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Journalist Ahmed Rashid
"Im Augenblick sind die Taliban sehr auf Krieg ausgerichtet"

Der britisch-pakistanische Journalist und Buchautor Ahmed Rashid geht nicht davon aus, dass sich die Taliban auf Zugeständnisse für die Zeit nach dem US-Truppenabzug einlassen werden. Eher würden sie versuchen, ihr Regime von vor dem 11. September 2001 wiederherzustellen, so Rashid im Dlf.

Ahmed Rashid im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Ein Gebäude wurde bei einem Anschlag der Taliban in die Luft gesprengt
Immer wieder kommt es zu Anschlägen der Taliban - so wie hier im Juli 2020 (Imago / Samgan Aybak)
Die USA und ihre NATO-Partner wollen ab Mai mit dem Truppenabzug aus Afghanistan beginnen. Nach 20 Jahren endet damit der Militäreinsatz dort. Laut US-Präsident Joe Biden sollen spätestens bis zum 11. September alle Soldaten aus Afghanistan abgezogen sein. Die große Gefahr des Truppenabzuges liege in eine Zunahme der Gewalt seitens der Taliban, sagte der Journalist und Buchautor Ahmed Rashid im Dlf. Die Taliban hätten noch nie Zugeständnisse gemacht. Er geht deshalb nicht davon aus, dass sich die Taliban auf eine Friedens-Einigung oder einen Waffenstillstand einlassen werden.
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40 Jahre Krieg in Afghanistan hätten vollkommen zerstörerisch gewirkt, so Rashid, der seit den 80er-Jahren viel Zeit in Afghanistan verbracht hat. "Die Menschen in Afghanistan sind sehr widerstandsfähig und können einige Belastungen aushalten. Sie waren aber nicht an die psychologischen Folgen andauernder Kriege oder die Nahrungsmittelknappheit gewöhnt. Oder daran, ihre Kinder vor ihren Augen sterben zu sehen." Man habe noch nicht einmal damit begonnen, den Schaden zu bemessen.
Interview in englischer Originalversion zum Nachhören.
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Was folgt unmittelbar aus Präsident Bidens Ankündigung, die US-Truppen abziehen zu wollen?
Ahmed Rashid: Die große Gefahr besteht darin, dass sich die Taliban auf keinerlei Einigung auf Frieden oder Waffenstillstand einlassen werden. Und dass sie ihre militärischen Aktivitäten gegen die Regierung in Kabul verschärfen werden. Im Augenblick sind die Taliban sehr auf Krieg ausgerichtet. Auch früher haben die Taliban niemals irgendetwas zugesagt. Die Amerikaner haben alle Zugeständnisse gemacht. Sie haben den afghanischen Präsidenten Ghani zu Zugeständnissen aufgefordert. Wir haben aber nichts Positives vonseiten der Taliban gesehen.
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Heinemann: Welche Interessen verfolgen die afghanischen Taliban?
Rashid: Sie glauben, dass sie weiter international Anerkennung gewinnen, und dass sie die nächste Regierung in Kabul bilden können. Aber solange sie ihre Politik nicht in eine zugunsten der Menschen in Afghanistan ändern und zugunsten des sozialen Fortschritts, hat die internationale Gemeinschaft, Amerikaner, Briten, Europäer und auch einige Nachbarn wie Russland und Iran, ihnen klar zu verstehen gegeben, dass sie weder internationale Anerkennung noch Hilfe bekommen werden. Die Amerikaner haben zugesagt, dass sie eine neue Armee unterstützen werden und für den Haushalt einer künftigen Regierung bis zu fünf Milliarden Dollar pro Jahr zahlen werden. Nichts davon werden die Taliban bekommen, wenn sie nicht zu Zugeständnissen bereit sind.

"Fast die gesamte Führung der Taliban lebt in Pakistan"

Heinemann: Glauben Sie, dass Pakistan, das seit langem über Verbindungen zu den Taliban verfügt, Druck auf die Militanten ausüben könnte, damit sie eine Lösung anstreben?
Rashid: Pakistan übt mit Sicherheit einigen Einfluss aus. Es ist allerdings ein heikles Thema, denn pakistanische Regierungsvertreter sagen: `Wir verfügen heute nicht mehr über den Einfluss, den wir einmal hatten´. Ich glaube aber, dass sie den nach wie vor haben. Denn, wenn Sie sich die Lage anschauen: fast die gesamte Führung der Taliban befindet sich in Pakistan. Deren Familien leben dort. Medizinische Versorgung, Nachschub, dafür kommen die Taliban nach Pakistan. Ob Pakistan will oder nicht: es spielt eine wichtige Rolle.
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Heinemann: Welches Interesse verfolgt Pakistan in Afghanistan?
Rashid: Pakistans größtes Interesse besteht darin, dass Indien in Afghanistan nicht Fuß fassen kann. Sie verfolgen mit Besessenheit jede Handlung der Inder, die darauf hindeuten könnte, dass sich die Inder der Regierung in Kabul annähern. Indien hat einen wirtschaftlichen Hilfsplan für Afghanistan verwirklicht. Das Land hat die afghanische Regierung mit rund drei Milliarden Dollar unterstützt und wichtige Wiederaufbauhilfe geleistet. Es ist ausgesprochen notwendig, dass Indien und Pakistan in Afghanistan zusammenarbeiten und nicht danach trachten, sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Das Problem dabei: Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan befinden sich auf den Nullpunkt. Sie reden nicht miteinander. Da ist das anhaltende Problem um die Region Kaschmir, wo Indien kontrolliert, was Pakistan fordert. Solange es nicht einmal ein Minimum einer Zusammenarbeit zwischen Indien und Pakistan gibt, werden wir ein Pakistan sehen, dass in Afghanistan entschieden dafür sorgen wird, dass keine afghanische Regierung zu freundschaftliche Beziehungen zu Indien unterhält.

"Al-Qaida und die Taliban unterhalten freundschaftliche Beziehungen"

Heinemann: Was ist bekannt über die Kämpfer des Netzwerkes Al-Qaida in Afghanistan?
Rashid: Den Amerikanern zufolge halten sich etwa 600 Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan auf. Und natürlich gibt es dort auch den IS. Al-Qaida hat in Afghanistan sehr freundschaftliche Beziehungen zu den Taliban aufgebaut. Was vorher nicht der Fall war. Denn, erinnern Sie sich: Osama Bin Ladns und Al-Qaidas Aufenthalt in Afghanistan nach dem 11. September war ein Desaster für die afghanischen Taliban. Sie verloren ihre Regierung. Ihre Leute wurden durch amerikanische Bomben niedergemetzelt. Aber es scheint so, dass Al-Qaida, obwohl deutlich schwächer ist als früher, doch sehr gute Beziehungen zu den Taliban unterhält. Die Amerikaner hatten die Taliban in dem Abkommen im Februar 2020 verpflichtet, dass sie sich von allen diesen Terrororganisationen, auch Al-Qaida, distanzieren sollten. Die Taliban haben die Leute von Al-Qaida nicht ins Gefängnis gesteckt oder aufgefordert, das Land zu verlassen. Und das bedroht Afghanistans Zukunft.
Heinemann: Was folgt aus dem Truppen-Abzug für die Bildung von Frauen und Mädchen?
Rashid: Einige Taliban haben sich positiv über Bildung und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen geäußert. Aber es gibt keine politische Erklärung der Taliban-Führung dazu, des Shura-Rates mit Sitz in Quetta in Pakistan. Es gibt keine Erklärung, die uns sagen würde, was die Taliban mit Blick auf Mädchen, Frauen, Bildung, die bestehenden demokratischen Institutionen und Menschenrechte planen. Alle diese Faktoren, die einen modernen Staat ausmachen. Die meisten Afghanen erwarten, dass es keine Veränderung geben wird bezogen auf das Regime, dass die Taliban nun wieder herstellen wollen. Das heißt: eine Wiederholung ihres Regimes der 90iger Jahre.

"Zivile Mitarbeiter der internationalen Truppen sind in großer Gefahr"

Heinemann: Die deutsche Regierung hat angekündigt, dass sie die afghanischen Ortskräfte nicht im Stich lassen werde. Befinden sich Dolmetscher und andere Zivilangestellte, die für die internationalen Truppen gearbeitet haben, in Gefahr?
Rashid: Afghanen, die für die internationalen Truppen gearbeitet haben, befinden sich in großer Gefahr. Und ich spreche mit Australiern, Briten und Amerikanern und versuche die Regierungen davon zu überzeugen, diese Afghanen, die in Gefahr sind, zusammen mit ihren Familien mitzunehmen. Ich würde der deutschen Regierung dringend raten, sich um ihre Dolmetscher, Übersetzer und Fachleute zu kümmern, die mit den deutschen Truppen zusammengearbeitet haben. Die Taliban wissen genau, wer die sind, und wo ihre Familien leben. Es wäre eine sehr große Gefahr für alle diese Afghanen, die fünf, zehn oder fünfzehn Jahre für die ausländischen Truppen gearbeitet haben, wenn sie zurückgelassen würden.

"40 Jahre Krieg wirken vollkommen zerstörerisch"

Heinemann: Wie haben sich 40 Jahre Krieg seit dem sowjetischen Angriff von 1979 auf die afghanische Gesellschaft ausgewirkt?
Rashid: Vollkommen zerstörerisch, wie Sie sich vorstellen können. Ich habe viel Zeit in Afghanistan verbracht seit 1980. Die Menschen in Afghanistan sind sehr widerstandsfähig und können einige Belastungen aushalten. Sie waren aber nicht an die psychologischen Folgen andauernder Kriege oder die Nahrungsmittelknappheit gewöhnt. Oder daran, ihre Kinder vor ihren Augen sterben zu sehen, dezimierte, zerstörtet Familien. Wir haben noch nicht einmal damit begonnen, den Schaden zu bemessen. Die medizinischen Einrichtungen sind ärmlich. Maßnahmen gegen das Corona-Virus zum Beispiel können nur unter großen Schwierigkeiten fortgesetzt werden. Die Krankenhäuser sind notdürftig ausgestattet. Und das Virus breitet sich sehr stark aus. Es wird nur sehr wenig getestet. Die Infektionsrate in Afghanistan kennen wir nicht einmal. Das kommt jetzt noch zu den psychologischen und emotionalen Problemen hinzu, vor denen die Afghanen stehen. Vor allem Frauen und Kinder.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.