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Judentum in Frankreich
Eine Rabbinerin mischt sich ein

Auf Kongressen und Covern ist sie präsent: Delphine Horvilleur, eine von drei Rabbinerinnen in Frankreich, gilt als Leitfigur des liberalen Judentums. Ihr Buch über Antisemitismus wurde ein Bestseller, Feminismus liegt ihr am Herzen. Gleichberechtigung sei Humanismus, der alle betrifft, sagt sie.

Von Suzanne Krause |
Die liberale Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihrem Büro
Charismatisch und hoch intellektuell: Delphine Horvilleurs Stimme reicht weit über die jüdische Gemeinde in Frankreich hinaus, zählt gesellschaftlich und politisch (Deutschlandradio / Suzanne Krause)
Abends um halb acht im Marais, dem historischen jüdischen Viertel im Pariser Zentrum. Schwungvoll drückt Delphine Horvilleur die Haustür auf, sie hat es eilig.
"In einer Viertelstunde habe ich eine Live-Konferenz mit einem Rabbiner in New York. Vorher kann ich gerade noch schnell nachschauen, ob meine Kinder versorgt sind."
Ihr Gesprächspartner ist ein Kollege, den sie während ihres Studiums am Hebrew Union College in New York kennengelernt hatte. Dass Horvilleur selbst Rabbinerin ist und seit 2008 in Paris praktiziert, lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Die Mittvierzigerin trägt, modisch salopp, Jeans, schicke rot gemusterte Bluse, dunklen Blazer.
Im zweiten Stock saust Horvilleur in die Wohnung, in der sie mit den drei Kindern und dem Mann, Sozialist und Bürgermeister im hiesigen vierten Arrondissement, lebt. Eine Flut von Zimmern, ein Hauch von Bohème, die Wohnung wirkt sehr lebendig. Nach einem Abstecher ins Kinderzimmer zur Absprache mit dem Kinderbetreuer eilt die Rabbinerin in ihr Büro. Zwischen Regalen voller Bücher und Familienfotos steht ein großer Tisch, darauf ein aufgeklapptes Laptop. Delphine Horvilleur loggt sich für die Live-Konferenz mit New York ein.
"Organisiert wird die von der dortigen französischen Botschaft. Ich soll mich dazu äußern, was es bedeutet, im heutigen Frankreich Jude oder Jüdin zu sein."
"Antisemitismus im Aufwind"
Ein Dauerbrenner-Thema für Delphine Horvilleur. Die Familie ihrer Mutter floh vor der Verfolgung durch die Nazis aus den Karpaten. Die Großeltern ihres Vaters waren von den "Justes" beschützt worden - Franzosen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um verfolgten Juden zu helfen. Zwei Jahre bevor Horvilleur zur Rabbinerin ordiniert wurde, hatte der Fall von Ilan Halimi Frankreich erschüttert. Der junge Jude war von Gleichaltrigen zu Tode gefoltert worden. Bislang sind weitere zehn Franzosen umgebracht worden – weil sie Juden waren. Antisemitismus ist unübersehbar im Aufwind, konstatiert Horvilleur.
"Meine Generation dachte wohl lange, von diesem Übel verschont zu bleiben. Denn eigentlich liegt der Holocaust doch gar nicht so lang zurück, er müsste jedermann noch im Gedächtnis sein. Irgendwann aber hatte ich den Eindruck, dass etwas umgekippt ist, in meinem Leben, vielleicht auch auf nationaler oder internationaler Ebene. Meine Generation kommt nicht umhin, sich mit dem Thema zu beschäftigen."
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Die Rabbinerin schreibt vehement gegen den Antisemitismus an. In ihrem letzten Werk, im Februar in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" erschienen, analysiert sie frühe Rabbiner-Schriften. Ihre Quellenstudie zeigt die Absurdität des Judenhasses auf. Seit jeher wird Juden überaus Widersprüchliches vorgeworfen: Zum einen, sie hätten mehr Geld als andere. Zum anderen, sie hätten so wenig, dass sie anderen auf der Tasche lägen. Horvilleur schreibt mit beißender Ironie, es ist leicht lesbar und analytisch scharf.
Brückenbauerin an vielen Fronten
Das sei Horvilleurs Markenzeichen, meint Rudy Reichstadt. Der Politologe sieht die Rabbinerin als eine Lichtgestalt des heutigen französischen Judentums.
"Horvilleur kümmert sich um ihre religiöse Gemeinde, ohne ‚kommunautaristisch‘ zu sein, also nur an deren Anliegen zu denken. Ihre Rabbiner-Ausbildung machte sie in den Vereinigten Staaten, in Frankreich gehört sie dem liberalen Judentum an, das man als republikanisch bezeichnen kann. Das sehr universell ausgerichtet ist, das Laizitätsprinzip achtet und für die Geschlechter-Gleichheit ist. Dieses tolerante Judentum schlägt Brücken zur restlichen Gesellschaft, zu den hiesigen Muslimen. Die Stimme von Delphine Horvilleur reicht weit über die jüdische Gemeinde in Frankreich hinaus: Sie zählt gesellschaftlich und gar politisch."
