16 Jahre hat Thomas Mann an seiner biblischen Tetralogie "Joseph und seine Brüder" gearbeitet. 1933, im Jahr von Hitlers Machtantritt, erschien der erste Band "Die Geschichten Jaakobs" - eine große Sympathieerklärung an die altjüdische Patriarchenwelt. Dann nahm er das Werk mit ins Exil; im Januar 1943 wurde der vierte Band beendet.
An Breitenwirkung können es die Josephsromane allerdings bis heute nicht mit Thomas Manns anderen Hauptwerken aufnehmen. Dabei stehen sie - auch ein Großfamilienepos - an Geschichtenfülle und erzählerischer Vitalität nicht hinter den "Buddenbrooks" zurück. Der Rückgriff auf die biblischen Geschichten erwies sich für den Erzähler als eine Art Jungbrunnen. In den Höhen des "Zauberbergs" war die Kunst der Ironie groß, die Luft des Erzählens aber dünn geworden. Dank der handlungsstarken Vorlage der Josephsgeschichte konnte Thomas Mann nun eine alte Begabung wieder voll entfalten: eben das Geschichtenerzählen.
Der Mythos legitimierte ein lebenspralles, zum Teil drastisches Fabulieren, wie es die bürgerlichen Lebenswelten nicht mehr hergaben. Man lese nur die martialische "Geschichte Dina's" oder die grandiose Episode von Jaakobs Segensbetrug an Esau oder, sehr anrührend, von Rahels Tod am Wegesrand. Nie war Thomas Mann besser. Der Roman - dem der Autor allerdings ein eher strapaziöses Vorspiel namens "Höllenfahrt" voranstellte - vollbringt das Kunststück, uns die Menschen des 14. vorchristlichen Jahrhunderts in ihrer Entferntheit nahe zu bringen und in ihrem Anderssein vertraut zu machen.
Damit nicht genug. Der renommierte Ägyptologe Jan Assmann rechnet den Verfasser der Josephsromane nun auch zu den "bedeutendsten Religions- und Mythostheoretikern seiner Zeit". Die Fachwissenschaften, von denen Thomas Mann bei seiner quellengestützten Arbeitsweise selbst viele Anregungen bezog, hätten bis heute nicht angemessen auf diese Herausforderung reagiert. Assmann selbst hat jetzt ein Buch über die Josephsromane vorgelegt, das keine literaturwissenschaftliche Studie sein, sondern die Tetralogie gleichsam als "Sachbuch" lesen und ernst nehmen will.
Nicht ganz ohne Berechtigung. Denn in der Tat enthalten die Josephsromane eine faszinierende Konzeption des mythischen Bewusstseins, die Assmann zunächst rekapituliert. Leben im Mythos - das ist das Leben, das in Spuren geht, das sich als Wiederholung zelebriert. Von "zitathaftem Leben" spricht Thomas Mann auch. Joseph zum Beispiel reproduziert die Passions- und Heilsgeschichte diverser Gottheiten; dazu gehören der mesopotamische Tammuz, der syrische Adonis, der ägyptische Osiris. Es ist nebenbei ein Beispiel für die Traditionsmischung und kulturelle Hybridisierung, die in den Josephsromanen entscheidend ist - auch dies eine Antithese zum bornierten Nationalismus der Entstehungszeit. Von einem grenzüberschreitenden Bilder-Recycling", spricht Jan Assmann, gar von "multikultureller Bricolage".
Der Mythos ist jedenfalls ein Urgeschehen, ein Muster. Kain und Abel etwa sind das Paradigma für alle ähnlich gelagerten Bruderkonflikte im Lauf der Jahrtausende; insofern von zeitloser Gegenwärtigkeit. Das mythische Bewusstsein - und genau dieses will Thomas Mann vorführen; er will nicht bloß Mythen nacherzählen - sieht in vielen Situationen der Gegenwart solche alten Muster durchschimmern. Und keiner hat soviel Sinn dafür wie der grübelnde Patriarch Jaakob. So beschreibt ihn der Roman:
"Jaakobs Ausdrucksmacht nun aber, auch die Bewegtheit seiner Stimme, die Gehobenheit seiner Sprache, die Feierlichkeit seines Wesens überhaupt - hing mit der Anlage und Neigung zusammen, die zugleich der Grund war, weshalb man den starken und malerischen Ausdruck des Sinnens so oft an ihm zu beobachten hatte. Es war der Hang zur Gedankenverbindung, welcher sein Innenleben in dem Grad beherrschte, dass er geradezu seine Form ausmachte... Auf Schritt und Tritt wurde seine Seele durch Anklänge und Entsprechungen betroffen gemacht, abgelenkt und ins Weitläufige entführt, die Vergangenes und Verkündetes in den Augenblick mischten und den Blick eben dergestalt verschwimmen und sich brechen ließen, wie es beim Grübeln geschieht. Das war beinahe ein Leiden, aber nicht ihm allein zuzuschreiben, sondern sehr weit verbreitet (...), so dass sich sagen ließe, in Jaakobs Welt habe geistige Würde und "Bedeutung" sich nach dem Reichtum an mythischen Ideenverbindungen und nach der Kraft bestimmt, mit der sie den Augenblick durchdrangen."
Die Figuren der Josephsromane haben keine eng umgrenzte Individualität. Jan Assmann kommentiert:
"Wenn diese Menschen "ich" sagen, dann geht das, was sie sich als Selbsterlebtes zurechnen, oft weit über die Grenzen der individuellen Lebenszeit hinaus und greift in den Raum der mythischen Bahnungen über, in denen andere schon geschritten sind. Das nennt Thomas Mann mit einer vielleicht nicht unbedingt glücklichen, aber mit einer von ihm ständig wiederholten Wendung das "nach hinten offene Ich". "
Natürlich lässt sich Jan Assmann die Gelegenheit nicht entgehen, diese mythische Vergangenheitsbezogenheit, wie sie Thomas Mann in verschieden komplexer Weise bei fast allen Figuren der Josephsromane zur Wirkung bringt, an die Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" anzuschließen. Es ist eine Konzeption, die er mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, in den letzten Jahren in die kulturgeschichtliche Debatte eingeführt hat und die in diesem Fall tatsächlich erstaunlich gut passt.
In der Josephstetralogie geht es freilich nicht nur um Gedächtnis, sondern auch um eine Fortschrittsperspektive. Das hat nicht zuletzt mit der Entstehungszeit des Werkes zu tun, einer Epoche forcierter politischer Remythisierung - Rosenbergs faschistischer "Mythus des 20. Jahrhunderts" ist ein prominentes Beispiel. Thomas Mann allerdings ging es nicht um Mythen als "Wir"-Erlebnis, als Entgrenzung des Einzelnen ins Kollektiv, als Ausflucht aus den Ambivalenzen der Modernität. Ihn interessierte die individualpsychologische, nicht die politische Dimension des Mythischen - das Typische in einem menschheitlichen Sinn, nicht als Bindemittel der Massen.
In Abhebung von der grassierenden Mythentrunkenheit und Rückkehrsehnsucht in Urzustände wollte er den Mythos jedoch "humanisieren". Er sollte nicht den "faschistischen Dunkelmännern" überlassen bleiben. Deshalb hat er dem zeitlosen Mythos einen Zeitfaktor eingebaut. Zwar ist Mythos "ewige Wiederkehr", aber wenn die Zeichen der Zeit erkannt werden, ist es eine Wiederholung auf jeweils höherer Stufe. So erfährt der Mythos allmählich eine Vergeistigung, Spiritualisierung, Transzendierung. Am deutlichsten wird das in Zusammenhang mit den Opferriten. Das Menschenopfer wird durch das Tieropfer ersetzt. Mit Assmann könnte man sagen: Der Mythos klärt sich auf in Richtung Monotheismus.
Womit das zentrale Anliegen des Religionstheoretikers berührt ist. Assmann glaubt an Gründungen, die zu ihrer Zeit etwas radikal Neues darstellen und die Welt von Grund auf verändern. Dazu gehört die Erfindung des Monotheismus, wie er sie in seinen Büchern als kulturgeschichtliche Wasserscheide herausgearbeitet hat: die "mosaische Unterscheidung". Statt mythischer Muster ist nun das Gesetz zu erfüllen. Es gilt nicht mehr in mythischen Spuren zu wandeln, sondern die Schrift zu bezeugen. An die Stelle der vielen Mythen, die man zum Drehbuch der eigenen Lebensgeschichte machen kann, tritt nun die eine Heilsgeschichte. Nicht der Bezug zur Vergangenheit, sondern der zur Zukunft ist nun entscheidend.
Immer wieder kehrt Assmann in seinem Thomas-Mann-Buch zum radikalen Bruch zwischen mythischer und monotheistischer Welt zurück. Wobei die Argumentation gerade in diesem zentralen Punkt merkwürdig schwankt. "Mit dem verschrifteten Gottesgesetz ist etwas vollkommen Neues in die Welt gekommen und eine jener Unterscheidungen getroffen worden, wie sie Thomas Mann nicht wahrhaben wollte", schreibt er einmal. Und beklagt, dass Mann "kein Denker der Differenz" sei. Dann wieder lobt er ihn für die Raffinesse, mit der er die Gegensätze "systematisch überbrückt" und in der Josephsgestalt, die gleichermaßen in der "orphischen" Zeit des Mythos wie in der "mosaischen" Zeit des jüdischen Gesetzes lebe, sogar ihre Vereinbarkeit inszeniert.
Diese Unschlüssigkeit resultiert daraus, dass Assmann einerseits mit dem "Joseph" eine ideale Folie für seine Theorie erhält, denn statischer Mythos und monotheistische Gottes-Evolution sind ohne Zweifel zentrale Aspekte der Tetralogie. Andererseits aber sieht Thomas Mann die Dinge doch ein wenig anders: fließender, nicht als Bruch, nicht als schroffe Entgegensetzung von Mythos und Monotheismus. Das verschafft ihm von seiten Assmanns einmal den Vorwurf, ignorant, und ein andermal das Lob, ein trickreicher Mann der Synthese zu sein.
Während die Monotheismus-Kapitel ein wenig daran leiden, dass Assmann sehr darum bemüht ist, Thomas Mann zum Gewährsmann seiner eigenen Ideen zu machen, beeindrucken die Ausführungen über die "Urteile und Vorurteile" in Thomas Manns Ägyptenbild durch ihre sachliche Kompetenz. Auch hier ist freilich ein latenter Interessenkonflikt zu beobachten. Leicht kränkend wirkt es offenbar auf Assmann, dass Thomas Mann Ägypten aus Gründen der antithetischen Struktur seines Romans als alte, überständige Spätzivilisation braucht - als Antipoden zum sich erst herausbildenden Verheißungsträger Israel. Entsprechend tentenziös stellt er es dar. Andererseits macht sich Thomas Manns grundsätzliche Sympathie mit überfeinerten Spätzivilisationen doch auch in der Darstellung Ägyptens deutlich genug geltend.
Die Jaakobsgemeinschaft allerdings ergeht sich gerne in Verabscheuung des "äffischen Ägypterlands". Hier gilt Ägypten als Land der Dekadenz, der Unterdrückung und des Götzendienstes - als "Sklavenhaus". Nun wird dieses Ägyptenbild im Roman selbst als durchaus fragwürdig, interessengeleitet und ressentimentgeladen dargestellt. Ein großer Reiz des dritten Bandes "Joseph in Ägypten", der Josephs Reise durch das fremde Land beschreibt, besteht ja im Aufeinanderprallen der alten Vorurteile mit den neuen Erfahrungen, die zu mancher Revision führen.
Trotzdem gibt sich Assmann indigniert bei Thomas Manns Darstellung der Pyramiden. Hören wir zunächst in den Roman hinein:
"Dort aber (...), am Rand der Wüste, sahen die Reisenden, geradeausblickend, ein anderes Gebirge von Sonderart sich erheben, - ebenmäßig-figürlich gestaltet, aus Dreiecksflächen, deren reine Kanten in riesiger Schräge zu Spitzenpunkten zusammenliefen. Es war aber nicht erschaffenes Gebirge, was sie da sahen, sondern gemachtes; es waren die großen Austritte, von denen die Welt wusste (...), die Grabmäler Chufus, Chefrens und anderer Könige der Vorzeit, errichtet von Hunderttausend Hustenden unter der Geißel in jahrzehntelanger Fron und heiliger Schinderei aus Millionen tonnenschwerer Bauklötze, die sie jenseits in den arabischen Brüchen gemetzt und zum Flusse geschleppt, hinübergeschifft und ächzend weitergeschlittet bis zum lybischen Rande, wo sie sie mit Hebezeugen unglaublich gehisst hatten, fallend und sterbend mit hängender Zunge im Wüstenbrand vor übernatürlicher Anstrengung, auf dass Gottkönig Chufu tief innen darunter ruhe, (...), ein Mimosenzweiglein auf seinem Herzen. (...)"
Josephs " Blick stieß gegen die kahl überdauernde Riesenmathematik, dies Großgerümpel des Todes, wie ein Fuß stößt nach Plunder. "
Der Leser stolpert hier über die Bezeichnung der Pyramiden als "Austritte" - eine etymologische Fehlleistung, die sich Thomas Manns Gewährsmann Dimitri Mereschkowski verdankt. "Jeder Ägyptologe hätte Thomas Mann über Mereschkowskis Irrtum aufklären können", bemerkt Assmann etwas schulmeisterlich, und hadert dann mit den Klischees der mörderischen Fronarbeit. Fast den Atem verschlägt es ihm angesichts der abfälligen Bezeichnung "Großgerümpel des Todes". Das ist für Assmann auch nicht mehr als Humoristik zu entschuldigen. Er schreibt:
"So sind die Pyramiden wohl noch nie genannt worden. Es ist schon ein gründlich entzaubernder und banalisierender Blick, den Joseph auf Ägypten wirft. (...) Man würde das ja lustig und originell finden, entspräche es nicht so völlig dem üblichen Hochmut des Abendlandes und seiner herablassenden Orientfaszination und spürte man nicht deutlich, dass Thomas Mann selbst, als er Ägypten in den Jahren 1925 und 1930 bereiste, vermutlich nicht viel anders auf diese Bauwerke geblickt haben mag."
Dass es der Erzähler nicht unbedingt mit der verächtlichen Perspektive des jungen Migranten Joseph hält, dass er später die ägyptische Dame Mut-em-enet - vulgo: Potiphars Weib - gegen die in Jahrtausenden aufgehäuften Vorurteile verteidigt - für Assmann fällt das offenbar kaum ins Gewicht.
Dagegen bemerkt er, dass Thomas Manns Sphinx ägyptologisch nicht korrekt ist, weil die Riesenskulptur zu einem weiblichen Wesen gemacht und die griechische Sphinx des Sophokles, rätselstellend und männermordend, auf das Original zurückprojiziert wird. Immerhin ist es motivisch gut gearbeitet, denn so gelingt es Thomas Mann, die schöne, für Joseph gefährliche Mut-em-enet eindrucksvoll zu präfigurieren, wie auch Assmann zugesteht.
Aufschlussreich ist das Kapitel über die Sonnentheologie des Echnaton. Auch wenn Assmann bei dieser Gelegenheit einmal mehr die detaillierte Quellenarbeit Thomas Manns lobt, sieht er in dieser neuen Sonnenreligion doch eine ganz andere Tendenz am Werk als Thomas Mann im zentralen Gespräch zwischen Joseph und Pharao im Abschlussband "Joseph, der Ernährer" - eher aufklärerisch-naturphilosophische Immanenz statt sublime Transzendenz. Auch hier stelle Thomas Mann "die historischen Phänomene nur verzerrt dar".
Natürlich weiß Assmann, dass poetische und historische Wahrheit im Roman, der eben doch kein Sachbuch ist, auseinander gehen; er weiß, dass auch historische Romane nicht auf geschichtswissenschaftliche Akkuratesse verpflichtet sind. Und ringt sich zu einem etwas zerknirschten Resümee durch:
"Natürlich war es nicht Manns Absicht, der altägyptischen Kultur gerecht zu werden. Ihm ging es dabei vielmehr um eine Projektionsfläche für alle möglichen, durchaus zeitgenössischen, aktuellen Themen und Konfrontationen... Außerdem darf man auch seine humoristischen und teilweise satirischen Absichten nicht außer acht lassen; sein Bild ist bewusst eher als Karikatur denn als Porträt angelegt. Am allerwenigsten hat er seinen Roman für Ägyptologen geschrieben. Trotzdem darf der Leser von einem Ägyptologen erwarten, dass er zu Thomas Manns mit so unendlichem Fleiß, Scharfblick und Einfühlungsvermögen entworfenen Bild der altägyptischen Kultur Stellung nimmt, auch kritisch."
Das tut Assmann ausgiebig, und das ist gut so. Denn so verdankt man dem Buch eine fundiertere Einschätzung von Thomas Manns Ägyptenbild, als sie Literaturwissenschaftler von ihrem Kenntnisstand aus leisten könnten. Und nicht zu vergessen: neben kulanten Zurechtweisungen stimmt Assmann immer wieder auch das Lob von Thomas Manns genialischer Intuition an. Ist der Autor mit einem siebten Sinn für Zusammenhänge doch gelegentlich auf Ideenverbindungen gestoßen, die für die Ägyptologie noch heute befruchtend seien.
Dann beschäftigt Assmann sich mit der großen Verführungsgeschichte. Während die Joseph-Figur von vielen Interpreten gerne mit Hilfe Freuds gedeutet wird, begreift Assmann sie als entschiedenen Anti-Ödipus, eher auf Vaterlob als auf Vatermord gestimmt. Ist Freud erst einmal beseitegeschafft, ergibt sich wieder Platz für einen emphatischen Begriff von Keuschheit. Denn auf den keuschen Joseph läuft die biblische Geschichte in christlicher Lesart ja vor allem hinaus. Erst im christlichen Verständnis wird Joseph zum Sinnbild des Versuchten - der alttestamentliche Urtext legt viel deutlichere Akzente auf Josephs Getetzestreue und den Einzug Israels nach Ägypten.
Der homoerotische Entsagungskünstler Thomas Mann allerdings konnte viel mit dem Thema der Keuschheit anfangen. Sehr zu recht, findet Assmann, und bringt auch an diesem Punkt sein Hauptanliegen ein. Denn Keuschheit setzt eben auch einen ganz neuen Begriff von Sündhaftigkeit voraus, und der kam laut Assmann ebenfalls erst mit dem eifersüchtigen monotheistischen Gott in die Welt - Sündhaftigkeit als Kernbestand einer neuen religiösen Innerlichkeitskultur, die um das individuelle Seelenheil kreist. Thomas Mann hätte diese Deutung gutgeheißen, macht er doch die Sündhaftigkeit zur Begleiterscheinung, wenn nicht sogar Voraussetzung kultureller Sublimierung. "Zum Sündigen gehört Geist", schreibt er, und "recht betrachtet, ist aller Geist nichts anderes als Sinn für die Sünde."
Geist zeigt sich im Sinn für das "Überständige", wie eine zentrale Formel des Josephsromans lautet. Die Germanistik konnte ihre Herkunft bisher nicht recht erklären. Jan Assmann, wie Thomas Mann gebürtiger Lübecker, kann uns nun über den lokalen Hintergrund des Begriffs aufklären:
""Überständig" ist ein Wort, das ich nur als "överständig" aus meiner eigenen Lübecker Kindheit kenne. "Överständig" nannte man zum Beispiel Töchter, die mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet waren. Bei Thomas Mann meint "überständig" Dinge, Institutionen, Bräuche, Anschauungen, die aus einer abgelebten Vergangenheit hinüber stehen in eine Gegenwart, in die sie nicht mehr gehören. Das Überständige ist das Menschenopfer, das Laban noch praktiziert, das ihm aber keinen Segen mehr bringt, weil Gott längst darüber hinaus ist. Überständig ist auch die Kastration, die Huji und Tuji an Potiphar praktizieren im Wahn, damit einer neuen Stufe der Geistesgeschichte im Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat gerecht zu werden."
Angesichts solcher Rückfälle ins "Überständige", die bei mangelnder "Gottesklugheit" jederzeit möglich sind, wundert man sich freilich darüber, dass Assmann Thomas Mann offenbar für einen ausgemachten geschichtsphilosophischen Optimisten hält und ihn als solchen zum Gegenpol Arnold Schönbergs macht. Wenn Assmann allerdings am Ende die Josephsromane mit Schönbergs fragmentarischer Oper "Moses und Aron" konfrontiert, so profiliert er in diesem Vergleich die Eigenarten Manns mit großer Tiefenschärfe:
"Schönbergs scheiternder Moses, der mit dem Ausruf "O Wort, Du Wort, das mir fehlt", verzweifelt zusammenbricht, bildet den äußersten Gegensatz zu Thomas Manns triumphierendem Joseph, dem niemals die Worte ausgehen, so wie auch der Wittgenstein des "Tractatus" mit seiner Forderung "Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen" den äußersten Gegensatz bildet zu Thomas Manns alles versprachlichender Aneignung und Artikulation von Welt, die keine Grenzen kennt und das Schwierigste und Heikelste in immer neue Worte zu fassen weiß. Schönbergs Moses deutet in seinem Verstummen ein Jenseits der Versprachlichung an, das es in Thomas Manns Welt nicht gibt. Die einzige Gelegenheit, bei der Thomas Manns Helden verstummen - und seinem Joseph bleibt selbst diese Erfahrung versagt - ist die Liebesekstase."
Das sind kluge Einsichten, an denen dieses Buch reich ist. Sicher überzeichnet Assmann manches. Mit seinem scharfen Dualismus von Mythos und Monotheismus, den es in dieser Form bei Thomas Mann nicht gibt, liest er in die Josephsromane eine Kritik am Mythos hinein, die das Buch ungeachtet seiner abrahamitischen Fortschrittsperspektive und der Entwicklungstheologie der Gottesklugheit nicht enthält. Zunächst - und das muss man am Ende dann doch noch einmal betonen - sind die Josephsromane Ausdruck einer ganz außerordentlichen Mythos-Faszination. Trotzdem hat Assmanns eigensinnige, thesenstarke Lektüre ihre entschiedenen Vorzüge: Selten ist die theologische und mythostheoretische Problematik von Thomas Manns Hauptwerk so scharf herausgearbeitet worden.
Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. Verlag C. H. Beck, München 2006. 256 Seiten, 22,90 Euro.
An Breitenwirkung können es die Josephsromane allerdings bis heute nicht mit Thomas Manns anderen Hauptwerken aufnehmen. Dabei stehen sie - auch ein Großfamilienepos - an Geschichtenfülle und erzählerischer Vitalität nicht hinter den "Buddenbrooks" zurück. Der Rückgriff auf die biblischen Geschichten erwies sich für den Erzähler als eine Art Jungbrunnen. In den Höhen des "Zauberbergs" war die Kunst der Ironie groß, die Luft des Erzählens aber dünn geworden. Dank der handlungsstarken Vorlage der Josephsgeschichte konnte Thomas Mann nun eine alte Begabung wieder voll entfalten: eben das Geschichtenerzählen.
Der Mythos legitimierte ein lebenspralles, zum Teil drastisches Fabulieren, wie es die bürgerlichen Lebenswelten nicht mehr hergaben. Man lese nur die martialische "Geschichte Dina's" oder die grandiose Episode von Jaakobs Segensbetrug an Esau oder, sehr anrührend, von Rahels Tod am Wegesrand. Nie war Thomas Mann besser. Der Roman - dem der Autor allerdings ein eher strapaziöses Vorspiel namens "Höllenfahrt" voranstellte - vollbringt das Kunststück, uns die Menschen des 14. vorchristlichen Jahrhunderts in ihrer Entferntheit nahe zu bringen und in ihrem Anderssein vertraut zu machen.
Damit nicht genug. Der renommierte Ägyptologe Jan Assmann rechnet den Verfasser der Josephsromane nun auch zu den "bedeutendsten Religions- und Mythostheoretikern seiner Zeit". Die Fachwissenschaften, von denen Thomas Mann bei seiner quellengestützten Arbeitsweise selbst viele Anregungen bezog, hätten bis heute nicht angemessen auf diese Herausforderung reagiert. Assmann selbst hat jetzt ein Buch über die Josephsromane vorgelegt, das keine literaturwissenschaftliche Studie sein, sondern die Tetralogie gleichsam als "Sachbuch" lesen und ernst nehmen will.
Nicht ganz ohne Berechtigung. Denn in der Tat enthalten die Josephsromane eine faszinierende Konzeption des mythischen Bewusstseins, die Assmann zunächst rekapituliert. Leben im Mythos - das ist das Leben, das in Spuren geht, das sich als Wiederholung zelebriert. Von "zitathaftem Leben" spricht Thomas Mann auch. Joseph zum Beispiel reproduziert die Passions- und Heilsgeschichte diverser Gottheiten; dazu gehören der mesopotamische Tammuz, der syrische Adonis, der ägyptische Osiris. Es ist nebenbei ein Beispiel für die Traditionsmischung und kulturelle Hybridisierung, die in den Josephsromanen entscheidend ist - auch dies eine Antithese zum bornierten Nationalismus der Entstehungszeit. Von einem grenzüberschreitenden Bilder-Recycling", spricht Jan Assmann, gar von "multikultureller Bricolage".
Der Mythos ist jedenfalls ein Urgeschehen, ein Muster. Kain und Abel etwa sind das Paradigma für alle ähnlich gelagerten Bruderkonflikte im Lauf der Jahrtausende; insofern von zeitloser Gegenwärtigkeit. Das mythische Bewusstsein - und genau dieses will Thomas Mann vorführen; er will nicht bloß Mythen nacherzählen - sieht in vielen Situationen der Gegenwart solche alten Muster durchschimmern. Und keiner hat soviel Sinn dafür wie der grübelnde Patriarch Jaakob. So beschreibt ihn der Roman:
"Jaakobs Ausdrucksmacht nun aber, auch die Bewegtheit seiner Stimme, die Gehobenheit seiner Sprache, die Feierlichkeit seines Wesens überhaupt - hing mit der Anlage und Neigung zusammen, die zugleich der Grund war, weshalb man den starken und malerischen Ausdruck des Sinnens so oft an ihm zu beobachten hatte. Es war der Hang zur Gedankenverbindung, welcher sein Innenleben in dem Grad beherrschte, dass er geradezu seine Form ausmachte... Auf Schritt und Tritt wurde seine Seele durch Anklänge und Entsprechungen betroffen gemacht, abgelenkt und ins Weitläufige entführt, die Vergangenes und Verkündetes in den Augenblick mischten und den Blick eben dergestalt verschwimmen und sich brechen ließen, wie es beim Grübeln geschieht. Das war beinahe ein Leiden, aber nicht ihm allein zuzuschreiben, sondern sehr weit verbreitet (...), so dass sich sagen ließe, in Jaakobs Welt habe geistige Würde und "Bedeutung" sich nach dem Reichtum an mythischen Ideenverbindungen und nach der Kraft bestimmt, mit der sie den Augenblick durchdrangen."
Die Figuren der Josephsromane haben keine eng umgrenzte Individualität. Jan Assmann kommentiert:
"Wenn diese Menschen "ich" sagen, dann geht das, was sie sich als Selbsterlebtes zurechnen, oft weit über die Grenzen der individuellen Lebenszeit hinaus und greift in den Raum der mythischen Bahnungen über, in denen andere schon geschritten sind. Das nennt Thomas Mann mit einer vielleicht nicht unbedingt glücklichen, aber mit einer von ihm ständig wiederholten Wendung das "nach hinten offene Ich". "
Natürlich lässt sich Jan Assmann die Gelegenheit nicht entgehen, diese mythische Vergangenheitsbezogenheit, wie sie Thomas Mann in verschieden komplexer Weise bei fast allen Figuren der Josephsromane zur Wirkung bringt, an die Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" anzuschließen. Es ist eine Konzeption, die er mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, in den letzten Jahren in die kulturgeschichtliche Debatte eingeführt hat und die in diesem Fall tatsächlich erstaunlich gut passt.
In der Josephstetralogie geht es freilich nicht nur um Gedächtnis, sondern auch um eine Fortschrittsperspektive. Das hat nicht zuletzt mit der Entstehungszeit des Werkes zu tun, einer Epoche forcierter politischer Remythisierung - Rosenbergs faschistischer "Mythus des 20. Jahrhunderts" ist ein prominentes Beispiel. Thomas Mann allerdings ging es nicht um Mythen als "Wir"-Erlebnis, als Entgrenzung des Einzelnen ins Kollektiv, als Ausflucht aus den Ambivalenzen der Modernität. Ihn interessierte die individualpsychologische, nicht die politische Dimension des Mythischen - das Typische in einem menschheitlichen Sinn, nicht als Bindemittel der Massen.
In Abhebung von der grassierenden Mythentrunkenheit und Rückkehrsehnsucht in Urzustände wollte er den Mythos jedoch "humanisieren". Er sollte nicht den "faschistischen Dunkelmännern" überlassen bleiben. Deshalb hat er dem zeitlosen Mythos einen Zeitfaktor eingebaut. Zwar ist Mythos "ewige Wiederkehr", aber wenn die Zeichen der Zeit erkannt werden, ist es eine Wiederholung auf jeweils höherer Stufe. So erfährt der Mythos allmählich eine Vergeistigung, Spiritualisierung, Transzendierung. Am deutlichsten wird das in Zusammenhang mit den Opferriten. Das Menschenopfer wird durch das Tieropfer ersetzt. Mit Assmann könnte man sagen: Der Mythos klärt sich auf in Richtung Monotheismus.
Womit das zentrale Anliegen des Religionstheoretikers berührt ist. Assmann glaubt an Gründungen, die zu ihrer Zeit etwas radikal Neues darstellen und die Welt von Grund auf verändern. Dazu gehört die Erfindung des Monotheismus, wie er sie in seinen Büchern als kulturgeschichtliche Wasserscheide herausgearbeitet hat: die "mosaische Unterscheidung". Statt mythischer Muster ist nun das Gesetz zu erfüllen. Es gilt nicht mehr in mythischen Spuren zu wandeln, sondern die Schrift zu bezeugen. An die Stelle der vielen Mythen, die man zum Drehbuch der eigenen Lebensgeschichte machen kann, tritt nun die eine Heilsgeschichte. Nicht der Bezug zur Vergangenheit, sondern der zur Zukunft ist nun entscheidend.
Immer wieder kehrt Assmann in seinem Thomas-Mann-Buch zum radikalen Bruch zwischen mythischer und monotheistischer Welt zurück. Wobei die Argumentation gerade in diesem zentralen Punkt merkwürdig schwankt. "Mit dem verschrifteten Gottesgesetz ist etwas vollkommen Neues in die Welt gekommen und eine jener Unterscheidungen getroffen worden, wie sie Thomas Mann nicht wahrhaben wollte", schreibt er einmal. Und beklagt, dass Mann "kein Denker der Differenz" sei. Dann wieder lobt er ihn für die Raffinesse, mit der er die Gegensätze "systematisch überbrückt" und in der Josephsgestalt, die gleichermaßen in der "orphischen" Zeit des Mythos wie in der "mosaischen" Zeit des jüdischen Gesetzes lebe, sogar ihre Vereinbarkeit inszeniert.
Diese Unschlüssigkeit resultiert daraus, dass Assmann einerseits mit dem "Joseph" eine ideale Folie für seine Theorie erhält, denn statischer Mythos und monotheistische Gottes-Evolution sind ohne Zweifel zentrale Aspekte der Tetralogie. Andererseits aber sieht Thomas Mann die Dinge doch ein wenig anders: fließender, nicht als Bruch, nicht als schroffe Entgegensetzung von Mythos und Monotheismus. Das verschafft ihm von seiten Assmanns einmal den Vorwurf, ignorant, und ein andermal das Lob, ein trickreicher Mann der Synthese zu sein.
Während die Monotheismus-Kapitel ein wenig daran leiden, dass Assmann sehr darum bemüht ist, Thomas Mann zum Gewährsmann seiner eigenen Ideen zu machen, beeindrucken die Ausführungen über die "Urteile und Vorurteile" in Thomas Manns Ägyptenbild durch ihre sachliche Kompetenz. Auch hier ist freilich ein latenter Interessenkonflikt zu beobachten. Leicht kränkend wirkt es offenbar auf Assmann, dass Thomas Mann Ägypten aus Gründen der antithetischen Struktur seines Romans als alte, überständige Spätzivilisation braucht - als Antipoden zum sich erst herausbildenden Verheißungsträger Israel. Entsprechend tentenziös stellt er es dar. Andererseits macht sich Thomas Manns grundsätzliche Sympathie mit überfeinerten Spätzivilisationen doch auch in der Darstellung Ägyptens deutlich genug geltend.
Die Jaakobsgemeinschaft allerdings ergeht sich gerne in Verabscheuung des "äffischen Ägypterlands". Hier gilt Ägypten als Land der Dekadenz, der Unterdrückung und des Götzendienstes - als "Sklavenhaus". Nun wird dieses Ägyptenbild im Roman selbst als durchaus fragwürdig, interessengeleitet und ressentimentgeladen dargestellt. Ein großer Reiz des dritten Bandes "Joseph in Ägypten", der Josephs Reise durch das fremde Land beschreibt, besteht ja im Aufeinanderprallen der alten Vorurteile mit den neuen Erfahrungen, die zu mancher Revision führen.
