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Journalismus in Krisensituationen
"Die hysterische Mediengesellschaft"

Wenn ein Amokläufer wie in München über Stunden die ganze Stadt in Atem hält, ist das auch für Journalisten eine schwierige Situation. Redaktionen wechseln von einer Minute auf die andere aus dem Normal- in den Krisenmodus. Dabei passieren auch Fehler.

Von Burkhard Schäfers |
    Ein Kameramann filmt am 25.07.2016 auf dem mit Blumen und Kerzen übersäten Gehweg vor dem Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) in München (Bayern), drei Tage nach einer Schießerei mit Toten und Verletzten. Die tödlichen Schüsse hat ein 18-jähriger Deutsch-Iraner abgegeben. Zehn Menschen starben, darunter der Täter. Foto: Peter Kneffel/dpa | Verwendung weltweit
    Im Fall der Krise - so schnell wie möglich auf Sendung (dpa / Peter Kneffel)
    "Der oder die Täter scheinen noch auf der Flucht zu sein. Jedenfalls merkt man das auch an dem ungeheuren Auftrieb an Polizeibeamten, teilweise sehr schwer bewaffnet. Das ist im Moment die Lage, die ich hier beschreiben kann."
    München, 22. Juli 2016: Ein junger Mann erschießt in einem McDonalds mehrere Jugendliche, geht weiter in ein Einkaufszentrum, versteckt sich dann und sorgt in der Stadt stundenlang für Panik. Polizei und auch Medien befürchten zunächst einen großen Terroranschlag - wie einige Monate zuvor in Paris.
    Fakten - in Krisen oft spärlich
    "Für mich war das ein nachrichtlich interessanter, aber auch sehr erschütternder Abend zunächst mal." Anja Miller leitet die Nachrichtenredaktion beim Bayerischen Fernsehen. Im Fall einer Krise geht ihr Team so schnell wie möglich auf Sendung. Obwohl die Journalisten selbst kaum etwas wissen, versuchen sie die Zuschauer zu informieren. Die Zeit, um zu recherchieren, ist noch knapper als sonst in aktuellen Nachrichtensendungen.
    "Uns ist immer ganz wichtig, dass wir offenmachen, was wir wissen und was wir nicht wissen. Das war auch eine große Herausforderung in dieser Amok-Nacht: Nicht das Spekulieren anzufangen, könnte es ein islamistischer Anschlag gewesen sein? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Sondern die Fakten zu berichten."
    Kaum stichhaltige Informationen
    Die aber sind bei Krisen oft spärlich: Die Polizei muss sich erst ein Bild machen, bevor sie Journalisten seriös informieren kann. Und Reporter vor Ort sehen oft nicht mehr als Krankenwagen und Menschen in Panik. Wäre es deshalb nicht besser, Journalisten würden erst einmal gar nicht berichten? Nein, meint Anja Miller vom Bayerischen Fernsehen.
    "Nichts zu liefern wäre denk ich fatal, weil sich dann die Gerüchte weiter ausbreiten könnten. Wir müssen den Gerüchten was entgegen setzen, aber das müssen Fakten sein. Und wenn man die nicht hat, soll man's ehrlich sagen und den Faktenstand reportieren."
    Gerüchte machen vor allem in sozialen Netzwerken in hohem Tempo die Runde. Beim Münchner Amoklauf verbreitete sich auf WhatsApp ein Foto, das Opfer zeigt - vermeintlich vom Tatort. Tatsächlich aber stammte das Bild von einem früheren Attentat in Afrika.
    "Man muss wahnsinnig schnell die im Netz kursierenden Videos versuchen zu verifizieren. Das war eine ganz große Herausforderung in der Nacht. Wir würden nie als Quelle einen uns unbekannten Account benutzen."
    Spekulationen - über Stunden im Kreis gedreht
    Auf Kanälen wie Facebook und Twitter finden sich Informationen, die Journalisten früher nicht zugänglich gewesen wären. Christopher Koska ist Medienethiker an der Münchner Hochschule für Philosophie.
    "Das stellt den Journalismus vor ganz andere Herausforderungen, weil er getrieben wird von den ganzen anderen Kanälen, Stellung zu beziehen und das alles wiederum einzuordnen, auch wenn er die Fakten vielleicht gar nicht kennt. Wie das in München der Fall war, wo sich eine Nachrichtensendung über Stunden über Spekulationen selbst im Kreis dreht."
    Wenn Medien in Krisen live berichten, machen sie auch Fehler: Manche zeigen Bilder von Opfern, andere übernehmen unkritisch Falschmeldungen.
    "Es gibt eine traditionelle ethische Methode, die in drei Schritten erfolgt – das ist das Sehen, Urteilen und Handeln. Und beim Urteilen braucht man natürlich Zeit, um zu evaluieren, zu recherchieren. In solchen Krisensituationen, wo die Notwendigkeit auch da ist, sofort zu berichten, ist natürlich eine Fehleranfälligkeit vorhanden."
    Gerüchte - durch Algorithmen schneller widerlegen
    Deshalb setzt Medienethiker Koska auf die sich rasant entwickelnde Technik im Bereich Künstliche Intelligenz. Womöglich könnten künftig Algorithmen Journalisten darauf aufmerksam machen, wo im Netz sich Gerüchte verbreiten. Dann könnten Medien schneller reagieren.
    "Es gibt Studien, die zeigen, dass es im Schnitt mindestens zwölf Stunden dauert, bis eine falsche Behauptung online widerlegt wurde. Wenn dieser Abstand verkürzt werden kann, dann wäre schon viel geholfen, weil viele Leute die Richtigstellung ansonsten nicht mehr mitbekommen, wenn zu viel Zeit dazwischen vergeht."
    Das ist auch das Anliegen von Fernsehfrau Anja Miller:
    "Das Entscheidende ist, so eine Instanz zu sein, die verlässlich ist in so einem Moment. Und damit vielleicht dieser Krise das Schreckhafte zu nehmen. Ich glaube, das Schlimmste ist, wenn man den Gerüchten freien Lauf lässt, weil dann schaukelt sich eine Situation hoch."