Mincha. Nachmittagsgebet in der neuen Beit Bella Synagoge von Tallinn. Rabbiner Shmuel Kot steht mit seinem schwarzen Anzug und dem großen schwarzen Hut fast alleine im Betsaal, sagt kaum hörbar die Amida. Es ist ein großzügig heller Raum unter einem mächtigen Tonnengewölbe. Erst nach und nach kommen weitere Beter hinzu, denn gleich beginnt Kabbalat Schabbat. Die Frauen versammeln sich auf der Empore.
Am Nachmittag hat sich der 1977 in Jerusalem geborene Chabat-Rabbiner etwas Zeit für ein Gespräch genommen, noch ganz in Zivil. Immer wieder wird er von seinem Smartphone unterbrochen. Ein viel beschäftigter Mann. Er erzählt: "Die Synagoge haben wir vor neun Jahren gebaut. Ich wurde bereits sieben Jahre vor dem Bau Rabbiner hier in Tallin. Mit großer Hilfe von HaShem, von Gott, und mit Unterstützung vieler Menschen konnten wir mit dem Bau beginnen, hier in der Karu-Straße. Die Synagoge ist jetzt ein lebendiger Ort, mit einer sehr aktiven Gemeinde."
Schmuel Kot, gehört zu einer Generation junger chassidisch-orthodoxer Rabbiner, die nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den säkularen Osten ausgesandt wurden. In ein spirituelles Niemandsland, wie Rabbiner Kot sagt. Gerade Estland ist eines der säkularsten Länder Europas, vergleichbar mit Tschechien oder Ostdeutschland. Die jüdischen Gemeinden in Tallinn, Narva, Tartu, Pärna oder Valga zählten vor dem Zweiten Weltkrieg nur gut 4000 Mitglieder. "Es gab hier nie eine große Gemeinde in Tallinn. Estland ist ein kleines Land. Im ganzen Land leben nicht mal anderthalb Millionen Menschen", sagt Kot.
Bereits unmittelbar nach der sowjetischen Okkupation in Folge des Hitler-Stalin Pakts wurden 1940 Hunderte estnische Juden nach Sibirien deportiert, Akademiker, Staatsbedienstete. Als die Wehrmacht Estland im August 1941 besetzte, fanden viele Juden im asiatischen Teil der Sowjetunion Asyl. Doch fast 1000 der Zurückgebliebenen fielen den deutschen Einsatzgruppen und estnischen Nationalisten zum Opfer. Für Rabbi Kot ist klar:
"Die Juden hier brauchen uns, sie benötigen spirituelle Hilfe. Während des Zweiten Weltkrieges ermordeten die Nazis die Juden körperlich. In der Sowjetunion, während der sowjetischen Okkupation der baltischen Länder, wurde ihnen die Seele genommen. Das Gefühl, jüdisch zu sein. war nur noch ein Eintrag im Pass. Passport Nr. 5. Das war die Nationalität. Aber es gab keine jüdische Identität mehr, keine jüdischen Namen. Und als dann nach 1990 so ein politisches Vakuum entstand, nach der Unabhängigkeit Estlands, da mussten wir helfen. Wir sagen Mission of life."
Überall in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion haben Rabbiner von Chabad Lubawitsch ihre Zelte aufgeschlagen, ob in Moskau, St. Petersburg, Vilnius, Klaipeda, ja selbst in Karanganda in Kasachstan – ein Netzwerk, das von Jerusalem oder New York aus immer dichter geknüpft wird. Die Chabadniks verstehen sich als Missionare für eine Neubelebung des Judentums in der Diaspora. Vor allem dort, wo der Chassidismus einmal entstanden war. In Osteuropa.
