"Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet. Sein Leben rann dahin wie ein armer Bach zwischen kärglichen Ufern.
Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein."
Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein."
So lauten die ersten Zeilen aus Joseph Roths Roman "Hiob" aus dem Jahr 1930. Was in diesem unscheinbaren ostjüdischen Milieu im zaristischen Vorkriegs-Russland mit den fast märchenhaften Worten "Vor langer Zeit lebte..." beginnt, schlägt schon bald in einen Alptraum um. Der arme, gottesfürchtige Bibellehrer Mendel Singer wird von einem Schicksalsschlag nach dem anderen getroffen. Es beginnt mit der Geburt seines jüngsten Sohns Menuchim, der von epileptischen Anfällen geplagt als "schwachsinniges Kind" auf die Welt kommt. Eine leise Hoffnung wird durch die Weissagung eines "Wunderrabbis" geschürt, der Mendels Frau Deborah mit den Worten tröstet:
"Menuchim, Mendels Sohn wird gesund werden. Nach langen Jahren. Sein Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes verkünden."
Mischung aus Zeitkrise und Lebenskrise
Das Schicksal Menuchims ist nur eine leise Vorahnung dessen, was folgen soll. Jonas, der älteste Sohn meldet sich zum Militärdienst, damals für einen Juden der sündhafte Bruch des jüdischen Gesetzes. Schemarjah, Mendels zweiter Sohn entzieht sich der Einberufung und wandert nach Amerika aus. Er gründet eine Familie und wird ein erfolgreicher Geschäftsmann, der in den USA jede geistige Bindung zum Judentum verliert. Aus Schemarjah wird "Sam". Als sich die Tochter Mirjam mit einem Kosaken einlässt - für einen Ostjuden der Inbegriff alles Teuflischen von Pogromen bis zum sexuellen Exzess - wandert Mendel mit Frau und Tochter ebenfalls nach Amerika aus. Seinen kranken Sohn Menuchim lassen sie unter schweren Gewissensbissen in Russland zurück.
"Diese Mischung ist bestechend: Zeitkrise und Lebenskrise. Und die Materie, an der Joseph Roth das gestaltet, ist das osteuropäische Judentum, das eben zerrissen ist zwischen Tradition auf der einen Seite und Assimilation auf der anderen Seite. Das ist ja ein Ur-Thema des 20. Jahrhunderts: Wurzel- und Heimatlosigkeit, Traditionsbindung und Freiheit von Tradition. Und an dieser Familiengeschichte von Mendel und Deborah Singer werden diese Lebenskonzepte gespiegelt."
Karl-Josef Kuschel hat sich intensiv mit der Hiob-Geschichte auseinander gesetzt. Bis zum Jahr 2013 lehrte er Theologie des interreligiösen Dialogs an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
"All diese Schicksalsschläge holen ihn dann ja auch in New York ein. Die Familie wird zum Beispielkonflikt zwischen Tradition und Freiheit."
Der erste Weltkrieg bricht aus. Mendels Sohn Jonas wird nach einem Einsatz des russischen Militärs als vermisst gemeldet. Sein Sohn Sam fällt als Soldat in amerikanischen Diensten. Daraufhin bricht Mendels Frau Deborah zusammen und stirbt. Als wäre das noch nicht genug, wird die Tochter Mirjam wahnsinnig und vegetiert in einer Anstalt vor sich hin. Menuchim, der kranke Sohn, lebt noch - im fernen Russland.
"Nachdem Mendel Singer einen Schicksalsschlag nach dem anderen hinnehmen muss, will er Schluss machen mit Gott. Er nimmt alle äußeren Attribute seiner Frömmigkeit, seinen Gebetsschal, seine Kippa, sein Gebetbuch und stellt sich vor, er verbrennt sie im Feuer eines Kamins."
"Aus, aus ist es mit Mendel Singer. Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gott sagt: Ich habe Mendel Singer bestraft; wofür straft er, Gott? Warum nicht Lemmel, den Fleischer, warum straft er nicht Skowronnek? Warum straft er nicht Menkes? Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger. Aus, aus ist es mit Mendel Singer."
Als die Nachbarn Mendel Singer schreien hören und sehen, dass Rauch aus seinem Haus dringt, klopfen sie an seine Tür und reden ihm gut zu. Sie erinnern ihn daran, dass "Gottes Schläge einen verborgenen Sinn" hätten, sprechen vom biblischen Hiob, dem Ähnliches geschehen sei, und vom immer noch möglichen Wunder, an das der Verzweifelte nicht mehr glauben kann. Als sie Mendel fragen, was er denn verbrennen wolle, antwortet dieser:
"Gott will ich verbrennen! Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. Alle Jahre habe ich ihn gefürchtet, jetzt kann er mir nichts mehr machen. Alle Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.
Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein."
Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein."
Karl-Josef Kuschel: "Also noch lieber in der Hölle sein, als bei diesem Gott ausharren. Das ist natürlich eine ungeheure Szene, die allerdings nicht bedeutet im Ganzen des Romans, dass Mendel Singer zum Gottlosen wird. Er verweigert die Gottesbeziehung und kann dann, als es später zur einer glückhaften Wendung kommt, zu Gott zurückkehren."
Theodizee-Frage - das Ur-Rätsel menschlicher Existenz
Schon immer gehörten Leid, Katastrophen und schwere Krankheiten zum Schicksal des Menschen. Die oft quälende und vergebliche Suche nach dem "Warum" von Schmerz und Leid ist bis heute ein zentrales Menschheitsthema. Darum ist es nicht verwunderlich, dass die Hiob-Geschichte auch zum Thema der Literatur wurde. Wie kaum ein anderes biblisches Buch hat sie Philosophen, Theologen und Schriftsteller zu eigenen Schöpfungen angeregt.
"Diese Diskrepanz von Unschuldsbewusstsein und gleichzeitig maßlosem Unglück wird zusammen gefasst in dem Ausdruck Theodizee, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leidens Unschuldiger."
Insbesondere jüdische Dichter verarbeiteten die Hiob-Geschichte literarisch, um anhand seines Schicksals die Ungeheuerlichkeiten, die Juden im Laufe der Geschichte zu erleiden hatten, zur Sprache zu bringen. Stefan Zweig meinte, das jüdische Volk sei "der Hiob unter den Völkern."
Karl-Josef Kuschel: "Joseph Roth nimmt dafür als Prototyp eine Gestalt des osteuropäischen Judentums. Diese menschliche Ur-Frage: warum mir, warum so, warum jetzt? Diese klassische Trias der Theodizee-Frage: daran zu arbeiten und das exemplarisch zu zeigen, war sicher das Interesse des großen Schriftstellers Joseph Roth."
Theologen und Philosophen streiten seit Jahrhunderten über die Theodizee: Ist Gott gut und gerecht? Ist Gott wirklich allmächtig und wenn ja: wie kann er dann soviel Leid und Ungerechtigkeit zulassen? Hunderttausende von Menschen stellen sich täglich diese Frage angesichts von Krieg, Unrecht und persönlichem Leid.
"Auf diese klassische Theodizee-Frage gibt es keine Antwort, die die Frage zum Verschwinden brächte. Die Theodizee-Frage gehört zu den Fragen, zu denen man sich verhalten kann, die aber nicht durch sogenannte Antworten zum Verschwinden gebracht werden, denn im Buche Hiob bekommt ja schon diese biblische Figur keine Antwort auf die Frage, warum musste ich das alles durchmachen? Und so auch bei Joseph Roth. Das bleibt das Ur-Rätsel menschlicher Existenz.
Liebäugeln mit dem Sozialismus
Joseph Roth wird am 2. September 1894 in Brody im oberösterreichischen Galizien geboren. In der Kleinstadt vermischen sich schon früh zwei jüdische Welten: die Welt des Chassidismus, der orthodoxen, aber dennoch lebensfrohen Alltagswelt, und die Welt der Haskala, der weltoffenen jüdischen Aufklärung.
Ähnlich wie bei dem elf Jahre älteren Franz Kafka gibt es für Roth kein Zurück zur Orthodoxie mehr. Ursprünglich ein revolutionär gesinnter Romancier und Journalist, liebäugelt Roth für kurze Zeit mit dem Sozialismus. In den letzten Lebensjahren sympathisiert er mit dem Katholizismus, ohne zu konvertieren.
"Man kann auch in dem Werk vor Hiob, also vor 1930, Spuren der Auseinandersetzung mit der Gottesfrage finden. Wir haben einige autobiographische Beispiele, vor allem in Briefen, wo er sich sehr stark für das Thema Religion interessiert. Es gibt gotteskritische Passagen auch in frühen Romanen, vor allen in "Die Rebellion".
1919 schreibt der 25jährige Roth über seine "frühen religiösen Auffassungen" in sein Notizbuch:
"Zwei Jahre lang war ich Atheist. Ich sah zum Himmel empor und wusste, dass er aus blauer Luft bestand. Ich hatte aber gar nicht bemerkt, dass Gott nicht verschwunden, sondern nur umgesiedelt war, ich wusste nicht genau wohin, aber wahrscheinlich in meine Nähe. Er war da, wie eine Wirklichkeit. Erst zwei Jahre später wuchs Gott für mich zum Weltengott und Herrn des Alls."
Umringt von Dämonen
Karl-Josef Kuschel: "Er war ja rastlos unterwegs, er war ja Reiseschriftsteller geworden. In kürzester Zeit wurden drei, vier Romane heraus geschleudert."