Als Brückenbauerin ist Delphine Horvilleur an vielen Fronten aktiv. Die Pforten ihrer Synagoge stehen auch Nicht-Juden offen. Dort beten Männer und Frauen Seite an Seite. Sie spricht eine Sprache, die viele Herzen berührt. Von denen orthodoxer Juden mal eher abgesehen. Denn sie äußert sich gerne zu heiklen Themen wie Patriarchat, Misch-Ehe, Homosexualität. Gleichzeitig ist Horvilleur charismatisch, hoch intellektuell – die französischen Medien reißen sich um sie. Die Zeitschrift "Elle" hat Horvilleur mehrere Porträts gewidmet, in der diesjährigen Januar-Ausgabe war die Frau mit den Korkenzieherlocken Covergirl und das Blatt im Nu ausverkauft. Die Rabbinerin hielt die Grabrede für Simone Veil, Grande Dame der französischen Politik, wie auch für Sonia Rykiel, weltberühmte Modemacherin.
"Feminismus ist längst nicht nur ein Frauenthema"
Delphine Horvilleurs Alltag gleicht einer Tour de Force. Die Mittvierzigerin zuckt mit den Schultern und lacht.
"Ich glaub', ich habe nie anders zu leben gewusst. Bevor ich Rabbinerin wurde, habe ich Medizin studiert und danach als Fernseh-Journalistin gearbeitet. Meine Familie und meine Freunde fragen immer wieder im Spaß, was ich denn nach dem Rabbineramt machen werde. Mir schien seit eh und je, dass es an jedem Wendepunkt in meinem Leben um eine Frage von Leben oder Tod ging. Nach dem 'Warum' habe ich mich nie gefragt, ich hab einfach gehandelt. Letztendlich wollte ich wohl immer schon erlauschen, was die Welt zu sagen hat. Heute widme ich mein Leben der Aufgabe, zu hören, was die heiligen Erzählungen zu sagen haben."
Vor allem auch: Was die heiligen Schriften Frauen zu sagen haben. Feministin sei sie schon immer gewesen, erklärt die Rabbinerin.
"Feminismus ist längst nicht nur ein Frauenthema. Für mich ist das ein Humanismus, der alle betrifft. Mir geht es um die Grundsatzfrage: Bin ich bereit, in meiner Welt anderen einen Platz einzuräumen, jenen, die ausgegrenzt wurden, die noch nicht da sind, die ihren Weg noch nicht gefunden haben? Diese Frage geht weit über das Thema Frauenrechte hinaus."
Corona: "Fenster für Ideen und Weisheiten offen halten"
Wenn Delphine Horvilleur die heiligen Schriften liest, hört ihr inneres Ohr zwischen den Zeilen unzählige Stimmen.
"Ich habe oft den Eindruck, dass die Texte gewissermaßen schwanger gehen mit vielen Stimmen, die flehen, erhört zu werden - bei einer feministischen Lektüre gewürdigt zu werden. Wohlgemerkt: Dazu ist auch ein Mann fähig."
Die Rabbinerin nimmt vor dem Laptop Platz. Hier hat sie seit Beginn der Corona-Krise immer wieder live kurze Konferenzen gesendet, für die Teilnehmer der Tenou'a-Workshops. Seit Jahren versammelt der Kulturverein der liberalen jüdischen Bewegung Frankreichs einmal monatlich mehrere hundert Personen in einem Pariser Kino, zum gemeinsamen Studium religiöser jüdischer Texte. Die Diskussionen sind oft sehr kontrovers, willkommen ist jeder, ob gläubig oder nicht. Wegen der Corona- Abstandsregelungen sind derzeit nur virtuelle Konferenzen möglich. Im Auftakt-Video von Mitte März vermittelt Delphine Horvilleur eine Herzens-Botschaft.
"In dieser Zeit, in der Mauern errichtet werden, Türen zugehen, Grenzen hermetisch abgeriegelt werden, müssen wir mehr denn je Mittel und Wege finden, anders zusammenzukommen. Uns zu überlegen, wie wir unsere Gespräche, Debatten, den Gedanken-Austausch fortführen können, um Fenster für Ideen und Weisheiten offen zu halten - in einer Zeit, in der Türen geschlossen werden."
Delphine Horvilleur: "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus"
übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis
Hanser Berlin, Berlin 2020.
Gebunden, 160 Seiten, 18,00 Euro.