Archiv

Judentum
Der vergessene Tempel von Ostia bei Rom

Ostia Antica war zur Römerzeit ein bedeutender Hafen. 1961 wurde hier bei archäologischen Ausgrabungen eine jüdische Synagoge entdeckt, die zeigt, dass Juden hier bis ins sechste Jahrhundert hinein lebten - eine Überraschung. Für Historiker gibt es noch viele Fragen zu klären.

Von Thomas Migge |
    Blick über die Ruinen der einstigen römischen Hafenstadt Ostia Antica.
    Blick über die Ruinen der einstigen römischen Hafenstadt Ostia Antica. (picture alliance / dpa / Oschwald)
    Juden lebten schon seit der Zeit Julius Caesars in Rom und ihre Zahl wuchs besonders nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 nach Christus. Das auch im damaligen Hafen der Stadt, in Ostia Antica, eine größere jüdische Gemeinschaft gelebt hat, wurde bei archäologischen Grabungen entdeckt, bei denen man ein Gebäude mit eindeutig jüdischen religiösen Symbolen fand. Die Forschung hat nun herausgefunden, dass dieses Gebäude noch bis ins sechste Jahrhundert, also bereits im spätantiken christlichen Rom, als Synagoge genutzt wurde.
    Antonio Carli arbeitet als Reiseführer in Ostia Antica. Fast jeden Tag führt er Hundertschaften von Touristen durch die bis jetzt ausgegrabenen Reste der ursprünglichen Hafenstadt des antiken Roms.
    Carli bringt die Besucher zu den eindrucksvollen Ruinen von Tempeln und Thermen, Theatern und Speichern, in die die mit Schiffen angelieferten Waren gebracht wurden. Besonders jüdische Reisegruppen führt er in Ostia Antica zu einem Ort, der archäologisch und religionsgeschichtlich von großer Bedeutung ist. Es ist eine 1961 bei archäologischen Ausgrabungen entdeckte Synagoge. Der US-amerikanische Archäologe Michael White erforscht seit Jahren die antike Grabungsstätte in der Nähe des internationalen Flughafens von Rom.
    "Erst ab 2001 wurde mit der kompletten Erforschung der Synagoge begonnen. Wir wissen nicht, ob dieses Gebäude vorher eine andere Bestimmung hatte und erst später zu einer Synagoge umgebaut wurde. Das ist eine der wichtigsten Fragen, die uns derzeit beschäftigt."
    1961 entdeckten die Archäologen die jüdischen Symbole
    Gleich bei den ersten Grabungen 1961 entdeckten die Archäologen Architekturelemente wie zum Beispiel Architrave mit jüdischen Symbolen. Zu sehen ist auch ein Relief mit einer Menora, dem typisch jüdischen siebenarmigen Leuchter. Archäologe White:
    "Als die Gebäudereste entdeckt wurden, ging man davon aus, dass sie aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammen. Ich nehme an, dass aus einem Vorgängerbau erst später ein religiöses Gebäude wurde. Die Reste, wie wir sie hier sehen, sind die eines Bauwerks aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert."
    Und zu sehen gibt einiges: marmorne Fußböden und zahlreiche Mosaiken. Besonders gut erhalten ist der Raum des sogenannten Aron ha-Qodesch, der Schrein, in dem die Torá-Rollen aufbewahrt wurden. Dieser Raum befindet sich an der Ostwand, in Richtung Jerusalem. Gut erkennbar ist auch die Haupthalle der Synagoge, mit Sitzbänken an drei Seiten. Die archäologischen Forschungen ergaben, dass die Synagoge über einen recht monumentalen Eingang verfügte, zu dem die vier erhaltenen Säulen gehören.
    Auch wenn sie in der Stadt Rom und seinem Hafen Ostia schon seit der Zeit Caesars Juden lebten, kamen vor allem nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 nach Christus viele Juden an den Tiber. Da sie ihr Heimatland verlassen mussten, suchten viele Juden Zuflucht im damals religionspolitisch toleranten noch vorchristlichen Rom. Die jüdische Gemeinde in Ostia Antica, so Archäologe Michael White, wuchs ab dem späten zweiten Jahrhundert nach Christus an. Die Synagoge musste deshalb im dritten Jahrhundert erweitert werden:
    "Es handelt sich bei diesem Gebäude um eine der ersten und immer noch erhaltenen Synagogen von Diaspora-Juden im Römischen Reich. Interessant ist, dass diese Synagoge bis ins sechste Jahrhundert noch genutzt wurde. Wir hätten vor unseren Grabungen nie gedacht, dass dieser Tempel noch so lange nach dem Ende des weströmischen Reiches in Funktion war."
    Jüdisches Leben auch nach dem Ende des Weströmischen Reiches
    Auch als im fünften Jahrhundert nach dem Ende des Weströmischen Reiches Rom bereits immer christlicher geworden war, gab es anscheinend keine Probleme für die lokale jüdische Gemeinde. Michael White:
    "Wir wissen, dass es hier in Ostia Antica drei, vier oder auch mehr christliche Basiliken gab. Die wurden ab dem vierten Jahrhundert errichtet. Also genau in der Zeit, als auch die Synagoge vergrößert wurde. Das deutet auf eine große und aktive jüdische Gemeinde hin, die in dieser Form wohl noch bis ins fünfte Jahrhundert existierte."
    Es könnte bedeuten, dass diese jüdische Gemeinschaft in der dominierenden christlichen Gesellschaft der Hafenstadt zunächst noch völlig integriert war. Michael White vermutet das auch für das nahe gelegene Rom:
    "Wir haben also eine jüdische Gemeinde im späten fünften Jahrhundert, die aufgrund ihres Glaubens anscheinend keine Probleme hatte, denn sonst hätte sie nicht ihre Synagoge ausbauen können. Und genau das ist das spektakuläre Resultat unserer Grabungen hier. Das sagt viel aus über jüdisches Leben im späten Römischen Reich."
    Doch ab dem späten fünften Jahrhundert wurde Rom als Metropole politisch und wirtschaftlich immer unbedeutender. Der Hafen in Ostia wurde nicht mehr gebraucht. Gegen 650 versumpfte die Tibermündung, an der Ostia errichtet wurde. Die Synagoge, die einst direkt an der Küste gestanden hatte, befand sich nun mitten auf dem flachen Land. Die Küste liegt einige Kilometer entfernt. Immer häufigere Malaria-Epidemien sorgten dafür, dass im sechsten Jahrhundert die meisten Bewohner und darunter auch die Juden Ostia Antica verließen. Und wie alle anderen Gebäude der einst blühenden Hafenstadt wurde die Synagoge von Buschwerk und Erdreich bedeckt – und schließlich vergessen, bis sie 1961 wieder entdeckt wurde.