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Juden in Rumänien
Deportiert, aber am Leben

Kälte, Hunger, Zwangsarbeit: Der Alltag der rumänischen Juden, die während des Zweiten Weltkrieges nach Transnistrien deportiert wurden, war brutal. Mehr als hunderttausend von ihnen starben. Sylvia Hoisie überlebte die Deportation – und kann bis heute davon erzählen.

Von Leila Knüppel |
Alte Porträtaufnahme von zwei jungen Mädchen – Sylvia Hoisie (ehemals Korber) und ihre Schwester.
Die junge Sylvia Hoisie (links) mit ihrer älteren Schwester. Beide wurden 1941 nach Transnistrien deportiert. (privat)
Ihren Sessel hat sie in die Mitte des Wohnzimmers stellen lassen. Daneben, auf dem Tisch, liegen ordentlich sortiert Bücher über die Deportation der rumänischen Juden nach Transnistrien und über ihre Familie: "Ich habe Ihnen ein paar Bücher vorbereitet", sagt sie.
Sylvia Hoisie hat sich vorbereitet, alles durchdacht. Die Wissenschaftlerin und Medizinerin hat das Gespräch wie eine Versuchsanordnung geplant.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Schwierige Aufarbeitung - Die Ermordung der rumänischen Juden.
Reporterin: "Kann ich irgendwie helfen?"
Hoisie: "Nein, ich muss alles allein machen."
Hoisie wollte nie wieder Deutsch reden
Sie lässt die Griffe ihres Rollators los und setzt sich langsam in ihren Sessel. Nun ist die 92-Jährige Jüdin bereit, aus ihrem Leben zu erzählen, sogar auf Deutsch. Obwohl sie sich eigentlich geschworen hat, nie wieder diese verhasste Sprache zu sprechen. "30 Jahre habe ich kein Deutsch gesprochen."
Sie wird ihr Leben so erzählen, wie sie es möchte: ordentlich, chronologisch – störende Fragen notfalls ignorierend. Sie greift sich eines der Bücher, zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Foto: "Das ist meine Großmutter mit meinem Großvater. Wir sind die vierte Generation aus Kimpulung."
Rassengesetze erschwerten das Leben der Juden
Câmpulung, deutsch Kimpulung: ein kleines Kurstädtchen in der Bukowina. Erst gehörte es zu Österreich-Ungarn, nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien. "In Kimpulung gab es Rumänen, Ukrainer, Juden und Deutsche."
1940 – Sylvia Hoisie ist gerade in die achte Klasse des Gymnasiums gekommen – übernimmt Diktator Ion Antonescu die Macht – und verbündet sich mit dem NS-Regime. Rassengesetze erschweren das Leben der Juden. Sylvia darf nicht mehr zur Schule gehen.
"Das war erst der Anfang. Danach mussten wir einen gelben Stern tragen. Wir durften nur acht Stunden in die Stadt gehen."
Am 22. Juni 1941 trat Rumänien auf deutscher Seite in den Krieg gegen die Sowjetunion ein. In rumänischen Städten kommt es zu Pogromen: "Man hat uns deportiert. Es durfte kein Jude mehr in Kimpulung sein."
Todesmärsche nach Transnistrien
Zehntausende Juden aus der Bukowina werden zunächst mit Güterzügen ins damalige Transnistrien gebracht. Auch Sylvia und ihre Familie – ihre Großeltern, Eltern, ihre ältere Schwester.
"Am Anfang hat man uns kontrolliert, ob wir etwas Gold, etwas Geld haben. Das Geld wurde uns weggenommen. Aber das Schlimmste war, dass man uns alle Papiere weggenommen hat. Ich habe nicht mehr existiert."
Viele der Juden werden in Konvois auf lange, qualvolle Todesmärsche gezwungen. Raub, Misshandlungen und willkürliche Erschießungen sind an der Tagesordnung. Wer überlebt, wird auf über 100 Orte verteilt: Dörfer und Kleinstädte, aus denen die einheimischen Juden bereits geflohen, von den deutschen Einsatzkommandos vertrieben oder ermordet worden waren.
Sylvia, ihrer Schwester und den Eltern gelingt es, auf eigene Faust weiterzureisen, sie gelangen schließlich nach Dschurin. Die Großeltern aber müssen sie zurücklassen. "Meine Großeltern sind nach drei Monaten gestorben. Ihr Grab habe ich nicht gefunden, sie sind sicher in einem Massengrab."
Der Ausflugsdampfer Moskwa auf dem Dnistr-Fluss in Moldau
Über den Fluss Dnistr wurde Sylvia Hoisie mit ihrer Familie ins rumänisch besetzte Transnistrien gebracht (picture alliance/ecomedia/Robert B. Fishman)
Hungern, Frieren, Warten
Sylvia Hoisie entschließt sich, ihrem Besuch Kaffee anzubieten: Es fühlt sich an wie ein Vertrauensbeweis. Sie ruft per Handy ihre Haushälterin, die irgendwo in den Hinterzimmern verschwunden ist, weist sie an, welches Porzellan sie zu nehmen hat. Die 92-Jährige dirigiert ihre Welt, notfalls per E-Mail und Telefon.
Dann erzählt sie weiter von ihren Jahren in dem kleinen Ort Dschurin, der heute zur Ukraine gehört. Eine ferne Welt, in der das Leben aus Hungern, Frieren, Warten und Überleben bestand.
"Wir haben in einer Wohnung ohne Wasser, ohne Licht gelebt. Es war so, dass man sterben und nicht leben sollte, es war sehr schlecht. Und die Kälte, man hatte keinen Ofen. Es war ein Getto, das von rumänischen Soldaten kontrolliert wurde. Die Menschen sind sehr rasch gestorben."
Neues Leben in Rumänien
Sylvia Hoisie greift nach einem der Bücher, die neben ihr liegen. Ihre ältere Schwester hat damals Tagebuch geführt: "16. Juli 1942: Warum haben wir keinen Mut zu sterben?", schreibt die junge Frau. "Sind wir zu feige? Wie viele sind bisher gestorben, wie viele werden noch sterben, wie viele Talente werden verloren gehen? Und das ist die Zivilisation des 20. Jahrhunderts."
"Wir haben Glück gehabt, wir sind alle vier am Leben geblieben", sagt Sylvia Hoisie. Sie, ihre Eltern und ihre Schwester überleben. 1944 wird der Ort von der Roten Armee eingenommen. Die Familie kehrt nach Rumänien zurück, beginnt, sich ein neues Leben aufzubauen.
Später sei sie auch viel gereist, nach Moskau und Kiew, erzählt sie und zeigt Reiseandenken, auch einen alten DDR-Fotoapparat. Nach Israel oder in ein anderes Land auszuwandern, wie viele andere Juden aus Rumänien – das sei für sie aber nie infrage gekommen.
"Ich konnte nicht mehr weg. Immer wenn ich in eine andere Stadt gefahren bin, habe ich mich an Transnistrien erinnert und wie wir aus Kimpulung weggefahren sind."
Vor sechs Jahren sei sie nochmal ins frühere Transnistrien gereist. Das Häuschen, in dem sie einst hungerte und fror, stand noch da, genauso wie damals. Drum herum eine blühende Wiese.