Henri: Oh! Das war hier. Das sind 70 Sitze. Es macht etwas kleineren Eindruck als wir das in Erinnerung hatten. Allerdings die Anordnung der Tische und Stühle war völlig anders.
Danka: Über 55 Jahre...
55 Jahre. 55 Jahre ist es her, dass Danka und Henri Kowalski diese Räume das letzte Mal betreten haben. Die Räume des Staromiejski Dom Kultury. Ein kleines Kulturzentrum im Herzen der Warschauer Altstadt. Als junge Leute gingen die Kowalskis hier ein und aus, heute können sie sich kaum erinnern, in welchem der beiden kleinen Säle sie und ihre Freunde sich damals getroffen haben.
Henri: Das war offensichtlich so, dass wir beide Säle benutzt haben.
Die Kowalskis haben alte Schwarzweiß-Aufnahmen auf ihren Smartphones dabei.
"Das sieht man auf diesen Fotos eindeutig."
Henri und Danka Kowalski lernten sich hier auch kennen – in einem von Schülern organisierten Lese- und Debattierklub: dem Klub der Widerspruchsuchenden. So nannten sich die Teenager selbst.
Danka: Oh die, Diskussionen!
Henri: Ja. Die waren toll!
Danka: Ja… wir kamen uns damals sehr erwachsen vor.
Und was da so gelesen wurde, stand auf dem Index, oder waren Bücher und Schriften, die der kommunistischen Führung Polens ein Dorn im Auge waren. Leszek Kolakowski, Michail Bulgakow, Balzac, Emile Zola, Platon oder Thomas von Aquin.
Danka: Weil du musst wissen, dass die Schule damals alles andere als eine Quelle der Wahrheit war, ne?
Henri: Und deswegen war das natürlich ein großer Anziehungspunkt für alle Jungen, die intellektuell interessiert waren. Und das waren wir.
Kommunistische Träume von einer besseren Welt
Die Kowalskis und ihre Freunde waren aber nicht nur jung und clever, sondern hatten noch weitere Gemeinsamkeiten. Einmal kamen sie aus gutem Hause: Ihre Eltern gehörten zur Nomenklatura des polnischen Sozialismus. Sie waren Minister, Funktionäre oder Zensoren.
Danka: Die waren nichts anderes als Politiker, meine beiden Eltern. Politisch immer aktiv.
Henri: Die wollten irgendwie die Welt verändern und das haben sie uns als Kindern weitergegeben.
Und wie die Eltern träumten auch die Teenager im Klub der Widerspruchsuchenden von einer besseren Welt im Kommunismus. Aber im "echten" Kommunismus, nicht der polnischen Variante der 1960er.
Henri: Es war uns klar, dass dieses politische System nicht bringt, was es verspricht.
Danka: Dass auf der Erde ein Paradies entsteht, wo alle Leute sind gleich, alle sind zufrieden, das waren so unsere Vorstellungen.
Henri: So, dass man eben diese Früchte ernten konnte, die eigentlich unsere Eltern uns versprachen.
Die Eltern wiederum hatten einen ganz spezifischen Hintergrund, der sie für den Kommunismus in Polen und Europa kämpfen ließ: ihre jüdischen Wurzeln.
Henri: Wurzeln ja, aber Traditionen nicht. Ganz und gar nicht.
Danka: Also in dem Sinne, wir haben gar keine jüdischen Feste gefeiert. Überhaupt jüdische Themen wurden gar nicht angesprochen. Wir wussten nur, dass unsere Eltern so erzogen wurden, aber danach bewusst diese Erziehung hinter sich gelassen haben.
Der Klub der Widerspruchsuchenden
Die Eltern hatten das Jüdische bewusst hinter sich gelassen. Shoa und Holocaust im Gedächtnis, sollte ihre jüdische Herkunft nie wieder eine Rolle spielen. Sie wollten künftig an einem Sozialismus arbeiten, in dem alle Menschen gleich sind. Klassenbewusstsein statt Rassenbewusstsein.
"Man muss dazu sagen, ich habe noch nie damals einen orthodoxen Juden gesehen. Ich wusste nicht, ich würde vermutlich nicht wissen, wer das ist. Wir waren total von der Religion abgeschnitten. Wir wussten, wir sind Juden, aber ein Kind kann das einfach hinnehmen ohne nachzufragen, was das heißt."