"Wir sind jüdisch. Wir haben den Auftrag zu helfen. Vom Lubawitscher Rebben haben wir den Auftrag bekommen. Wenn Juden Hilfe brauchen,, helfen wir ihnen. Junge Rabbiner werden samt Familie in ein Land geschickt. Und so bin auch ich mit meiner Frau gleich nach der Hochzeit nach Estland gegangen. Wir müssen alles selbst organisieren, etwa Geld für die Gemeinde sammeln. D.h. auch, dass die Gemeinde nicht mich finanziert. Dafür muß ich selber sorgen. Das ist eine Mission hier zu leben, ein guter Rabbiner für die Gemeinde zu sein. Und Gott hilft mir, dass es gut wird."
Als er vor 16 Jahren nach Estland gekommen sei, habe er bei Null anfangen müssen, sagt Rabbi Kot. Es gab keine Synagoge, keinen Gottesdienst. Nichts. Inzwischen würden sich wieder über 2000 Juden zu ihrer Tradition bekennen. Etwa 1500 von ihnen leben in Tallinn.
"Es kommen mehr und mehr Menschen in die Synagoge", sagt Kot. "Wir haben junge Familien hier, bekommen immer mehr jüdische Babys. Die Gemeinde hat wirklich wieder eine Zukunft. Ja, sie hat eine Zukunft. Wir haben jeden Tag einen Minián zu alle drei Gebetszeiten. Hochzeiten, BritMila, BarMizwa, alles, was dazu gehört."
Und tatsächlich an diesem Shabbes-Abend ist die Synagoge am Ende gut besucht. Kinder und junge Eltern warten nach dem Gottesdienst auf den Kiddusch. Auch eine Reisegruppe aus Finnland ist eingetroffen. In lockerem Englisch hält Rabbi Kot noch vor Shabbes - Eingang seine erste Lektion über die Tora. Die jüdische Gemeinde von Tallin sei eine kleine Insel inmitten religiöser Minderheiten und einem areligiösen Umland, sagt der Rabbiner später. Aber es gehe ja nicht um die Menge, sondern um die Qualität. Und genau das sei seine Mission: "In Estonia gibt es nicht sehr viele religiöse Menschen, nicht viele Gläubige. Deshalb ist diese kleine Gemeinde ein wichtiger Teil für das religiöse Leben in Estland insgesamt. Es ist ganz wichtig, jüdische Bräuche zu leben, etwa die Mizwa, Pessach Mazzen zu essen. Wir haben ein großes Potential und das wollen wir ganz praktisch zeigen "
Auf die Frage, wie Juden in das Gemeindeleben einbezogen werden, die halachisch gesehen nicht als solche anerkannt sind, antwortet Shmuel Kot zurückhaltend. Ja, das eine sehr schwierige Situation. Jeden Tag kämen Leute und zeigten Zertifikate, dass sie Juden seien und Hilfe bräuchten. Aber wer wisse denn, ob sie ihre Papiere nicht mit einem Farbkopierer fabriziert haben? Ein Problem seien auch die Kinder von jüdischen Vätern.
"Wir respektieren sie. Sie sind willkommen bei Veranstaltungen in der Gemeinde, aber wir können sie nicht als jüdisch akzeptieren. In Israel ist es dasselbe. Aber wir helfen ihnen, zu konvertieren, sich zu ihrem jüdischen Glauben zu bekennen. Konvertieren bedeutet aber, sie müssen nach der alten jüdischen Tradition leben. Sie können nicht konvertieren und dann weiter Schweinefleisch essen. Sie können nicht konvertieren und dann den Shabbes nicht halten. Sie können nicht konvertieren, um dann die jüdische Tradition nicht zu leben."
Und am Ende betont der junge Chabad-Rabbiner noch seine Loyaltät zur estnischen Regierung. Immer wieder würden deren Vertreter die Synagoge besuchen. Aber noch etwas sei einzigartig in Estland, die Beziehungen zu den anderen Religionsgemeinschaften.
"Wir haben gute Beziehungen zur Regierung. Die Ministerpräsident kommt jedes Jahr hierher...Es ist ein kleines Land, wirklich ein gutes Gefühl…Wir haben auch meetings mit den anderen Religionen, wir haben freundschaftliche Beziehungen selbst zu der kleinen muslimischen Gemeinde. Eine Gute Freundschaft. A good relationship."