Das Menorah-Gebäude von Dnepropetrowsk könnte genauso gut in New York oder auf dem Potsdamer Platz in Berlin stehen. Ein ausladender Komplex mit sieben Türmen wie die Arme des Kerzenhalters, in der Mitte der Stilbruch: eine Klassizismus-Fassade, 200 Jahre älter.
"Das ist die zentrale Synagoge von Dnepropetrowsk, die Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde", erklärt Oleg Rostowzew. Der Sprecher des jüdischen Zentrums bittet hinein. Mehrere Juden beten, lesen, einer schläft. In der Mitte des Saals aus grau-schwarzem Granit bindet sich ein Jude mit Tefillin-Gebetskästchen auf der Stirn das dazugehörige zweite Kästchen um den linken entblößten Arm.
Ein dem Leben zugewandter Ort will die Synagoge sein, kein Museum, sagt Oleg Rostowzew. Die Juden in Dnepropetrowsk wollen gehört werden. Zum Beispiel wenn sie sagen, dass sie keinerlei Schutzes bedürfen, erst recht nicht durch Russland, das vorgibt, die Ukraine vor den Antisemiten des Maidan bewahren und Russen in der Ukraine beistehen zu müssen. Die angebliche Hilfsbereitschaft des Kremls lässt bei ihnen die Alarmglocken läuten.
Jewgeni Genin, Blogger und Kabarettist, geht nur ab und zu in die Synagoge, dafür gern ins Menorah-Café und verkörpert alles, was es laut russischer Propaganda nicht gibt: Er ist ein Russisch sprechender ukrainischer Jude, Aktivist auf dem Maidan: "Ich war auf dem Maidan 2004 und 2014 und der allergrößte Teil der Dnepropetrowsker Maidan-Leute waren Russisch Sprechende."
Dritte Blüte für die jüdische Gemeinde
Der jüdischen Gemeinde geht es heute gut - auch ohne russischen Beistand. Sie steht in ihrer nunmehr dritten Blüte, sagen die Freunde Jewgeni Genin und Oleg Rostowzew: "Vor dem Ersten Weltkrieg stellten Juden ein Drittel der Bevölkerung und die zweite Blüte jüdischen Lebens gab es in den 1970 und 80er-Jahren, denn die zu Sowjetzeiten geschlossene Stadt war ein Zentrum für Rüstungsbau mit dem größten Werk "JuschMasch", das es noch heute gibt. Ausländer durften nicht hinein, denn hier wurden die SS-18-Raketen hergestellt. Eine Stadt voller technischer Institute, rund 100.000 Juden gab es hier bis Anfang der 80er-Jahre. Dann dezimierte die Ausreisewelle die jüdische Gemeinde um knapp die Hälfte.
Fast ausgelöscht wurde sie von den Deutschen 1941, die 20.000 Juden in Dnepropetrowsk töteten. Das Holocaust-Museum, der einzige schwarz ausgekleidete Raum in dem ansonsten lichthellen Menorah-Komplex, erinnert an die Shoah. Und an das überaus ambivalente Verhältnis zwischen Juden und Sowjetmacht, das der Schlüssel für den Antisemitismus im ukrainischen Nationalismus ist.
Die Historikerin Oleksandra Leonowa bahnt den Weg durch eine Schülergruppe, hin zu einem Schreibtisch aus der Zeit um 1920: "Wir haben hier ein Büro nachgestellt wie es typisch war für die Geheimdienstermittler. Auf dem Tisch liegen noch Originalprotokolle. Dem sowjetischen Geheimdienst NKWD gehörten sehr viele Juden an und sie wurden wenig später Opfer eben dieses Systems, das sie selbst mit geschaffen haben."
"Ukrainischer Nationalismus war antisemitisch"
Es ist dieser Zusammenhang, den ukrainische Nationalisten bis heute immer wieder herstellen: Sie sagen Juden und meinen Bolschewisten, deswegen bleiben ukrainische Juden, wie Oleg Rostowzew in Dnepropetrowsk, ganz ungerührt, wenn vom Antisemitismus die Rede ist. Der Antisemitismus ist ein Antibolschewismus, ein Antisowjetismus.
"Der ukrainische Nationalismus war antisemitisch, weil Juden als prosowjetisch galten. In den 1930er-Jahren hat die Organisation der Ukrainischen Nationalisten (UON) von Stepan Bandera Juden als prosowjetische, kommunistische russische Lobbyisten angesehen. Weswegen sie alles andere als geliebt wurden."
Mit der Sowjetunion verbindet Oleg Rostowzew die Erinnerung an die Unterdrückung seines Glaubens. Sein Lehrer saß fünf Jahre lang im Gefängnis, weil er Hebräisch unterrichtet hatte. Auch der Holocaust ist gegenwärtig, manchmal reicht eine einfache Frage: Wie viele Juden gibt es heute in Dnepropetrowsk?
"Im Unterschied zu Deutschland haben wir nicht so etwas wie Gemeinden. Und deswegen können wir nur zusammenrechnen: Wir haben 700 Kinder in der jüdischen Schule, die haben Eltern, Großeltern und so weiter. Wir betreuen rund 10.000 Pensionäre. Wir gehen von rund 50.000 Juden in Dnepropetrowsk aus, vermutlich sind es sogar noch mehr. Aber wer ist überhaupt ein Jude? Der, dessen Mutter Jüdin ist? Und wenn der Vater Jude ist? Wenn jemand an einer Veranstaltung teilnimmt, fragt ihn doch keiner, ob seine Mutter Jüdin war. Paradoxerweise gilt für uns immer noch Hitlers Definition. Es dürfen die nach Israel auswandern, die das Nürnberger Rassengesetz 1935 als solchen einstufte: also die, deren Mutter Jüdin war, deren Kinder und Enkel."
Die Juden in Dnepropetrowsk haben schon viel Grund zur Furcht gehabt, das angeblich faschistische Regime in Kiew ist ihre geringste Sorge.
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung aus der Sendung "Information und Musik" vom 2. November 2014.