"We had zero Jewish identity."
Sie hatten null jüdische Identität. Sagt sogar Jan Gross. Gross war als Teenager auch Mitglied im Klub der Widerspruchsuchenden. Genau genommen hat er ihn gegründet, gemeinsam mit Adam Michnik, dem heutigen Chefredakteur von Polens wichtigster Tageszeitung: der Gazeta Wyborcza.
"Wissen Sie, meine Jugend war großartig! Ich hatte wunderbare Freunde und wir haben leidenschaftlich gern gelesen. Denn etwas so langweiliges wie Bücher lesen kann etwas Revolutionäres sein! Wir hatten das Gefühl, irgendwie "dagegen" zu sein. Das war aufregend!"
Vom jüdischen Milieu getrennt
Auch heute ist Jan Gross wieder "Dagegen". Vor allem gegen das sogenannte "Holocaust-Gesetz" der amtierenden polnischen Regierung. Gross hat als einer der wichtigsten Historiker Polens jahrzehntelang an der Beteiligung von Polen am Holocaust geforscht. Die polnische Regierung wiederum bestreitet polnische Mitverantwortung und hat sogar das Sprechen darüber verboten. In Polen bekam das Gesetz auch einen vielsagenden Spitznamen.
"Die Lex Gross, denn ein Abgeordneter hat bei der Vorstellung im Parlament gesagt: 'Wir wollen sicher gehen, dass Leute wie Gross sich nicht wagen, ihre Bücher zu schreiben und Geschichte zu verfälschen.'"
Aber auch Jan Gross interessiert sich als Teenager kaum für jüdische Geschichte und das Judentum.
"Wir waren Kinder von Kommunisten, die sich bewusst vom jüdischen Milieu getrennt hatten, in dem sie aufgewachsen waren. 'Was zählt, ist deine Klassenzugehörigkeit', und diese ganze progressive Ideologie, bla bla bla. Und das gaben sie an ihre Kinder weiter! Also zumindest insofern, dass wir kein Interesse an unserer jüdischen Identität hatten."
"Sie sind ohne Vorwarnung auf uns los"
Ändern sollte sich das alles 1968, vor ziemlich genau 50 Jahren. Es ist der 8. März: Proteste und Unruhen in Warschau, die Studenten gehen auf die Straßen und demonstrieren für ein Polen ohne Zensur und ohne Polizeigewalt.
"Man dachte es kommen ganz wenige Leute, es waren aber ziemlich viele, es war ziemlich voll hier."
Danka Kowalski steht am selben Ort, an derselben Stelle vor der Warschauer Universität, wo sie schon 1968 gestanden hat.
"Wir standen irgendwo hier, und in dem Moment, als wir an und für sich gingen, kamen von der Seite eben Busse, das sieht man hier sehr gut. Und jede Menge Leute kamen da raus. Wir haben das nicht so ganz verstanden, worum es geht. Und das waren auch nicht Uniformierte, sondern Leute in Zivil. Und die sind dann ohne Vorwarnung auf uns los.
Die haben ihre sehr harten Gummiknüppel mit Metall drin rausgeholt. Die haben solche Schuhe mit Metallverstärkung, und mit diesen Schuhen haben sie die Leute, die am Boden gelegen haben, fürchterlich getreten. Das war schon sehr erschreckend, die haben einfach wahnsinnig rumgeprügelt. Die Leute lagen und die haben da reingehauen. Es war einfach bestialisch und sadistisch."
Auftakt für neuen Antisemitismus
Die Bilder der Ausschreitungen gehen damals um die Welt, internationale Medien wie die New York Times und Le Monde berichten, und Warschau fügt sich ins große Ganze des März 1968. In Polen ging es aber auch noch um etwas anderes:
"Und das dauerte nicht lange, am nächsten Tag schon gab es Artikel in der Presse, und dann stand schon von jüdischen Studenten, die hinter dem internationalen Zionismus stehen, und die hatten naive polnische Studenten dazu irgendwie überredet und verwendet, und dass das Feinde unseres Landes sind und unseres Volkes. So haben die das geschrieben, Feinde des Volkes. Wenn irgendein Name keinen eindeutigen jüdischen Klang hatte, hatte man dann in Klammern einen einhundert prozentig jüdisch klingenden Namen wie Rubinstein oder Rappaport reingesetzt, damit das auch alles klar ist."
Es ist der Auftakt für das, was Historiker heute die "Antisemitische Kampagne" nennen. Juden, egal ob Studenten oder hohe Parteifunktionäre, werden öffentlich diskreditiert; und es wird ihnen freigestellt, ihre Staatsangehörigkeit abzugeben und das Land zu verlassen. Was am Ende auch 15.000 jüdische Polen tun. Darunter die Kowalskis, die nach Deutschland fliehen, und auch Jan Gross:
"Mir ging es nicht so sehr um den jüdischen Aspekt, sondern um das Gefühl, dass die politische Polizei in diesem Land mich jederzeit und wann sie will für Befragungen mitnehmen kann und diese Verbrecher mich und meine Freunde ins Gefängnis stecken. Ich hatte Angst um meine Freiheit, das war es. Weniger die Angst vor der Verfolgung als Jude, die mich aus dem Land trieb."
"Ich bin einfach ein Kowalski"
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb sollte Jan Gross später an Universitäten wie Yale und Princeton zur polnisch-jüdischen Geschichte forschen und zu einem der vehementesten Kritiker des latenten polnischen Antisemitismus werden. Bei Danka und Henri Kowalski aber löste die Flucht eine ganz andere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der eigenen Identität aus:
Danka: Wenn einem eine Möglichkeit bisheriger Identifizierung weggenommen wird, wenn ich nicht das sein darf, was ich bis jetzt dachte, ich bin es... Und da habe ich mich das erste Mal als polnische Jüdin dann verstanden. Und dann habe ich natürlich dann, wenn ich Polen schon als polnische Juden verlassen musste, dann habe ich angefangen mich zu interessieren, was das heißt. Was macht so jemanden aus.
Henri: Das ist schon eine Prägung, die wir erfahren haben. Und deswegen will ich vor dieser jüdischen Identität nicht flüchten. Ich will da bleiben.
Danka lernt Jiddisch und Anfang der 1970er feiert Henri in Israel bei seinem Onkel Abraham das erste Mal einen Seder-Abend. Das Gedenken an den Auszug der Juden aus Ägypten.
Henri: Und was mich beim Seder-Abend fasziniert hatte damals, das war die freiheitliche Tradition, die diesen Abend sehr stark geprägt hat. Also wir wollen keine Sklaven sein. Wir wollen keine Sklaven in Ägypten sein. Wir wollen nicht für den Pharao schuften. Wir wollen sozusagen lieber arm und frei sein, als sozusagen an den Fleischtöpfen Ägyptens uns zu laben. Das war etwas, was mich damals bewegt hatte. Als Danka mehrere Jahre später sagte, wir sollten vielleicht zurückkommen und solche Seder-Abende auch bei uns veranstalten, da dachte ich: Oh, das ist vielleicht eine gute Idee! Weil das baut eine Brücke, sowohl zu unseren Großeltern wie auch zu unseren Eltern.
Schließlich – inzwischen sind sie selbst Eltern – beginnen die Kowalskis jüdische Feste auch mit ihren eigenen Kindern zu feiern.
Danka: Und das war sehr bemüht, kann man nicht anders sagen. Ich hab mir das angelesen und mein Vater saß daneben und sagte, "Du machst alles falsch." Ich sagte, "Papa, aber wie macht man das?" - "Das weiß ich auch nicht mehr. Aber das ist falsch."
Viele Jahre, nachdem die Kowalskis Polen verlassen haben, treffen sie noch einmal auf ihren alten Freund Adam; Adam Michnik. Michnik, damals Gründer des "Klubs der Widerstandssuchenden" und heute der Chefredakteur der Gazeta Wyborsza, der immer in Warschau geblieben war.
Henri: Wir waren zusammen, wir haben zu Abend gegessen und nach ein oder zwei Stunden plötzlich Adam sagte zu mir: "Das ist für mich jetzt eine wichtige Frage, Henri: Wie fühlst du dich heute? Was bist du? Bist du Pole? Bist Du Deutscher? Franzose? Jude? Was bist du?" - Ich sage: "Adam, ich bin einfach ein Kowalski. Und das reicht."