"Ich bin in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde in Nordlondon aufgewachsen. Dort fiel das Wort 'schwul' eigentlich nie. Und wenn, dann war es bestimmt nicht nett gemeint."
Joe Hyman - jüdisch-orthodox und schwul. Heute lebt er in New York City und spricht am Telefon offen über die Probleme, die er als junger Erwachsener hatte. Als Jugendlicher fühlt Joe sich anders und damit in seinem Umfeld äußerst unwohl. Als Konsequenz beschließt er, seine sexuelle Orientierung ändern zu wollen.
"Ich habe mich drei Jahre lang einer Umwandlungstherapie unterzogen, damit die Gemeinde mich akzeptieren würde. Ich wollte dazugehören, aber diese Therapie war sehr gefährlich und sehr übergriffig. Die psychischen Folgen spüre ich bis heute."
Ein Plädoyer für Güte und Offenheit
Auch eine repräsentative Befragung unter britischen LGBT-Schülern aus dem Jahr 2017 zeigt Handlungsbedarf. LGBT steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Fast die Hälfte dieser Jugendlichen wurde in der Schule wegen ihrer abweichenden sexuellen Orientierung gemobbt. Und fast die Hälfte aller jungen Transgender-Menschen hat sogar bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ein Handbuch für jüdisch-orthodoxe Schulen nimmt sich dieses Problems jetzt an. Der orthodoxe Oberrabbiner Ephraim Mirvis selbst hat es herausgegeben. Der Titel: "The Wellbeing of LGBT pupils" - "Das Wohlergeben von LGBT-Schülern". Der Oberrabbiner argumentiert darin auch theologisch: Die Thora erlaube keine Ausgrenzungen. Er plädiert deshalb dafür, Güte und Offenheit gegenüber jungen LGBT-Menschen zu zeigen und erteilt Hass gegenüber Homosexuellen eine eindeutige Absage.
Dalia Fleming ist selbst in einem streng gläubigen Umfeld groß geworden. Für sie sei es ein bewegender Moment gewesen, die Worte des Oberrabbiners zu lesen. Dalia leitet die Organisation KeshetUK. Keshet ist hebräisch für Regenbogen. Die Organisation will erreichen, dass junge Menschen sich nicht mehr entscheiden müssen: entweder jüdisch sein, oder schwul oder lesbisch leben. Keshet gibt Seminare an jüdischen Schulen. Für das Handbuch haben die Organisation und der Oberrabbiner zusammengearbeitet.
"In der orthodoxen Synagoge kamen Leute moderner Familien auf mich zu. Sie sagten, sie hätten noch nie über diese Themen und Menschen gesprochen. Und dieser Leitfaden erlaube ihnen das jetzt. Der Einfluss beschränkt sich also nicht nur auf Schulen. Das Handbuch stößt in der orthodoxen Gemeinschaft eine Debatte darüber an, wie Inklusion aussehen soll."
Es war also offenbar ein wichtiger Beitrag, den der orthodoxe Oberrabbiner Ephraim Mirvis zum Thema geleistet hat. Er selbst äußert sich im Moment nicht mehr dazu.
"Es wäre für uns ein Grund, das Land zu verlassen"
Nach Dalia Flemings Einschätzung kann es noch Jahre dauern, bis die Botschaft auch in den ultraorthodoxen Gemeinden ankommt. Denn aktuell wird in Großbritannien diskutiert, ob LGBT-Themen in die Lehrpläne an Schulen aufgenommen werden sollen. Bisher konnten Religionsschulen das verweigern. Nun will die Regierung es für alle Schulen verpflichtend machen. Ultraorthodoxe Eltern und Lehrer warnen vor diesem Schritt. Nach ihrer Auslegung dürften Informationen über sexuelle Beziehungen nur von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Diese Meinung vertritt auch der ultra-orthodoxe Vater Shraga Stern in der BBC:
"Es wäre für uns ein Grund, unser Land zu verlassen, wenn wir unsere Kinder nicht so erziehen können, wie wir erzogen wurden. Wenn ich das Land nicht verlasse, würde ich vermutlich ins Gefängnis kommen, sollte das Gesetz in Kraft treten."
Ganz anders sieht die Sache Jonathan Romain. Er ist Rabbiner des Reformjudentums und hat Kollegen, die offen lesbisch oder schwul leben - und Rabbiner sind. Nach seiner Auffassung muss das Judentum mit der Zeit gehen:
"Während man früher annahm, Homosexualität sei böse, pervers oder krank, weiß man heute: Es ist ganz natürlich. So werden Menschen geboren. Man kann das religiös so verstehen: Gott hat Schwule und Lesben erschaffen. Wer wären also wir, darüber mit Gott zu streiten?"
"Das wird Leben retten"
Gemeinsam mit 55 anderen Religionsführern und Bildungsaktivisten hat Jonathan Romain einen Brief an den Bildungsminister geschrieben: Dieser solle seinen Kurs beibehalten. Junge Menschen sollen in Schulen lernen, dass es außer Mutter-Vater-Kind auch andere Beziehungsmodelle gebe.
"Dabei geht es um das Wohl jener, die lesbisch oder schwul und auch jüdisch sind. Und das im Moment noch sehr schwierig finden. Die haben Angst, diskriminiert zu werden, falls sie sich outen."
Das Handbuch des orthodoxen Oberrabbiners wertet Jonathan Romain als guten und wichtigen Schritt, doch es sei lange noch nicht genug für junge LGBT-Menschen in jüdischen Gemeinden getan. Joe Hyman hingegen, der schwule orthodoxe Jude, der als Jugendlicher massive Probleme hatte und bis heute darunter leidet, er fühlt sich durch das Handbuch des Oberrabbiners gestärkt.
"Das ist eine fantastische Errungenschaft. Der Oberrabbiner war sehr mutig, sich für LGBT und junge Menschen in der Gemeinde einzusetzen. Ich denke, das wird unzähligen jungen Juden das Leben retten."