernähren konnte. Das waren sehr bescheidene, sehr ärmliche Verhältnisse. Und als Buchhalter hat sein Vater nicht so viel verdient. Und deshalb hat er [der Vater], als er die Schule beendet hatte mit 14, den Sohn in die Hände der zionistischen Organisation übergeben, die sich um jüdische Kinder gekümmert hat – allerdings nicht selbstlos, sondern mit der Absicht, sie [diese jüdischen Kinder] später als zionistische Juden nach Palästina schicken zu können. Also mit 14 ist mein Vater schon in den Ausbildungslagern der zionistischen Organisationen gewesen. Aber er hat das immer mit Distanz gesehen. Er war kein glühender Zionist!
Funck: Er ist dann aber ja trotz allem 1933 nach Palästina ausgewandert. Und er hat es dort auch geschafft, eine Buchhandlung aufzumachen in Tel Aviv. Trotzdem waren ihm die Zionisten und auch diese neue Ideologie, eine Nation in Palästina zu gründen, eine jüdische Nation, das war ihm immer suspekt. Und ich stelle mir eigentlich vor, inmitten seiner Landsleute, ich meine, wie haben die auf so eine fundamentale Kritik von ihm reagiert? Das muss ja nicht einfach gewesen sein?!
"Die Palästinenser-Verachtung der Zionisten störte ihn"
Melzer: Na ja, wie sie auch heute reagieren! Natürlich, wenn man das kritisiert, ist man ein Verräter. Das geht mir heute genauso. Und er ist ja nach Palästina nicht als glühender Zionist gegangen, sondern weil er keine andere Wahl hatte. Die Amerikaner haben Juden nicht aufgenommen und andere Nationen auch nicht. Und da ist er eben nach Palästina gegangen. Die reine zionistische Idee, die hat ihn ja weniger gestört. Gestört hat ihn das, was er dort in Palästina gesehen hat. Er beschreibt es irgendwo im Buch, dass er sagt: "Die vielen Demonstrationen mit Fahnen, die mich an Berlin erinnert haben!" Das hat ihn gestört.
Funck: Und ich glaube, das Verhalten seiner jüdischen Landsleute gegenüber den Palästinensern, das hat ihn auch gestört?
Melzer: Ja, mit den Palästinensern, natürlich! Das hat ihn halt gestört. Weil er in den Palästinensern, von denen er ja einige kannte, Menschen gesehen hat und nicht Feinde. Und diese Verachtung der Palästinenser innerhalb der zionistischen Organisation, der Mapai Partei von Ben Gurion usw., das ging ihm gegen den Strich. Denn das hat ihn an Deutschland erinnert. Er hat ja dann auch bewusst Palästina verlassen, weil er sich da nicht wohl gefühlt hat. Er wollte nach England, das ging aber nicht. Und deswegen ist er in Frankreich hängengeblieben, da herrschten liberale Verhältnisse. Und er konnte in Frankreich bleiben. Was allerdings ein jähes Ende gefunden hat, als sein Pass ausgelaufen ist. Da musste er dann nach Warschau fahren, und dort hat ihn der Krieg erwischt.
"In Warschau hat ihn der Krieg erwischt"
Funck: Ja, da hat ihn der Krieg erwischt. Was ich tatsächlich sehr herzzerreißend fand in dieser Autobiografie, das ist, wie groß eigentlich die Heimatliebe vieler deutscher Juden für Deutschland hierin geschildert wird. Also, wie groß der Patriotismus vieler deutscher Juden damals war - und wie wenig sie sich vorstellen konnten, dass ausgerechnet die Deutschen ihnen so – ja, gelinde gesagt – schlecht gesonnen waren. Deswegen haben viele deutsche Juden ja dann auch oft den nationalsozialistischen Terror völlig unterschätzt, auch die Mutter und Geschwister von ihrem Vater?!
Melzer: Ja, natürlich, die wollten bleiben! Mein Vater wäre auch geblieben, wenn er nicht gezwungen worden wäre, Deutschland zu verlassen. Die Juden haben Deutschland geliebt. Deutschland war für sie das Heimatland. Und mein Vater ist natürlich gerne nach Deutschland zurückgekommen. Seine Muttersprache war Deutsch.
Funck: War das vielleicht auch so die Tragik Ihres Vaters? Dass er einerseits als Jude in Nazi-Deutschland verfolgt wurde, dann auch nach dem Krieg diese unglaublichen Verbrechen sah, Zeuge von diesen Massenmorden war, die ja im Grunde für niemanden zu begreifen sind. Und dass er aber andererseits diese tiefe Liebe für die deutsche Literatur hatte? Also, dass er nie so ganz los davon kam ...?