Ende der zwanziger Jahre ist Joseph Roth ein erfolgreicher Schriftsteller und hochbezahlter Feuilletonist. Da erkrankt 1928 seine Frau Friedl an Schizophrenie und beginnt zu verwahrlosen. Ähnlich wie später Mendel Singers Frau Deborah, bittet Roth einen ostjüdischen Wunderrabbi um Hilfe. Doch auch ihm gelingt es nicht, Friedl zu helfen.
"Er schleppte sie durch alle möglichen Hotels, dann musste er sie in Sanatorien einliefern und die Briefe, die er in dieser Zeit schreibt, sind Hilferufe, sind Verzweiflungsschreie: Wann hört das endlich auf? Wann kann ich damit rechnen, dass meine Frau wieder gesund wird?"
"Ich bin umringt von Dämonen, ohne die Fähigkeit, einen Finger zu rühren, ohnmächtig, hilflos. Es ist ein Fluch, der mich getroffen hat. Ich bin gläubig genug, um an einen Fluch zu glauben."
Seine Frau lebt jetzt nur noch in geschlossenen Anstalten. 1940 wird sie im Rahmen des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten getötet.
Warten auf ein Wunder
Roth wartet in den Krisenjahren 1929/1930 vergeblich auf ein Wunder. Und beginnt an einem neuen Roman zu schreiben, in der sich seine Not mit dem Schicksal der Epoche verwebt: "Hiob – Geschichte eines einfachen Mannes".
"Das Herausfordernde der Hiob-Geschichte ist ja: Am Ende geht alles gut aus. Das war auch, glaube ich, ein entscheidender Grund, warum Joseph Roth in seiner persönlichen Lebenskrise dieses Motiv aufgenommen hat: Am Ende steht doch das sogenannte Wunder. Und das ist ja die eigentliche Provokation. Diese Ursehnsucht, dass gerade in der Krise noch einmal eine Wende passieren würde, die hat er nicht aufgegeben - und das war, glaube ich, die Herausforderung für diesen Roman: An einem biblischen Urmodell zu zeigen, das ist doch nicht vergeblich? Gott lässt mich doch nicht im Stich, sondern gibt mir alles wieder."
Dieses Wunder war Joseph Roth in seinem persönlichen Leben nicht mehr vergönnt.
"Das ist eine Diskrepanz, aber aus einer unendlichen Sehnsucht heraus, denn er war ja in der Zeit, als er Hiob schrieb, im Herbst/Winter 1929 selber in einer verzweifelten Krise."
Die Familie wird wieder zusammengeführt – aber nur die von Hiob
Der zweite Teil des Hiob-Romans erzählt, wie Mendel Singer in New York ein zurückgezogenes Leben führt - der jüdischen Kultur immer mehr entfremdet und an seinen Schicksalsschlägen zerbrochen. Doch dann wird der Rest der Familie auf scheinbar wundersame Weise wieder zusammengeführt. Eines Tages bringt ein heimgekehrter Soldat einige Schallplatten in Mendels Haus: neue Lieder aus Europa.
"Mendel setzte die Nadel auf. Es war Abend. Er stand im Finstern neben dem Grammophon und lauschte. Jeden Tag hatte Mendel hier Lieder gehört, langsame und hurtige, dunkle und helle. Aber niemals war ein Lied wie dieses hier gewesen. 'Die ganze Welt höre ich jetzt', dachte Mendel. Wie war es möglich, dass die ganze Welt auf so einer kleinen Platte eingraviert war? Mendel begann zum ersten Mal seit langer Zeit zu weinen. Da war das Lied zu Ende. Er drehte es noch einmal auf und zum dritten Mal.
So traf ihn sein Freund, der heimkehrende Skowronnek.
'Das sind die neuen Platten', sagte dieser.
'Sieh nach, wie das Liedchen heißt!', bat Mendel.
Skowronnek hielt die Platte unter die Lampe und las: 'Das Lied heißt: Menuchims Lied'.
Mendel wurde plötzlich schwach. Er musste sich setzen.
'Ich weißt, woran du denkst', sagte Skowronnek.
'Ja', antwortete Mendel.
Wenige Monate später erzählt ihm ein Bekannter von einem Konzert, das er gestern besucht hätte.
'Zweiunddreißig Musiker, verstehen Sie, und alle fast aus unserer Gegend. Und sie spielten jüdische Melodien. Am Schluss spielten sie 'Menuchims Lied', Mister Singer, Sie kennen es vom Grammophon her, ein schönes Lied. Der Kapellmeister heißt Alexej Kossak und kommt auch aus Zuchnow, Ihrem Geburtsort."
'Kossak', wiederholte Mendel, 'meine Frau ist eine geborene Kossak. Es ist wohl ein Verwandter.'"
