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Jubiläum von Michael Ende
„Ich schreibe eigentlich nicht für Kinder“

Heute wäre Michael Ende 90 Jahre alt geworden. Bekannt ist er unter anderem für "Die unendliche Geschichte" oder "Momo". Der neue Essayband "Mehr Phantasie wagen. Ein Manifest für Mutige" zeigt den Schriftsteller von einer noch unbekannten Seite.

Sarah Mahlberg im Kollegengespräch mit Ina Plodroch |
Michael Ende und Radost Bokel sehen sich das Momo Drehbuch an
Autor Michael Ende mit Radost Bokel bei den Dreharbeiten zu "Momo" (dpa)
Ina Plodroch: Der popkulturelle Ritterschlag, der kam in der dritten Staffel von "Stranger Things". Zwei Jugendliche singen da den Titelsong zum Film "Neverending Story", aus vollem Halse tun sie das. Ein deutscher Schriftsteller also in einer aktuellen und sehr erfolgreichen Serie. Um Michael Ende geht es natürlich, Autor von "Die unendliche Geschichte", "Momo", "Jim Knopf". Heute wäre er 90 Jahre alt geworden und zusammen mit Ottfried Preußler, James Krüss und Max Kruse gehört er zu den "Big Four" der deutschen Kinderbuchliteratur nach 1945.
Michael Ende ist gestorben, seine Bücher werden aber nach wie vor gelesen. Und zu Endes Jubiläum erscheint jetzt auch ein ganz neues Buch mit Essays von ihm selbst. "Mehr Phantasie wagen. Ein Manifest für Mutige", heißt es. Sarah Mahlberg hat es gelesen. 24 Jahre nach seinem Tod erscheint dieses Buch nun. Ist da noch etwas Neues dabei?
Sarah Mahlberg: Ja, schon, also manche Dinge, die er geschrieben hat, waren vielleicht ein bisschen banal. Zum Beispiel sagt er an irgendeiner Stelle sinngemäß, man müsse sich das innere Kind bewahren, was man auch schon so tausendmal gehört hat. Aber mich hat zum Beispiel überrascht, wie harsch er stellenweise mit der Naturwissenschaft umgeht. Er wirft vor allem der Chemie vor, dem Leben irgendwie seinen Sinn zu nehmen, indem sie alles Menschliche auf Atome und chemische Reaktionen reduzieren würde. Er sagt damit nicht, dass das keine Rolle spielen würde, aber er kritisiert, dass so eine Anschauung den Menschen quasi von jeder Verantwortung freisprechen würde. Er meinte, dass Menschen einander eben mehr zu schätzen wissen würden, wenn sie einen Sinn für das vom Menschen Geschaffene, also die Kunst, entwickeln würden. Das ist natürlich auch der Weg, den er selbst als fantasievoller Geschichtenerzähler verfolgt hat. Er selbst hat es auch,vielleicht ein bisschen theatralisch, ausgedrückt, indem er meinte, die Poesie sei ein Weg, den Menschen zu heilen.
"Konventionen zerpflücken"
Plodroch: All das, merkt man das auch in seiner Literatur, was würden Sie sagen?
Mahlberg: Auf jeden Fall. Seine Romane sind total vielseitig. Und es gibt immer wieder Tendenzen, Konventionen auch zu zerpflücken, zum Beispiel bei seinen Held*innenfiguren. Momo zum Beispiel, die die Welt vor den grauen Herren befreit, ist, wie Ende in dem Essayband "Mehr Phantasie wagen" auch selber sagt, total passiv, sie tut eigentlich fast überhaupt nichts. Das widerspricht ja so ein bisschen dem Gedanken, dass Held*innen etwas leisten müssen. Aber Ende war auch selbst großer Kritiker der hektischen Gesellschaft, wie er einmal sagte:
"Es kommt nicht darauf an, möglichst schnell zu irgendeinem Ziel zu kommen. Die alten chinesischen Weisen haben gesagt, 'der Weg ist das Ziel'. Das heißt am Schluss ist das, was man an Weg zurückgelegt hat das Entscheidende, nicht wohin man gekommen ist. Wenn man nur geradewegs auf ein Ziel zugehen würde, dann würde man sehr wenig von der Welt erfahren."