Trotzdem gibt sich Assmann indigniert bei Thomas Manns Darstellung der Pyramiden. Hören wir zunächst in den Roman hinein:
"Dort aber (...), am Rand der Wüste, sahen die Reisenden, geradeausblickend, ein anderes Gebirge von Sonderart sich erheben, - ebenmäßig-figürlich gestaltet, aus Dreiecksflächen, deren reine Kanten in riesiger Schräge zu Spitzenpunkten zusammenliefen. Es war aber nicht erschaffenes Gebirge, was sie da sahen, sondern gemachtes; es waren die großen Austritte, von denen die Welt wusste (...), die Grabmäler Chufus, Chefrens und anderer Könige der Vorzeit, errichtet von Hunderttausend Hustenden unter der Geißel in jahrzehntelanger Fron und heiliger Schinderei aus Millionen tonnenschwerer Bauklötze, die sie jenseits in den arabischen Brüchen gemetzt und zum Flusse geschleppt, hinübergeschifft und ächzend weitergeschlittet bis zum lybischen Rande, wo sie sie mit Hebezeugen unglaublich gehisst hatten, fallend und sterbend mit hängender Zunge im Wüstenbrand vor übernatürlicher Anstrengung, auf dass Gottkönig Chufu tief innen darunter ruhe, (...), ein Mimosenzweiglein auf seinem Herzen. (...)"
Josephs " Blick stieß gegen die kahl überdauernde Riesenmathematik, dies Großgerümpel des Todes, wie ein Fuß stößt nach Plunder. "
Der Leser stolpert hier über die Bezeichnung der Pyramiden als "Austritte" - eine etymologische Fehlleistung, die sich Thomas Manns Gewährsmann Dimitri Mereschkowski verdankt. "Jeder Ägyptologe hätte Thomas Mann über Mereschkowskis Irrtum aufklären können", bemerkt Assmann etwas schulmeisterlich, und hadert dann mit den Klischees der mörderischen Fronarbeit. Fast den Atem verschlägt es ihm angesichts der abfälligen Bezeichnung "Großgerümpel des Todes". Das ist für Assmann auch nicht mehr als Humoristik zu entschuldigen. Er schreibt:
"So sind die Pyramiden wohl noch nie genannt worden. Es ist schon ein gründlich entzaubernder und banalisierender Blick, den Joseph auf Ägypten wirft. (...) Man würde das ja lustig und originell finden, entspräche es nicht so völlig dem üblichen Hochmut des Abendlandes und seiner herablassenden Orientfaszination und spürte man nicht deutlich, dass Thomas Mann selbst, als er Ägypten in den Jahren 1925 und 1930 bereiste, vermutlich nicht viel anders auf diese Bauwerke geblickt haben mag."
Dass es der Erzähler nicht unbedingt mit der verächtlichen Perspektive des jungen Migranten Joseph hält, dass er später die ägyptische Dame Mut-em-enet - vulgo: Potiphars Weib - gegen die in Jahrtausenden aufgehäuften Vorurteile verteidigt - für Assmann fällt das offenbar kaum ins Gewicht.
Dagegen bemerkt er, dass Thomas Manns Sphinx ägyptologisch nicht korrekt ist, weil die Riesenskulptur zu einem weiblichen Wesen gemacht und die griechische Sphinx des Sophokles, rätselstellend und männermordend, auf das Original zurückprojiziert wird. Immerhin ist es motivisch gut gearbeitet, denn so gelingt es Thomas Mann, die schöne, für Joseph gefährliche Mut-em-enet eindrucksvoll zu präfigurieren, wie auch Assmann zugesteht.
Aufschlussreich ist das Kapitel über die Sonnentheologie des Echnaton. Auch wenn Assmann bei dieser Gelegenheit einmal mehr die detaillierte Quellenarbeit Thomas Manns lobt, sieht er in dieser neuen Sonnenreligion doch eine ganz andere Tendenz am Werk als Thomas Mann im zentralen Gespräch zwischen Joseph und Pharao im Abschlussband "Joseph, der Ernährer" - eher aufklärerisch-naturphilosophische Immanenz statt sublime Transzendenz. Auch hier stelle Thomas Mann "die historischen Phänomene nur verzerrt dar".
Natürlich weiß Assmann, dass poetische und historische Wahrheit im Roman, der eben doch kein Sachbuch ist, auseinander gehen; er weiß, dass auch historische Romane nicht auf geschichtswissenschaftliche Akkuratesse verpflichtet sind. Und ringt sich zu einem etwas zerknirschten Resümee durch:
"Natürlich war es nicht Manns Absicht, der altägyptischen Kultur gerecht zu werden. Ihm ging es dabei vielmehr um eine Projektionsfläche für alle möglichen, durchaus zeitgenössischen, aktuellen Themen und Konfrontationen... Außerdem darf man auch seine humoristischen und teilweise satirischen Absichten nicht außer acht lassen; sein Bild ist bewusst eher als Karikatur denn als Porträt angelegt. Am allerwenigsten hat er seinen Roman für Ägyptologen geschrieben. Trotzdem darf der Leser von einem Ägyptologen erwarten, dass er zu Thomas Manns mit so unendlichem Fleiß, Scharfblick und Einfühlungsvermögen entworfenen Bild der altägyptischen Kultur Stellung nimmt, auch kritisch."