So traf ihn sein Freund, der heimkehrende Skowronnek.
'Das sind die neuen Platten', sagte dieser.
'Sieh nach, wie das Liedchen heißt!', bat Mendel.
Skowronnek hielt die Platte unter die Lampe und las: 'Das Lied heißt: Menuchims Lied'.
Mendel wurde plötzlich schwach. Er musste sich setzen.
'Ich weißt, woran du denkst', sagte Skowronnek.
'Ja', antwortete Mendel.
Wenige Monate später erzählt ihm ein Bekannter von einem Konzert, das er gestern besucht hätte.
'Zweiunddreißig Musiker, verstehen Sie, und alle fast aus unserer Gegend. Und sie spielten jüdische Melodien. Am Schluss spielten sie 'Menuchims Lied', Mister Singer, Sie kennen es vom Grammophon her, ein schönes Lied. Der Kapellmeister heißt Alexej Kossak und kommt auch aus Zuchnow, Ihrem Geburtsort."
'Kossak', wiederholte Mendel, 'meine Frau ist eine geborene Kossak. Es ist wohl ein Verwandter.'"
Am folgendem Pessach-Abend - Mendel sitzt mit Freunden und Bekannten bei Abendessen und Gebet zusammen - klopft es an die Tür. Alexej Kossak betritt den Raum und erzählt, wie er von einer schweren Krankheit geheilt wurde und wie er plötzlich begann, "aus dem Kopf eigene Lieder am Klavier zu spielen". Er gründete ein Orchester und ging nach der russischen Revolution ins Ausland. Gerade gastiere er in New York und hätte über einen seiner Musiker von seinem Verwandten Mendel Singer gehört.
"Skowronnek fühlt, dass eine Frage nicht mehr aufzuschieben ist: 'Mein Freund Mendel hatte auch noch einen kranken Sohn namens Menuchim, Was ist mit ihm geschehen?'
Der Fremde sieht Mendel ruhig an und sagt: 'Menuchim lebt, er ist gesund, ihm geht es gut, sogar sehr gut.'
Mendel blickt zu Skowronnek und der alte Freund weiß, was er jetzt zu fragen hat an Mendels statt: 'Wo ist Menuchim jetzt?'
Langsam erwidert Alexej Kossak: 'Ich bin Menuchim.'"
Der Fremde sieht Mendel ruhig an und sagt: 'Menuchim lebt, er ist gesund, ihm geht es gut, sogar sehr gut.'
Mendel blickt zu Skowronnek und der alte Freund weiß, was er jetzt zu fragen hat an Mendels statt: 'Wo ist Menuchim jetzt?'
Langsam erwidert Alexej Kossak: 'Ich bin Menuchim.'"
Die Menuchim-Gestalt ist nach einem anderen biblischen Archetyp konzipiert, nämlich nach der Gestalt des Josephs, der von seinen Brüdern verraten wurde, der nach Ägypten ging. Und dann kommt es ja zu dieser ergreifenden Wiedererkennungsszene, wo Joseph sich vor seinen Brüdern offenbart: "Ich bin Joseph, euer Bruder, lebt mein Vater noch?" Das ist auch ein Teil dieser Glückshoffnung, die mit diesem Roman verbunden ist: Es muss noch mal eine schicksalshafte gottgefügte Wendung ins Positive geben. Diese Hoffnung steckte in Joseph Roth, die sich in seinem persönlichen Leben nicht mehr erfüllte.
Die Größe der Wunder
Der Schriftsteller starb am 27. Mai 1939 in Paris. Bei seiner Beisetzung versammelten sich neben persönlichen Freunden Emigranten, Künstler, Schriftsteller, Ostjuden, Katholiken und Kommunisten. Sie nahmen Abschied von Joseph Roth, einem witzigen Spötter und Meister der Worte, sozialkritisch engagiert und leidenschaftlicher Gottsucher, in dessen Hiob-Roman sich die eigene Zerrissenheit in der Zerrissenheit seines Zeitalters spiegelt.
Karl-Josef Kuschel:"Ich würde dann von einer Aktualität sprechen, wenn dieser Roman auf Leser trifft, die mit der Gottesfrage noch nicht fertig sind, sondern leidenschaftlich weiter nachfragen. Diese Polarität von leidenschaftlichem Schrei nach Gott und gleichzeitiger Hoffnung auf Gott."
"Von seinem tiefgelagerten Sofa konnte Mendel Singer einen wolkenlosen Ausschnitt des Himmels sehen. Er stand auf, schob einen Sessel an das Sofa und legte sich hin. Während seine Augen sich langsam schlossen, nahm Mendel die ganze blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen Kinder. Neben ihnen tauchten aus dem braunen Hintergrund die Bilder von Jonas und Mirjam auf. Mendel schlief ein.
Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder."
Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder."