Dina Netz: Kopf oder Bauch? Das ist hier die Frage in "Kultur heute" in diesen Tagen. Wir versuchen in diesen postfaktischen Zeiten zu klären, ob im Moment angesichts eines US-amerikanischen Präsidenten namens Trump und auch zunehmendem Populismus in Europa der Bauch vielleicht die Oberhand über den Kopf gewonnen hat. Die meisten Gespräche in unserer Reihe, die die verschiedenen Gesellschaftsbereiche abgeschritten haben, kamen bisher zu dem Schluss: Kopf allein geht nicht, Bauch allein geht nicht, es kommt, wie fast immer im Leben, auf die Mischung an.
Ich habe Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen, gefragt: Herr Pörksen, für unsere Zeit, in der mehr der Bauch als das Gefühl zu herrschen scheint, ist nun der Begriff "postfaktisch" gefunden worden, der sich ja einer erstaunlichen Karriere erfreut. Das suggeriert allerdings, dass die Dominanz der Emotion ein gänzlich neues Phänomen sei, und so stimmt das natürlich auch nicht. Was genau hat sich denn überhaupt verändert in den vergangenen Jahren?
Bernhard Pörksen: Was sich verändert hat ist unsere Medienlandschaft. Wir haben eine gleichsam tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur. Was meine ich damit? - Ich meine damit: Jeder kann sich heute barrierefrei an die Öffentlichkeit wenden. Es gibt nicht mehr den einzig mächtigen Gate Keeper in Gestalt der klassischen Massenmedien. Nein, jeder vermag auf der Weltbühne des Netzes selbst zu publizieren, und das ist tatsächlich eine neue Veränderung. Gleichzeitig haben wir, das ist die aktuelle Diskussion, ja durch die sozialen Netzwerke wirbelnde Fake News, die nun zu einem solchen Begriff - ich mag ihn nicht besonders - wie der Rede vom postfaktischen Zeitalter geführt haben.
"Wir haben eine neue Macht der Propaganda"
Netz: Es tut mir jetzt leid, ich muss den Begriff noch mal aufgreifen. Denn Sie haben kürzlich in einem Aufsatz in der "Zeit" über das Postfaktische nachgedacht und da sind Sie eingestiegen mit dem "Ententeich-Problem". Das Ententeich-Problem ist nun auch eines, das die heutigen Medien haben. Deshalb erklären Sie uns doch bitte mal kurz, was es damit auf sich hat.
Pörksen: Das Ententeich-Problem, das ist ein Problem, das man im Grunde genommen auf eine Anekdote, so könnte man sagen, von Heinrich Mann zurückführen könnte. Heinrich Mann hat im Jahre 1938 einmal darüber nachgedacht, ob er sich mit dem Kommunisten Walter Ulbricht gegen die gemeinsam verabscheuten Nazis verbünden wolle, ob das überhaupt möglich sei. Heinrich Mann kam zu dem Schluss, das sei leider nicht möglich. Sein Bonmot lautete dann, ich kann mich doch nicht mit einem Mann an einen Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei gar kein Tisch, sondern ein Ententeich, und der mich zwingen will, dem zuzustimmen. Das heißt, er hielt Walter Ulbricht (vielleicht nicht ganz zu Unrecht) für den Prototyp eines Ideologen, der einen Tisch, den alle anderen für einen Tisch halten, womöglich zu einem Ententeich erklärt und dann versucht, den anderen zu zwingen, diese Weltsicht zu übernehmen.
Und ich glaube, wir ringen heute tatsächlich mit einer Situation, die sich mit dem Begriff Ententeich-Problem beschreiben lässt. Wir haben hart gesottene Verschwörungstheoretiker. Wir haben die Echokammern in den sozialen Netzwerken, wo Menschen gleichsam in eine Mehrheitsillusion hineindriften und sich wechselseitig ihrer Weltsicht versichern. Wir haben eine neue Macht der Propaganda, auch der politisch motivierten Propaganda, aber auch der ökonomisch motivierten Propaganda. Fake News sind, so muss man sagen, ein Geschäft. Sie lassen sich umsetzen in Werbeerlöse. Und diese Gesamtsituation führt dazu, dass wir uns neu eigentlich verständigen müssen über die Realitäts- und die Rationalitätsstandards des Diskurses.
"Wahrheit entsteht als Resultat des großen gesellschaftlichen Gesprächs"
Netz: Versuchen wir es mal. Soll man sich denn nun als Journalist oder als klassisches Medium, um im Bild zu bleiben, mit den Ententeich-Behauptern an einen Tisch setzen oder nicht? Mit anderen Worten: Soll man mit Populisten, Demagogen, solchen Ententeich-Behauptern diskutieren, oder soll man sich gar nicht auf das Niveau begeben?
Pörksen: Heinrich Mann sagt ja, wir sollen es nicht tun und wir können es nicht tun, es wird nicht funktionieren. Ich bin da anderer Auffassung. Sehen Sie, eine Demokratie lebt von dem Gedanken der Mündigkeit und lebt davon, dass wir miteinander ringen. Wahrheit ist nichts Festgesetzes, nichts endgültig Festgelegtes. Wahrheit entsteht als Resultat des großen gesellschaftlichen Gesprächs, als Resultat von Diskurs und Debatte. Das heißt, wir müssen uns mit denjenigen an einen Tisch setzen, die diesen Tisch für einen Ententeich halten, und wir müssen mit ihnen diskutieren. Das ist die Aufgabe in einer Demokratie, auch wenn es mühsam ist, auch wenn es schwer fällt, auch wenn es unendlich anstrengend ist. Und natürlich müssen wir auch selbst, um überhaupt dieses Gespräch zu ermöglichen, von unserer eigenen Wahrheitsemphase, von unserem eigenen Wahrheitsfuror gelegentlich Abstand nehmen.
Die Behauptung, ich bin im Besitz der Wahrheit, die anderen verbreiten Propaganda, die anderen verbreiten Fake News, diese Behauptung, diese Haltung ist überhaupt keine gute Basis für einen wirklichen Dialog, für einen echten Austausch auf Augenhöhe. Warum? - Die Annahme, man sei im Besitz absoluter Wahrheit, führt eigentlich in der Kommunikation, zumindest ist das meine Beobachtung, zu Begradigungs- und Bekehrungsgesprächen. Man will dem anderen dann nur noch erklären, was er für ein Idiot ist, und wer lässt sich das schon gerne sagen.
Gate Keeping und Gate Reporting
Netz: Das gilt aber anders herum natürlich auch. Viele gerade von diesen Ententeich-Behauptern haben sich ihre, sagen wir mal, Nachrichtenkanäle, auf den eigenen Leib zugeschnitten. Oft ist es ja so, dass Leute, die eine bestimmte Meinung haben, auch nur noch Nachrichten wahrnehmen, die diese Meinung bestätigen. Wie kommen wir denn aus dieser Falle wieder raus?
Pörksen: Ich glaube, dass sich da gar keine einfache Lösung finden lässt, aber dass sich in dieser gegenwärtigen Situation eigentlich ein gigantischer gesellschaftlich noch überhaupt nicht verstandener Bildungsauftrag verbirgt. Die Grundideale eines guten, eines seriösen Journalismus, was ist glaubwürdige, relevante, verbreitungsreife Information, diese Grundfragen müssen zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Sie müssen im Grunde genommen in den Schulen gelehrt werden.