Das tut Assmann ausgiebig, und das ist gut so. Denn so verdankt man dem Buch eine fundiertere Einschätzung von Thomas Manns Ägyptenbild, als sie Literaturwissenschaftler von ihrem Kenntnisstand aus leisten könnten. Und nicht zu vergessen: neben kulanten Zurechtweisungen stimmt Assmann immer wieder auch das Lob von Thomas Manns genialischer Intuition an. Ist der Autor mit einem siebten Sinn für Zusammenhänge doch gelegentlich auf Ideenverbindungen gestoßen, die für die Ägyptologie noch heute befruchtend seien.
Dann beschäftigt Assmann sich mit der großen Verführungsgeschichte. Während die Joseph-Figur von vielen Interpreten gerne mit Hilfe Freuds gedeutet wird, begreift Assmann sie als entschiedenen Anti-Ödipus, eher auf Vaterlob als auf Vatermord gestimmt. Ist Freud erst einmal beseitegeschafft, ergibt sich wieder Platz für einen emphatischen Begriff von Keuschheit. Denn auf den keuschen Joseph läuft die biblische Geschichte in christlicher Lesart ja vor allem hinaus. Erst im christlichen Verständnis wird Joseph zum Sinnbild des Versuchten - der alttestamentliche Urtext legt viel deutlichere Akzente auf Josephs Getetzestreue und den Einzug Israels nach Ägypten.
Der homoerotische Entsagungskünstler Thomas Mann allerdings konnte viel mit dem Thema der Keuschheit anfangen. Sehr zu recht, findet Assmann, und bringt auch an diesem Punkt sein Hauptanliegen ein. Denn Keuschheit setzt eben auch einen ganz neuen Begriff von Sündhaftigkeit voraus, und der kam laut Assmann ebenfalls erst mit dem eifersüchtigen monotheistischen Gott in die Welt - Sündhaftigkeit als Kernbestand einer neuen religiösen Innerlichkeitskultur, die um das individuelle Seelenheil kreist. Thomas Mann hätte diese Deutung gutgeheißen, macht er doch die Sündhaftigkeit zur Begleiterscheinung, wenn nicht sogar Voraussetzung kultureller Sublimierung. "Zum Sündigen gehört Geist", schreibt er, und "recht betrachtet, ist aller Geist nichts anderes als Sinn für die Sünde."
Geist zeigt sich im Sinn für das "Überständige", wie eine zentrale Formel des Josephsromans lautet. Die Germanistik konnte ihre Herkunft bisher nicht recht erklären. Jan Assmann, wie Thomas Mann gebürtiger Lübecker, kann uns nun über den lokalen Hintergrund des Begriffs aufklären:
""Überständig" ist ein Wort, das ich nur als "överständig" aus meiner eigenen Lübecker Kindheit kenne. "Överständig" nannte man zum Beispiel Töchter, die mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet waren. Bei Thomas Mann meint "überständig" Dinge, Institutionen, Bräuche, Anschauungen, die aus einer abgelebten Vergangenheit hinüber stehen in eine Gegenwart, in die sie nicht mehr gehören. Das Überständige ist das Menschenopfer, das Laban noch praktiziert, das ihm aber keinen Segen mehr bringt, weil Gott längst darüber hinaus ist. Überständig ist auch die Kastration, die Huji und Tuji an Potiphar praktizieren im Wahn, damit einer neuen Stufe der Geistesgeschichte im Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat gerecht zu werden."
Angesichts solcher Rückfälle ins "Überständige", die bei mangelnder "Gottesklugheit" jederzeit möglich sind, wundert man sich freilich darüber, dass Assmann Thomas Mann offenbar für einen ausgemachten geschichtsphilosophischen Optimisten hält und ihn als solchen zum Gegenpol Arnold Schönbergs macht. Wenn Assmann allerdings am Ende die Josephsromane mit Schönbergs fragmentarischer Oper "Moses und Aron" konfrontiert, so profiliert er in diesem Vergleich die Eigenarten Manns mit großer Tiefenschärfe:
"Schönbergs scheiternder Moses, der mit dem Ausruf "O Wort, Du Wort, das mir fehlt", verzweifelt zusammenbricht, bildet den äußersten Gegensatz zu Thomas Manns triumphierendem Joseph, dem niemals die Worte ausgehen, so wie auch der Wittgenstein des "Tractatus" mit seiner Forderung "Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen" den äußersten Gegensatz bildet zu Thomas Manns alles versprachlichender Aneignung und Artikulation von Welt, die keine Grenzen kennt und das Schwierigste und Heikelste in immer neue Worte zu fassen weiß. Schönbergs Moses deutet in seinem Verstummen ein Jenseits der Versprachlichung an, das es in Thomas Manns Welt nicht gibt. Die einzige Gelegenheit, bei der Thomas Manns Helden verstummen - und seinem Joseph bleibt selbst diese Erfahrung versagt - ist die Liebesekstase."
Das sind kluge Einsichten, an denen dieses Buch reich ist. Sicher überzeichnet Assmann manches. Mit seinem scharfen Dualismus von Mythos und Monotheismus, den es in dieser Form bei Thomas Mann nicht gibt, liest er in die Josephsromane eine Kritik am Mythos hinein, die das Buch ungeachtet seiner abrahamitischen Fortschrittsperspektive und der Entwicklungstheologie der Gottesklugheit nicht enthält. Zunächst - und das muss man am Ende dann doch noch einmal betonen - sind die Josephsromane Ausdruck einer ganz außerordentlichen Mythos-Faszination. Trotzdem hat Assmanns eigensinnige, thesenstarke Lektüre ihre entschiedenen Vorzüge: Selten ist die theologische und mythostheoretische Problematik von Thomas Manns Hauptwerk so scharf herausgearbeitet worden.
Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. Verlag C. H. Beck, München 2006. 256 Seiten, 22,90 Euro.