Hier ist es eben das Zuhören und die Geduld, die Momo am Ende siegen lassen. Und es ist eigentlich ziemlich spannend, mal eine Heldengeschichte mit einer passiven Protagonistin zu lesen. Sonst ist "Jim Knopf" natürlich noch ein gutes Beispiel für den Bruch, den Ende mit Konventionen betreibt, denn er ist dunkelhäutig, was in den Romanen der westlichen Welt ja leider immer noch eher Ausnahme als Regel ist, aber seine Hautfarbe spielt im Grunde keine weitere Rolle im Roman, zumindest auf den ersten Blick.
Plodroch: Und auf den zweiten?
Mahlberg: Da gibt es eben Hinweise darauf, dass "Jim Knopf" nicht nur eine klassische Heldengeschichte ist, sondern unterschwellig auch ziemlich kritisch. Zum Beispiel sind die Drachen aus der Drachenstadt im Grunde echte Rassisten, die nur reinrassige Drachen in die Stadt hineinlassen. Aber das zeigt eben auch, dass Jim Knopf Ausgrenzung und Rassismus bekämpft, wofür er als dunkelhäutiger Junge dann natürlich wieder prädestiniert ist.
Gegen die Einteilung in Kinder- und Erwachsenenliteratur
Plodroch: Michael Ende war und ist ja hauptsächlich für seine Kinderbuchliteratur bekannt. Geht er darauf irgendwie ein in dem Buch?
Mahlberg: Im Grunde sagt er, schreibe er gar nicht für Kinder und er bezeichnet auch diese Einteilung als "hanebüchenen Schwachsinn". Auch das würde eben wieder mit der durchrationalisierten Welt zusammenhängen, die alles Fantastische und Wundervolle überwunden habe. Nur sagt Ende, dass nach dieser Einteilung in Kinder- und Erwachsenenliteratur große Werke wie die "Odyssee" oder der "Faust" auch Kinderbücher seien, weil ja eben Märchengestalten darin vorkommen. Das sind sie aber nicht, weil sie eben schon lange im Literaturkanon etabliert sind. Insofern sei diese Einteilung total konstruiert und deshalb hat es ihn auch geärgert, als Kinderbuchautor abgetan zu werden.
Plodroch: Das heißt, er war auch Kriegsfuß mit dem Litaturbetrieb. Die Literaturkritik war ja auch nicht immer auf seiner Seite.
Michael Ende mit Wein und Zigarette
Michael Ende starb 1995 im Alter von 65 Jahren. (imago images / teutopress)
Mahlberg: Ja, das stimmt, vor allem mit Marcel Reich-Ranicki hat er sich echt nicht verstanden. Reich-Ranicki wollte sich zum "Phänomen Ende" zum Beispiel gar nicht äußern, das sah er nicht als wichtig genug an. Und Michael Ende hat es ihm auf seine Weise heimgezahlt, wie aufmerksame Leser*innen des "Wunschpunschs" ja vielleicht auch gemerkt haben, er hat nämlich einen kleinen und völlig nutzlosen Geist namens Büchernörgele in die Geschichte hineingeschrieben, dessen Beschreibung und auch Illustrationen große Parallelen zu Reich-Ranicki aufweisen.
Fehler machen und Umwege gehen ist legitim
Plodroch: Vor 24 Jahren ist Michael Ende gestorben. Was würden Sie sagen, wie aktuell ist er noch?
Mahlberg: Also ich hab das Gefühl, dass Kinder heutzutage schon noch Ende lesen, aber vielleicht auch eher, wenn die Eltern ihn früher selbst gelesen haben. Aber ich würde trotzdem sagen, dass man gerade im Bezug auf Umweltschutz total viel von Michael Ende lernen kann. Es war wohl schon zu seiner Zeit so, dass es mehr harte politische Pamphlete für den Schutz der Umwelt gab, als Texte, die einfach versuchen, dem Baum oder auch dem Tier für den Menschen wieder einen Wert zu geben, das galt dann nämlich schnell als esoterischer Kitsch. Man könnte sich da vielleicht mal selbst untersuchen, ob das einem selbst auch so geht und wenn ja, warum eigentlich. Das ist ja gerade zu Zeiten der Klimastreiks ungebrochen aktuell. Außerdem, was ich vielleicht am wichtigsten finde, zeigt "Mehr Phantasie wagen" auch, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen und Umwege zu gehen und gerade das finde ich ist ein ziemlich tröstender Gedanke.
Michael Ende: "Mehr Phantasie wagen. Ein Manifest für Mutige"
Thiele & Brandstätter Verlag München, 2019. 160 Seiten, 14 Euro.