Und ich glaube noch etwas zweites. Wissenschaftler, Journalisten, Bildungsverantwortliche haben heute in diesen Zeiten, in denen das Realitäts- und Rationalitätsprinzip des Diskurses zumindest bedroht ist, unvermeidlich eine Art Zweitjob. Sie müssen nicht nur versuchen, ihr Wissen zu vermitteln - das ist der Standard, das ist gleichsam die Grundaufgabe -, sondern sie müssen versuchen zu erklären, wie sind sie zu diesem Wissen gekommen, was ist für sie eine seriöse Quelle. Sie müssen Transparenz herstellen über die Bedingungen der Wissensentstehung. Eine Mitarbeiterin von mir, Hanne Detel, hat einmal sehr schön gesagt, wir müssen den Wechsel schaffen vom Gate Keeping, der schlichten Auswahl von Information. Die ist natürlich immer noch unbedingt geboten, gerade in Zeiten der Informationsüberflutung.
Netz: Eher mehr!
Pörksen: Aber es muss auch etwas Zweites geben, etwas, was sie Gate Reporting genannt hat. Gate Keeping heißt, Informationen auswählen, sie als relevant auszeichnen. Gate Reporting hingegen bedeutet, man legt offen, wie ist man zu dieser Information gekommen, wie ist man zu den Quellen gekommen, warum hält man sie überhaupt für seriöse Quellen, für seriöse Experten. Diese transparente, dialogisch orientierte Begründung von Relevanz oder von Stichhaltigkeit oder von Informations- und Wahrheitsanspruch, diese Art der Haltung, die ist, glaube ich, in diesen Zeiten unbedingt geboten. Wir brauchen ganz gewiss beides, Gate Keeping, Auswahl von Informationen, Gate Reporting, seriöse, umfassende, transparente Begründung der Auswahl von diesen Informationen.
"Bereitschaft zur Konfrontation"
Netz: Sie haben vorhin, Herr Pörksen, gesagt, wir sollen uns alle an einen Tisch setzen und miteinander reden. Ich würde aber fast sagen, die traditionellen Medien haben in letzter Zeit sich zu sehr mit an den Tisch gesetzt, haben das Spiel mit dem Bauch, den Emotionen doch allzu oft mitgespielt. Oder wie würden Sie auf die jüngere Vergangenheit blicken?
Pörksen: Das ist ein wichtiger Punkt. Dieses Werben für das miteinander reden, für den Dialog und den Diskurs, kann nicht heißen, dass man inakzeptable Standpunkte akzeptiert, dass man zum Beispiel menschenfeindliche Positionen unter der Rubrik wir müssen uns jetzt aber mal austauschen, toll, was Du für eine Meinung hast, legitimiert. Das kann es nicht heißen. Gefordert ist eher so ein differenzierter Dialog. Das ist etwas ungeheuer schwieriges, nur konkret entscheidbares, eine Art Balanceakt zwischen Gesprächsbereitschaft und wirklichem auch empathischem Zuhören, aber auch der Bereitschaft zur Konfrontation. Wenn Thesen formuliert werden, die indiskutabel sind, muss man diese Thesen als indiskutabel benennen. Das Werben um den Dialog darf und kann nicht dazu führen, dass alles auf einmal sagbar ist. Nein, wir müssen darüber streiten, wir müssen auch darüber reden, worüber wir reden wollen und worüber eben nicht.
Netz: Wenn Sie noch mal zusammenfassen, Herr Pörksen. Was bedeutet all das, was in den vergangenen Jahren passiert ist, diese Entwicklung hin zum - ich sage das schreckliche Wort noch mal - Postfaktischen - für den Journalismus des Jahres 2017? Was kann er lernen aus den Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre zum Beispiel?
Pörksen: Ich glaube, der Journalismus kann lernen, dass er sich von einer solchen Resignationsvokabel wie Postfaktisch verabschiedet. Im Grunde genommen ist die gegenwärtige Situation, ist die gegenwärtige neue Macht der Propaganda eine Herausforderung ersten Ranges zu streiten, zu ringen, genauer hinzuschauen, intensiver zu recherchieren und auch - und das sage ich auch in die Richtung einer Wissenschaft, die sich viel zu oft noch dem gesellschaftlichen Engagement verweigert - intensiver miteinander zu streiten und zu debattieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.