Melzer: Ja, das war die Ambivalenz, in der er lebte. Dass er einerseits, Deutschland – ich will nicht sagen "hasste", nein. Er hasste Deutschland zwar nicht, aber er misstraute den Deutschen und fürchtete sie ein bisschen. Andererseits aber liebte er Deutschland, die deutsche Literatur. Seinen Beruf als Verleger, als Antiquar und die Beschäftigung mit deutschen Büchern. In diesem Zwiespalt lebte er.
"Nicht verschweigen, dass auch Juden Hitler bewundert hatten"
Funck: Er erwähnt allerdings auch, dass diese Heimatliebe der deutschen Juden in den 30er Jahren manchmal sogar so groß war und so verblendet, dass es ja auch einige, wenige Juden, die tatsächlich für den Faschismus schwärmten – oder sogar für Hitler?!
Melzer: Das ist richtig. Es gibt ja auch heute Juden, die in der AFD Mitglied sind. Ja, es gab Juden, die Faschisten geworden wären, wenn sie gedurft hätten! Die Juden sind wie alle anderen auch. Es gibt auch faschistische Juden.
Funck: Warum war ihrem Vater das anscheinend wichtig, das auch zu erwähnen? Also, dass es auch einige schwarze Schafe sozusagen in den eigenen Reihen gab?
Melzer: Ich kann ihn sehr gut verstehen, weil ich letzten Endes genauso bin. (Lachen) Weil er es falsch gefunden hat, darüber zu schweigen! Nur, weil es Juden waren, sondern er empfand jemanden, der sich zum Nationalsozialismus bekannte, immer als widerlich, ganz egal, ob das ein Jude war oder ein Nicht-Jude. In der Regel waren die deutschen Faschisten keine Juden. Aber es gab auch Juden, die damals Faschisten waren. Und meinem Vater ging es um Wahrheit, um Wahrhaftigkeit!
Neue Chance für einst verbotene Bücher
Funck: Der von ihm gegründete Melzer-Verlag spezialisierte sich dann auf Judaica, also auf jüdische Bücher. Das hatte ihr Vater ja auch schon in Tel Aviv und in Haifa gemacht. Und auf diese jüdischen Bücher spezialisierte er sich dann auch in dem Kölner Verlag. Man muss allerdings sagen, der Josef Melzer Verlag, der lief zwar halbwegs, aber er war ja immer – na ja, also es hätte besser laufen können, sag’ ich mal ... ?!
Melzer (lachend): Ja, der Verlag war immer Rande der Pleite, das stimmt. Er lief nicht gut. Ich meine, die Bücher, die mein Vater verlegt hat, Josephus Flavus oder Martin Buber oder Hermann Kohen oder Leo Beck, die liefen schlecht, mehr schlecht als recht. Ich habe dann Jahre später dieselben Bücher verlegt und über den Fourier Verlag vertrieben – und da waren sie plötzlich Bestseller! Das heißt, mein Vater hat viel zu früh angefangen damit, solche Bücher zu verlegen. 1968 und 1978 sind diese Bücher wirklich gut verkauft worden. Da gab es dann ein Publikum dafür, was nach diesen Büchern verlangt hat. 1958 war einfach zu früh, und die Bücher sind nicht gut gegangen. Und dann kam natürlich auch noch die Pleite mit der Börne-Ausgabe dazu. Diese Gesamtausgabe von Ludwig Börne, die mein Vater gemacht hat. Die war zwar sehr verdienstvoll. Aber die hat so viel Geld gekostet, was er gar nicht hatte. Und danach hat er Schulden gehabt.
Funck: Ich glaube, 1971 hat ihr Vater dann für den Melzer-Verlag Konkurs angemeldet. Hat ihm das das Herz gebrochen als Verleger?
Melzer: Es hat ihn zunächst einmal natürlich in die Pleite geführt. Ich war damals Soldat in Israel. Bin aber beurlaubt worden und konnte nach Deutschland kommen, mit der Ansicht, meinem Vater zu helfen. Und ich kam und fand die leeren Räume im Verlag vor und wusste damals auch nicht genau, was zu tun ist. Ich meine, ich war damals 23 Jahre alt, 24 Jahre. Ich wusste nicht so genau, was ich machen sollte. Ich saß auf den Schulden, und habe dann noch ein paar Monate hyperaktiv weitergemacht. Denn ich war jung und habe ein Programm aufgestellt, habe ein, zwei Leute eingestellt. Aber die Schulden, die haben uns letztlich erdrückt. Denn die sind nicht weniger geworden, die sind eher mehr geworden. Und irgendwann hat die Bank gesagt. "Schluss, Aus! Wir schließen das Konto!" Und damit war der Melzer-Verlag dann pleite.
Joseph Melzer: "Ich habe neun Leben gelebt. Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert"
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 336 Seiten, 24 Euro.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 336 Seiten, 24 Euro.