"Und immer fügsamer gehorcht die Melodie dem hämmernden, dem jubelnden Takt, der Herzschlag eines ganzen Volkes ist. Wie unter fremdem Diktat schreibt hastig und immer hastiger Rouget die Worte, die Noten hin – ein Sturm ist über ihn gekommen, wie er nie seine enge bürgerliche Seele durchbrauste."
Für den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig war das eine "Sternstunde der Menschheit": Ein bislang nicht aufgefallener Offizier mit Musiker-Ambitionen schreibt ein Lied, das - im Gegensatz zu seinem Autor - ganz groß herauskommt. Dieser Claude Joseph Rouget de Lisle, ein karrierehalber geadelter Bürgersohn aus der Provinz, steht 1792, also im dritten Jahr der französischen Revolution, mit seiner Garnison in Straßburg, als der Krieg ausbricht. Die europäischen Mächte, voran Österreich und Preußen, haben sich zur Wiederherstellung der Monarchie verbündet, die junge Republik ist bedroht - was ihre Verteidiger jetzt brauchen, ist: ein Lied. Der Straßburger Bürgermeister, Baron Dietrich, hat das begriffen. Am 24. April 1792 bittet er bei einer Abendgesellschaft seinen Gast:
"Monsieur de Lisle, schreiben Sie uns doch ein schönes Lied für die Soldaten, die gerade von allen Seiten ihrem Vaterland zu Hilfe eilen."
Die Preußen zitterten vor ihr
"Eine Exaltation, eine Begeisterung, die nicht die seine ist, sondern magische Gewalt, zusammengeballt in eine einzige explosive Sekunde, reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus."
Der "Dilettant" wurde zu seinen Lebzeiten nicht ganz vergessen, aber auch nicht übermäßig geehrt: Rouget teilte das Schicksal so mancher Künstler, deren Werk erst nach ihrem Tod zu Weltruhm aufstieg. Seine Kompositionen blieben ansonsten ziemlich erfolglos, und als er 1836 in recht beengten Umständen starb, war sein Revolutionslied zwar nach wie vor populär, aber gerade wieder einmal schlecht gelitten bei den Vertretern des wiederaufgerichteten Königtums.
War es Baron Dietrich gewesen, der als erster in Straßburg Rougets "Lied der Rheinarmee" vorgetragen hatte? Wie auch immer, es war die Geburt eines Mythos. Nach Paris kam das Lied erst Monate später, auf einem Umweg: ein Bataillon Kriegsfreiwilliger aus Marseille trug es durch ganz Frankreich und setzte die Köpfe und Herzen in Brand: Erst jetzt war sie geboren, die Marseillaise.
Über das Trillern, Trommeln und Pfeifen herkömmlicher Märsche donnerte sie atemlos hinweg, die Preußen zitterten vor ihr, und republikanische Generäle werden gewusst haben, warum sie forderten: "Schicken Sie mir tausend Mann oder eine Ausgabe der ‚Marseillaise‘."
Als Hymne eines geeinten Europas bereits 1880 im Gespräch
Man könnte meinen, die Marseillaise habe das Sterben zum Vergnügen gemacht. Aber über die plumpen Mystifizierungen des Kriegsgewerbes wuchs sie weit hinaus. Selbst der deutsche Nationalist und Franzosengegner Ernst Moritz Arndt lobte an ihr das "Übergreifen über die Nationalität hinaus zur Menschheit". Ausgerechnet der friedfertige, politisch schwankende Rouget de Lisle hatte zu diesem Gedanken die unwiderstehliche, universal mitreißende Melodie erfunden.
Ob Tschaikowsky oder die Beatles, in unzähligen Musikwerken tönen die ersten Takte der Marseillaise wie eine Fanfare der Freiheit. In seinem Film "Casablanca" setzte Michael Curtiz diese Symbolik in einen berühmten musikalischen Wettstreit um zwischen nazideutschen Besatzern und Franzosen.
Es brauchte über 80 Jahre, bis die Marseillaise offizielle französische Nationalhymne wurde. So wie heute war schon im 19. Jahrhundert ihr kriegerischer Ursprung, ihre blutige Sprache für viele ein Problem. Und doch konnte der linke Schriftsteller und Politiker Victor Poupin sich schon um 1880 die Marseillaise als Hymne eines dereinst geeinten Europa vorstellen.